Christoph Buchwald & Silke Scheuermann (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2007

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christoph Buchwald & Silke Scheuermann (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2007

Buchwald & Scheuermann-Jahrbuch der Lyrik 2007

AN DEN LESER

O ja, da bin ich mir sicher, dass du,
würde ich vor dir sitzend erscheinen
während du liest,
mir neugierig einen Finger ins Auge,
einen zweiten vielleicht in den Mund legen würdest;
du zähltest meine Zähne und wärst
aufgeregt damit beschäftigt, mein Auge
hin und her, immer hin und her zu drehen,
vielleicht auch, ja, ganz bestimmt sogar würdest du
meine Arme nehmen, sie zwingen zu langer Umarmung
und anschließend verknoten vor meinem Gesicht.
Mit einem gezielten Tritt in meinen Unterleib
klappst du das Buch zu und rennst aus der Bibliothek.

Und ich, ach, hätte die ganze Zeit nichts als auf meine
Gedichte gedeutet, mit dem Zeigefinger, später
vielleicht mit dem Sehstrahl meiner winselnden Augen:
Auf diese, dann wieder jene besonders
gelungene – findest du nicht? – gelungene Zeile.

Clemens Setz

 

 

 

Zwei Nachbemerkungen

I. Stimmen
In diesem Jahrbuch finden sich neben bekannteren und bekannten Stimmen auch wieder neue Namen. Es ist die Aufgabe der Herausgeber, unter den vielen Einsendungen die besten auszuwählen, und mancher „Fund“ ist eine Überraschung. Zum Beispiel ist das allererste Gedicht im vorliegenden Jahrbuch von einer bisher in der Lyrik Unbekannten geschrieben; es tauchte irgendwo im fast einen Meter hohen Stapel auf, landete in der Auswahl, fand sich plötzlich, als die Kapitel arrangiert wurden, ganz vorn, als „opener“. Es macht sich gut da, auch, weil es überrascht. Was für mich den Reiz des Jahrbuchs ausmacht, ist genau die Kombination zwischen gelungenen Texten von – noch – unbekannten Autoren einerseits und den Gedichten arrivierter Lyriker andererseits, von Stimmen, die die Publikation des Jahrbuchs dazu nutzen, zwischen zwei Gedichtbänden ein Lebenszeichen von sich zu geben.
Ich spreche absichtlich „nur“ von neuen, guten Gedichten und damit verbunden von neuen Namen, nicht von „neuen Stimmen“, wie es gerne getan wird. Der Begriff der „Stimme“ ist in der Lyrik ein zentraler Begriff für mich. Genau so, wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht und zwei Äpfel noch keinen Obstteller abgeben, sind ein, zwei gute Gedichte noch kein Indiz für eine eigene Stimme. Über Sylvia Plath sagte Ted Hughes, sie habe ihr Leben lang nach dem Ausdruck für ihr innerstes „Selbst“ gesucht, und es habe bis zu den letzten Gedichten gedauert, bis sie ihn gefunden hatte. Natürlich hatte Plath schon vorher gute Gedichte geschrieben, aber die mussten sich an der Stimme von „Ariel“ messen, einer Stimme, die keine Vorsicht, keine freundlichen Gefühle mehr nötig hatte, um bestimmte Sachverhalte und psychische Zustände zu benennen. Nahezu umgekehrt verlief es bei ihrer Zeitgenossin und Bekannten Anne Sexton, die bereits mit ihrem ersten Gedichtband ihren spezifischen Ton entwickelt hatte und der man in dem späten Band Verwandlungen in dem sie abweichend von ihrer sonstigen, meist autobiografischen Bekenntnislyrik die Märchen der Brüder Grimm umschrieb – übel nahm, ihrer Stimme, sich selbst untreu geworden zu sein. Ob das in diesem Fall nun berechtigt ist oder nicht: Die Stimme, einmal als solche wahrgenommen, setzt den Maßstab der Rezeption.
Andererseits gibt es Viel- und Wenigschreiber, zu den letzteren gehören hier im Land Hertha Kräftner und Silja Walter, bei denen der Kern des Werkes lediglich eine Hand voll exzellenter Gedichte ist. Auch sie „bleiben“, zumindest für Kenner und Kundige; ihre Bücher sind in Bibliotheken zu finden, auch wenn sie es nicht wie die Plaths zu heimlichen Bestsellern gebracht haben. Hertha Kräftner hat sich bestürzend früh umgebracht, Silja Walter wurde Nonne und schrieb seltsame, religiöse Lyrik. Offenbar gibt es doch einen Preis, der für das Etablieren einer Stimme gezahlt wird, wenn der eigene Körper ganz mit dem Textkörper vertauscht wird; letzterer ist der Körper, mit dem eine Lyrikerin, ein Lyriker und überhaupt ein Schriftsteller eigentlich in der Welt steht. Und schon ist der Konflikt da, wenn es um Prioritäten des Alltags geht, um genügend Platz für eine Einsamkeit, die es möglich macht, in „jenseitige“ Tiefen abzutauchen; um den Moment des Schreibprozesses, wenn sich etwas von alleine, wie zwangsläufig zu ergeben schein; wenn „es“ stimmt, wenn die sich üblicherweise ausschließenden Welten, in denen man lebt, das in zahllose Leben zerfallende alltägliche Leben, im Gedicht zusammengebracht und aufgehoben werden kann. Gedichte schreiben macht, nach solchen Erlebnissen, süchtig, und es über lange Zeit hinweg nicht zu tun, bedeutet einen Mangel, es kommt einem unrecht vor. (Neulich traf ich eine Freundin. „Ich habe seit Monaten nicht mehr geschrieben“, jammerte sie. Das fand ich bedenklich, aber dann stellte ich fest, dass sie Tinte an den Fingern hatte, und ich machte mir augenblicklich weniger Sorgen.)
Man kann im Kontinuum der bereits erschienenen Bände des Jahrbuchs der Lyrik feststellen, ob aus einem jungen oder neuen Autor eine wirkliche Stimme wird – was auch heißt: nicht einfach ein Routinier. Nachhaltig beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang Robert Gernhardts Experiment, aus zahlreichen Gedichten der siebziger, achtziger und neunziger Jahre jeweils eine Zeile herauszunehmen und daraus neue Gedichte zu machen: Es funktionierte; heraus kamen tatsächlich Texte, die wie die typischen Siebziger-, Achtziger-, Neunziger-Jahre-Gedichte klangen, Gedichte, wie man sie hier und da liest, die aber alle das Manko hatten, dass ihnen die Notwendigkeit fehlte.
Ob diese Notwendigkeit hier im Buch öfter oder manchmal oder doch nur selten gegeben ist, mag jeder für sich entscheiden. Es gibt in diesem Jahrbuch puritanische und zärtliche, lustige und ironische, bittere und (an)klagende Texte, es gibt Gedichte, die große Themen wie Tod und Liebesleid eindampfen, bis man sie in die Westentasche stecken kann und sich ein wenig getröstet, etwas mehr Herr der Lage fühlt, und es gibt solche, die imstande sind, bisher nicht im lyrischen Repertoire Befindliches zum Teil des schützenswerten Universums zu erklären, indem sie beispielsweise eine scheue Bratwurst in den Mittelpunkt rücken. Was diese Anthologie angeht, so entsteht so etwas wie Wahrheit ganz bestimmt auch durch die Polyphonie im gemischten Chor.

Silke Scheuermann

 

II. Lauter Fragen
In diesem vierundzwanzigsten Jahrbuch der Lyrik fällt auf: Gedichte, die als Echo auf unsere grimmig-verqueren Zeitläufte gelesen werden können, sind a) vergleichsweise selten und werden b) meist von Lyrikern geschrieben, die vor 1965 geboren sind.
Zweitens: das Liebesgedicht (vgl. das 1. Kapitel „Das sind die Bäume, vor denen uns unsere Mütter immer gewarnt haben“) kommt diesmal – oft verkappt und getarnt – auffällig häufig vor, und noch häufiger Gedichte, die Poetologie, Ästhetik, das Gedicht oder die Sprache zum Gegenstand haben (vgl. die Kapitel 6 und 8).
Was wollen uns die Herausgeber damit sagen? Kann damit etwas über den Zustand des Gegenwartsgedichts gesagt werden? Leben wir in so ereignislosen Zeiten, dass das Gedicht darüber selbstreferenziell geworden ist? Oder sind die in den Sechzigern und Siebzigern Geborenen einfach vorsichtiger in ihren Weltzustandsbeschreibungen, oder misstrauischer allem gegenüber, was nach Ideologie und Weltkommentar klingt?
Wer die Gedichte in den Lyrikjahrbüchern vor allem der achtziger Jahre Revue passieren lässt (eine Dekade, die von Enzensberger als besonders langweilig und ereignislos gescholten wurde), dem fällt auf, dass Politik und Geschichte vielfach auch im Privatesten noch spürbar anwesend sind. Braucht es also den größeren zeitlichen Abstand, um unideologisch und ästhetisch angemessen auf Zeit und Epoche zu reagieren? Waren die Erschütterungen und gesellschaftlichen Erdbeben der Siebziger notwendigerweise erst in den Achtzigern konkret und überzeugend im Gedicht zu fassen? Braucht die Lyrik – wie der Roman, wie alle Kunst – die zeitliche, die historische Distanz, um statt der Oberfläche den Kern der Dekade zu fassen? Und wenn Literatur, wenn die Lyrik immer auch ein Echo der Zeit ist, in welchen Zeiten leben wir dann jetzt?
Und welchen Eindruck vom Vierteljahrhundert, in dem das Jahrbuch der Lyrik bislang erschienen ist, bekäme die Leserin oder der Doktorand, der im Jahr 2021 über diese Anthologie in jährlicher Fortsetzung promoviert? Würde er/sie formale Veränderungen feststellen, einen tendenziellen Rückzug des „offenen Gedichts“ (Walter Höllerer) zugunsten des formstrengeren, des gereimten; die Zunahme handwerklicher, ästhetischer, rhetorischer Raffinesse, die Kenntnis lyrischer Traditionen? Rezipieren die jungen Leipziger Harigs Sonettdribblings, oder geht die Zunahme der Sonette im Jahrbuch eher auf Kosten der Herausgeber (vgl. das Jahrbuch der Lyrik 2006)?
Und nicht zuletzt: Worin unterscheiden sich die Gedichte der jüngsten, nach 1980 geborenen Dichter von denen ihrer zehn/zwanzig Jahre älteren Kollegen? Aber warum sollen/müssen sie sich überhaupt unterscheiden? Vielleicht sind die Erfahrungen mit dieser Welt seitdem keine grundsätzlich anderen?
Und die Slam-Poeten, unlängst noch in Pisa-Debatten als Beweis dafür angeführt, dass „die Jüngeren“ sehr wohl „Zugang zum Gedicht“ finden? – Will mal so sagen: Die Bas Böttchers sind die Ausnahme, sie „funktionieren“ auch auf dem Papier, während die meisten Slam-Gedichte den Live-Vortrag brauchen wie ein Bryan Adams-Song die Musik, der wirkungsmächtige Mehrwert liegt in der Stimme und in der Phrasierung.
Im vorliegenden Jahrbuch findet sich kein Anhang mit Aufsätzen über das Gegenwartsgedicht, weil wir diesmal keine poetologischen Aufsätze bekommen haben, die dem Gespräch über Poesie etwas hinzugefügt hätten. Dabei kann es äußerst aufschlussreich und möglicherweise auch amüsant sein, über die oben angedeuteten altneuen Fragen der Lyrik nachzudenken. Eine Ehrenloge im Gedichtehimmel für die, die Zeit, Kenntnis und Mühe investieren, um darüber nachzusinnen und zu schreiben.
Das nächste Jahrbuch ist das fünfundzwanzigste und tanzt wegen dieses Geburtstags aus der Reihe; es versammelt natürlich wieder Gedichte, aber diesmal keine neuen, sondern… darüber ab Herbst 2006 mehr auf www.fischerverlage.de. Aber bitte jetzt schon notieren: Einsendeschluss für das nächste Jahrbuch mit unveröffentlichten oder in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Gedichte ist der 1. Juni 2007. Wie immer bitten wir darum, den Gedichten auf einem gesonderten Blatt die biobibliografischen Angaben beizulegen mit Geburtsjahr, Wohnort, ggf. den letzten beiden lieferbaren Gedichtbänden mit Erscheinungsort, Verlag und Erscheinungsjahr (siehe die Angaben in „Autoren“, „Gedichtbände“ am Ende dieses Jahrbuchs). Je präziser die Daten, desto weniger zeitraubende Recherchearbeit muss Petra Gropp im Verlag stemmen; ihr sei an dieser Stelle wiederum für Einsatz, Umsicht und freundliche Geduld gedankt. Allen Dank auch der Mitherausgeberin Silke Scheuermann für die Reise mit schwerem Lyrikgepäck nach Amsterdam, für Hinweise auf neue Autoren und den präzisen Blick auf das einzelne Gedicht.

Christoph Buchwald

 

Dass Jahrbuch der Lyrik

ist ein Standartwerk der Gegenwartsliteratur. Es versammelt die interessanten Gedichte eines Jahres, stellt aktuelle Texte renommierter Lyriker vor und entdeckt neue Autoren, die zum Teil zum ersten Mal veröffentlichen. Die Nachbemerkungen der Herausgeber kommentieren das poetische Geschehen und beobachten neue literarische Entwicklungen: Wenn die Lyrik immer auch ein Echo der Zeit ist, in welchen Zeiten leben wir dann? Liebesgedichte kommen in diesem Jahr erstaunlich häufig vor – was sagt das über den Zustand des Gedichts und unserer Gegenwart? Sind die jüngeren Autoren misstrauischer gegenüber allem was nach Ideologie und Weltkommentar klingt? Und welche Rolle spielt der Fußball für die Lyrik des Jahres 2006? Das Jahrbuch der Lyrik zeigt in den verschiedensten Facetten, Blickwinkeln, Sprechweisen und Beleuchtungen, worum es immer wieder geht im Gedicht: mit der Sprache so umzugehen, dass wir zwischen den Zeilen und hinter den Wörtern etwas sehen, was wir so vorher noch nicht gesehen haben.

S. Fischer Verlag, Klappentext

 

Beitrag zu diesem Buch:

Maria Renhardt: Raus aus dem Schattendasein
Die Durche, 4.1.2007

 

 

Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa

Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr

Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009

Fakten und Vermutungen zum Jahrbuch der Lyrik

 

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Silke Scheuermann“ Dichten über Pflanzen | Lesung und Diskussion mit Frederike Middelhoff und Barbara Thums.

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