WOLFGANGSEE
Wir mußten Verbotsschild und Schleichweg nur
aaaaafolgen
und standen am ältesten Ufer von Sachsen.
Auflässig der Ort, sprich: Saxonia Eins, und
nichts höffiger einst unterm Kahlschlag von Sachsen
als Kohle. Nur hier unter Hammer und Schlägel
im Beibruch fand sich umrieselt die Blume.
Nur blau war auf Kippe zu tragen das Hangende,
die Nachtsaline des Himmels – und unten
im Grubensumpf Novalis’ geiles Geklingel.
Bei Deuben den tropfenden Tunnel passiert er
so hellsichtig trunken beim Tauchgang ins Staubmeer,
beim Ritt auf dem Rücken des Rußes, Glück ab!
Hier glaube dem Bergmann, der Braunkohlenziegel
als Erster beschrieb, auch das Blaue vom Himmel.
Denn immer urplötzlich lag da im Rasseln
der hungernden Espen und Birken ringsum
der grottige Grausee so unheimlich schön.
Und Staub zu Staub und perfekt asphaltrein
war ewiger Spätherbst am Mare Saxoniae
wie eine für immer geglättete Samtbahn.
Da staken gebläht wohl noch Segler wie Blattgold,
da ritzte am Dunstkreis wie Vlies was, wie Haftdraht
von Goldpapierlorbeer, da nahmen zur Brust wir
den klingelnden Rest aus der Kumpeltodflasche,
Edgar Poe’s letzter Tropfen als Monos’ Sixth Sense:
Dort hört man das Nuckeln der Greise auf Erden,
die alles gleich grapschen und rein in den Schlund.
Dort von der Pulle getroffen, platzte die Plane,
als zackte ein Einschussloch durch ein Stahlschild
und zeigte uns einen erloschenen Stern
die Lore Ophelias, nach Germania Zwo.
Doch jetzt warnt kein Schild mehr, wo einst der See war,
da dräut nur und grunelt der Wald Mitteldeutschlands
und lotrecht verschwebt ein gedrängtes Gestänge,
doch Jedes auf Neige von Neuem da unten,
ein Celidon unbehauster Kohledämonen,
des schweigenden Schweins und der knirschenden Tauben.
Nun wäscht der Atlantik die schlurrenden Wipfel,
ein Hochglanzitalien flaggt leer sein Azur.
Doch nie mehr im Sturm wird ein Eichwald hier rumpeln
und kennen, was umgeht so blickdicht, was bleibet.
Glück auf, Novalis, Wolfgang am Ufer, Glück ab.
Wilhelm Bartsch
JBdL als Archipel
Einige Wochen vor meiner Fahrt zum Jahrbuch-Treffen nach Amsterdam entdeckte ich zufällig das niederländische Architekturmagazin Volume, und darin ein Interview mit dem Kurator und Mediensammler Hans-Ulrich Obrist. Es ging um Möglichkeiten, Bibliotheken zu transportieren und zu sortieren; darum, wie – je nach Anordnung – Bibliotheken offene oder geschlossene Systeme sein können. Obrist erwähnt dort unter anderem das Konzept einer archipelago library: Eine Struktur, die auf eine Master-Bibliothek verzichtet, stattdessen Cluster vieler kleinerer Sammlungen in nicht-hierarchischer Anordnung enthält. Der Zugang zu den Inhalten wird so durch eine Polyphonie von Leitfäden gewährt, intime Räume entstehen – Bedeutungsinseln, die wiederum andere Inseln enthalten oder verstecken.
Mit den logistischen Aspekten der JBdL-Bibliothek hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon Bekanntschaft gemacht: Der sonst sehr zuvor –, sprich: hochkommende DHL-Fahrer weigerte sich, die acht schweren Pakete in den 5. Stock zu tragen. Die Lektürewochen mit ca. 7.000 Gedichten, der Auswahlprozess, die Bestückung des 2009er Lesesaals aber standen mir noch bevor. Ich hatte, gelinde gesagt, keine Ahnung, was geschehen würde bei dem Versuch, tausende Gedichte in relativ kurzer Zeit nicht nur zu lesen, sondern auch zu sortieren. Manchmal kam ich mir dann vor, als wär ich in Borges’ sechseckigen Galerien gefangen – der Stapel war unendlich, viele Räume ähnelten sich verdächtig, nur im Stehen schlafen musste man nicht. Gelegentlich half es, sich sanft zu erinnern, um was es ging: Siebst du noch oder liest du schon?
Um was aber ging es, geht es eigentlich? Die Idee, dass ein Lyrikjahrbuch nur „repräsentative“, ja gar „beste“ Gedichte würde zeigen wollen, war mir ehrlich gesagt von Anfang an suspekt, zu groß sind ja die Limitierungen im Auswahlverfahren (das Jahrbuch ist keine umfassende Auswahl-Anthologie aller veröffentlichten zeitgenössischen Gedichte etc.). Aus demselben Grund kann man das Jahrbuch nicht als ästhetisch-poetologisches Statement der Herausgeber lesen – was auch immer man sich vielleicht vornimmt, alles steht und fällt mit den Texten, die eingesandt oder eben, auch auf Nachfrage, nicht eingesandt werden. Zudem bringt, wie Ulf Stolterfoht schon anmerkte, der Auswahlprozess „die eigenen ehernen Kriterien zumindest ins Wanken“, also eine Form von Seegang. Trotz allem wird von vielen Dichtern die Institutionalisierung („drin sein“, „Ritterschlag“) oder wahlweise Absägung („Cliquen- und Kartellbildung“) der Sammlung betrieben – was ihr unglücklicherweise den Charakter einer Festung gibt und ihr, wie ich finde, einiges von ihrer möglichen Offenheit, Dynamik, Durchlässigkeit zu nehmen droht.
Insofern schien mir der Gedanke, das Jahrbuch als ein Bibliotheken-Archipel zu begreifen, sehr hilfreich. Eben kein Festland, sondern ein Inselangebot, das mehr Perspektiven zulässt als nur drinnen und draußen; eine Formation, die verschiedene Zugänge und Perspektiven geradezu erzwingt. JBdL stünde dann für: Eine zufällig jährlich sich gruppierende Zusammenstellung vieler kleiner Lyrik-Cluster, die diverse Raumangebote enthalten und einander in nicht-linearer, nicht-hierarchischer Weise ergänzen in dem Bemühen, „die unabdingbare Vielstelligkeit des Ausdrucks“ (Celan) vorzustellen. Die jeweils zwischen den Buchdeckeln vorliegende Textmenge umreißt dabei jedoch keinen abgeschlossenen, definierten oder gar: definierenden Raum. Stattdessen existieren meiner Ansicht nach gerade wegen der Archipelagisierung der Anthologie auch versteckte (mögliche ungeschriebene oder geschriebene herausgefallene) Gedichte in den Nischen oder Überlagerungen vorhandener Texte. Die von den Herausgebern vorgeschlagene Anordnung in thematische Kapitel könnte aus anderer Perspektive ebenso eine vorgeschlagene Nicht-Anordnung sein. Und wie in jeder guten Archipel-Bibliothek sind die Gedichte selbst ihre Benutzerordnung.
Diese Überlegungen aber beantworten noch nicht die Frage danach, wie die vorliegenden Gedichte in die Bibliothek gekommen sind, und warum. In Prozenten kann ich den Vorgang nicht mehr aufschlüsseln, erinnere mich aber, dass ich etwas mehr als 100 Gedichte ausgewählt und für notwendig befunden habe, von denen sich mehr als zwei Drittel der Autoren mit der Auswahl von Christoph Buchwald überschnitten; oft hatten wir allerdings andere Gedichte angekreuzt. Notwendig waren für mich unter anderem solche Gedichte, die dem Bedürfnis nach Schlusszeilen bzw. Gedichtenden widerstanden. Für mich ist das (erklärende, zusammenfassende, stabilisierende, Differenzen tilgende, ausleitende) Gedichtende ungefähr das Äquivalent von einem Jahrbuch als Festung: Es widerspricht jener existenziellen Offenheit oder Unabgeschlossenheit, die der Sprache, und nicht nur der lyrischen, als einem Medium fortdauernder Differenzierungsprozesse eignet. Gedichte mit einem ausgewiesenen Abschluss neigen dazu, dem Wiederleser wenig Spielraum für Widersprüche oder Überraschungen einzuräumen – was sie so benennen, könnte man abhaken, würde aber, wenn diese Gedichte Bücher wären, beim nächsten Mal wohl eher ein anderes Buch ausleihen.
Überhaupt: ausleihen und zurückstellen. Dass sich ein Archipel mit jedem neuen Benutzer, jedem neuen Blick verändert, ist klar (Insel-Linse). Noch aber bietet die Jahrbuch-Bibliothek ihren Lesern wenig Möglichkeit, diesen Veränderungen auch einen entsprechenden Raum zu geben. Der feste Einband mag eine Auszeichnung sein; drinnen aber bleibt Festland. Ich hielte deshalb Perforationslinien oder sogar: ungebundene JBdL für sinnvoll. So machte es in den 90ern die u.a. von Jan Wagner herausgegebene Zeitschrift Die Außenseite des Elementes vor: Eine Schachtel mit losen Blättern, die jeder Leser nach Belieben selbst anordnen, umsortieren oder gleich ganz aussortieren konnte. Auf diese Weise wäre idealerweise endlich jeder JBdL-Leser sein eigener Herausgeber – das Manko, dass einige wenige Auswahl und Anordnung der Bibliothek zur knirschenden Unzufriedenheit anderer vornehmen, könnte so zwar nicht ganz abgeschafft, aber zumindest in produktive Partizipation umgewandelt werden. Und auch von dem Vergnügen, das die Herausgeber haben, überträgt sich vielleicht etwas mehr: Willkommen, be your own private „unvollkommener Bibliothekar“ (Borges).
Uljana Wolf, Nachwort
Fundstücke & Fragen
I.
Ältere Lyrik-Anthologien sind immer interessant, weil sich sofort die Kardinalfrage stellt: Was ist anders? Was hat sich seitdem wie verändert? In der Bibliothek der Villa Massimo in Rom fand ich zwei Anthologien mit dem Titel Lyrik aus dieser Zeit aus den Jahren 1963 und 1965; in letzterer heißt es im Vorwort:
Die neuen Herausgeber haben versucht, die Veröffentlichung im Sinn ihrer Vorgänger fortzusetzen, wenn auch, natürlich, variiert: die Individuen, die Gedichte sind anders, die Zeit ist eine andere.
Ist die Zeit nach 1963 tatsächlich „eine andere“ geworden, haben sich Gedicht, Blick und poetische Sprache zwischen 1963 und 1965, also binnen zweier Jahre, so dramatisch verändert, dass man tatsächlich von einer „anderen Zeit“ sprechen kann?
Uns interessieren hier freilich weniger die literaturhistorischen Gegebenheiten der ersten Hälfte der Sechziger (synoptisch betrachtet: 1965 erschienen „Help!“ und „Rubber Soul“), sondern vor allem:
Was muss im Gedicht passieren, dass man tatsächlich sagen kann: „die Gedichte sind anders“? Man nehme z.B. das Jahrbuch der Lyrik 2006 (mit Norbert Hummelt) oder das Jahrbuch der Lyrik 2007 (mit Silke Scheuermann) zur Hand: Wurde da grosso modo anders gedacht, geschaut, gedichtet, gefühlt? Oder die Jahrbücher der Lyrik zwanzig Jahre zurück, die Bände von 1987 (mit Jürgen Becker) und 1988 (mit Friederike Roth) – was hat sich seitdem im Gedicht verändert?
Wahr ist: Die Präsenz der DDR-Lyrik in den Jahrbüchern bis 1990 ist evident und hinsichtlich des poetischen Sprechens sowie der Zeit-Echos unüberseh- und unüberhörbar. Aber hat sich im Gedicht selbst, seinen sprachlichen, literarischen und rhetorischen Mitteln, etwas grundsätzlich verändert? Und: Wer oder was hat das Gedicht verändert?
Warum muss sich überhaupt ständig etwas verändern (siehe auch das nach den Geburtsjahrgängen der Autoren eingeteilte Jahrbuch der Lyrik 2005 mit Michael Lentz als Mitherausgeber)? Gibt es Zeiten in der Lyrik, in denen man „konservativ“ gerne im Sinne des lateinischen „retten, bewahren“ liest? Hätte Ulf Stolterfohts vielzitiertes Credo „Das Verstehen in der Lyrik hat der Teufel gesehen!“ (vgl. Jahrbuch der Lyrik 2008, S. 196f.) auch vor zwanzig Jahren gedacht werden können, und wie hätten, um nur zwei deutlich verschiedene Stimmen zu nennen, Volker Braun oder Thomas Kling darauf reagiert? Oder die um Vielstimmigkeit bemühten Herausgeber?
II.
Die Herausgeber der eingangs genannten Anthologie Lyrik aus dieser Zeit haben ihren Band in drei Kapitel untergliedert und diesen „gleichsam als Kennworte, die Überschriften gegeben: Chiffre, Gegenstand, Spiel“. Was stellt sich ein heutiger Leser darunter vor? „Tut man“, fragen die Herausgeber weiter, als würden sie unsere Verwirrung spüren, „mit einer solchen Einteilung nicht der Freiheit des Gedichts Gewalt an? Entstehen im so geordneten Nebeneinander nicht Assoziationen, Echowirkungen, thematische Anklänge, die zwar der Struktur der Sammlung nutzen können, aber dem einzelnen Gedicht abträglich sind?
Uljana Wolfs Anmerkungen zur Zusammenstellung der Gedichte sind nicht weit entfernt von der Skepsis der Herausgeber von vor über vierzig Jahren, auch wenn sich diese nicht auf die – in der Tat seltsamen – Kapitel „Chiffre“, „Gegenstand“ und „Spiel“ beziehen, sondern auf das Gliedern in Kapitel überhaupt. Läsen wir die Gedichte anders, wenn sie alphabetisch nach Gedichtanfängen, nach Autorennamen, nach Jahrgang des Autors oder nach der Anzahl ihrer Wörter abgedruckt wären? Gewinnt ein Gedicht durch den Kontext an Lesarten und Bedeutungen, oder wird der Blick durch die Kapitelbrille verengt und einäugig?
III.
Wir hoffen, nicht missverstanden zu werden, wenn wir darum bitten, die Leser möchten auf Toleranz nicht verzichten. Wir haben bei Henry Miller einen Satz gefunden, der vielleicht imstand ist, Leser, die es mit den hier gedruckten Gedichten, und mit der Poesie überhaupt schwer haben, zur Lektüre zu bewegen: „ich muss an Jakob Böhme denken, der ein Flickschuster war und sozusagen keine Sprache hatte, sich aber eine für seinen eigenen gebrauch zurechtzimmerte und damit, mochte das auch für die Nicht-Eingeweihten noch so enttäuschend sein, seine Botschaft der Welt übermittelte.“ (Poethen/Weyrauch, ebd., S. 123).
IV.
Unter der Überschrift „Der Glaube an Gustav, das Kaninchen und Lyrik“ rezensiert Klaus Grunenberg aus 97447 Gerolzhofen/Bayern am 11. März 2008 das Jahrbuch der Lyrik 2008 bei www.amazon.de wie folgt:
So geht die Suche denn fort nach Namen und Neuem, Altem undsoweiter, und man merkt, es ist deutsch, richtig deutsch mit dem Herzschmerzduft zuweilen und der Sehnsucht nach Draußen (Goethe) und Drinnen (Hans Sachs), und manchmal erscheint ein Gebilde wie von Engelshand. Da fühlt man sich wie weiland Gottfried Benn, der irgendwo sagte, daß er es auch heute noch nicht verstehen kann, daß es so etwas gibt. Und irgendwo plötzlich, ja, dann finden wir eine Lösung für volle Staubsaugerbeutel und Einsamkeit, wir glauben an Gustav, das Kaninchen, und Lyrik, sagen wir andächtig. Meistens essen wir Wurst. (Simone Hirth in ihrem gelungenen Gebilde einer distanzierten Betrachtung).
– Wir sind geneigt, in diesem Zusammenhang nochmals auf das oben erwähnte Zitat von Henry Miller hinzuweisen und es uns mehrmals im Stillen vorzulesen.
Allen Dank auch der diesjährigen Mitherausgeberin Uljana Wolf, die die Schlussredaktion unter deutlich erschwerten Bedingungen absolvieren musste: Während draußen an der Prinsengracht anlässlich der Amsterdamer Gayparade ohrenbetäubend der neueste Techno gespielt wurde und selbst die Hunde rosa Schleifchen (meist um den Schwanz) trugen, saßen wir hinter fest verschlossenen Fenstern und versuchten, dem Rhythmus und Ton der Gedichte zu folgen. Ob uns das geglückt ist, lesen wir dann u.a. gerne auf der oben erwähnten Site nach.
Christoph Buchwald, Nachwort
präsentiert das Jahrbuch der Lyrik die deutschsprachige Gegenwartspoesie in all ihren Facetten und Spielarten. Renommierte und bisher unentdeckte Autoren stellen ihre neuesten Arbeiten vor. So entsteht ein breites Panorama der aktuellen Dichtung, das von der experimentellen Poesie über das Naturgedicht bis zur Lyrik der jüngsten Generation reicht. Von Jahr zu Jahr andere Schwerpunke ergeben sich durch die wechselnden Mitherausgeber-Dichter, die mit Christoph Buchwald jeweils die Auswahl treffen. Im 30. Jahr, 2009, geht die 1979 geborene Uljana Wolf mit auf Entdeckungsreise durch die poetischen Sprachwelten der Gegenwart. In poetologischen Anmerkungen diskutieren verschiedene Autoren über die Frage, ob Dichtung per se verständlich sein muss, und was „Verstehen“ eigentlich bedeutet.
S. Fischerverlag, Klappentext, 2009
– Versuch einer Rezension der wichtigsten Lyrikanthologie des Jahres. –
Im Nachwort des Jahrbuchs der Lyrik 2008 (S. Fischer Verlag) hat sich der ewige Herausgeber Christoph Buchwald über einen Journalisten beschwert, der unter anderem behauptet hat, dass immer die gleichen Autoren gedruckt würden. Eine Erbsenzählerei hat ergeben: Knapp 43 Prozent der „alten“ Autoren sind auch in der 2009erAusgabe. Der FAZ-Journalist lag also so falsch nicht. Was aber heißt das? Sind die im Jahrbuch versammelten Autoren schlichtweg gut? Oder ist die Szene (wie jede andere Szene) nicht frei von Filz? In jedem Fall bedeutet es, dass die Neueinsteiger kleinere Chancen haben, zumal die Gedichte – etwa 7.000 (!) Einsendungen waren es diesmal – nicht anonymisiert eingereicht werden…
Wie verhält es sich mit den Inhalten des Sammelsuriums? Den Herausgebern Buchwald und Uljana Wolf, einer der aktuell hoch gehandelten lyrischen Shootingstars, war es wichtig, die Bandbreite moderner, deutschsprachiger Dichtkunst abzubilden. Von verständlichen Versfolgen (wenige) bis zu komplexen Laborversuchen (sehr viele) betritt man ein sprachliches Panoptikum unterschiedlicher Stile. Anders: Auf einem Poetry Slam würden 95 Prozent der Gedichte gnadenlos durchfallen, Unterhaltung findet woanders statt. Häufig erinnern die Werke an abstrakte Bilder in Kunstmuseen. Doch was im Visuellen aufgeht, muss nicht zwingend im sprachlichen Bereich funktionieren. Kostprobe gefällig? „häppi schramm“ von Urs Allemann:
texter is fankschn vons text, funk
schön
quell. schreiwerkzeug schreier
herste bedinge dass schrrr
… ei du lall lallerloh snix.
Auch wenn man ahnt, worum es möglicherweise geht: Man muss an Loriots Lyrikparodie in „Papa Ante Portas“ denken… Und ein zweites Problem drängt sich auf: Wie will man solche Gedichte qualitativ bewerten? Weshalb sind sie besser als 6.850 andere? Bringen sie vielleicht sogar eine ganze Gattung in Verruf? Auch die drei gut gemachten Kurzessays im Kapitel „Do you mean Bonnhof?“ geben keine Antworten. Axel Kutsch verteidigt die von vielen seiner Kollegen so verhasste Verständlichkeit eines Gedichtes (nett: „Wer will schon kotzen, wenn er Lyrik liest?“), Gisela Trahms versteht die Geheimbündler (… begib dich in mein… spezielles Wortgehäuse… denn ich gebe hier die Spielregeln vor.“), Hans Thill ist das Bindeglied, das sich geschickt entzieht („Soll keiner denken, daß er ein verständliches Gedicht schreiben kann. Soll keiner denken, daß er ein unverständliches Gedicht schreiben kann.“). Aber, wie gesagt, ein Qualitätskriterium für gute Gedichte wird auch hier leider nicht gegeben.
Natürlich finden sich zahlreiche frische, unverbrauchte Formulierungen in diesem Band, die immer wieder zwischen höchst leserfeindlichen Passagen aufblitzen. Einige Beispiele müssen aus Platzgründen genügen:
Wir sind alles, was Gott
nicht sein konnte, heißt es,
der große Versager, die großen Versager,
von der Schöpfung erschöpft
und von uns.
(Michael Krüger)
vielleicht explodierte noch
ein Pfund Zucker, letzte Notration
jedenfalls wurden wir gerettet,
verstaubt, verdreckt, doch bestens
angezogen in unseren Hauten.
(Günter Herburger)
Eine der letzten Photographien
zeigt ihn in seinem Garten,
kaum von den Bäumen zu unterscheiden,
astkrumm, die Haare rindengrau,
mit den Gedanken tief in der Erde
(Jürgen Brôcan).
Und z.B. auch Silke Scheuermann („Vogelflüge“), Uwe Tellkamp („Reise zur blauen Stadt“), Nora-Eugenie Gomringer („Anamnesie“), Christa Wisskirchen („Minute“) oder Simone Hirth („Hier“) haben eine Sprache entwickelt, die kleine Schlüssel und starke (ja, auch literarische!) Steigbügel bieten kann. Fazit: Falls Sie Gedichte schreiben oder chiffrierte Poesie lieben – kaufen Sie dieses Buch! Oder stöbern Sie im Jahrbuch nach den Autoren, die Ihnen zusagen und erwerben Sie deren Einzelbände! Wie immer ist alles eine Frage der Entscheidung und des Geschmacks, die zum Glück in letzter Instanz der Leser hat.
Matthias Kröner, Ostragehege, Heft 56, 2009
Axel Kutsch: Jahrbuch der Lyrik: Ende der Reise?
poetenladen.de, 2.3.2009
Daniel Graf: Das dreißigste Jahr
danielgraf.net, 27.4.2009
Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa
Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr
Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009
Uljana Wolf liest drei bögen: böbrach und andere Gedichte.
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