SELTSAM SCHÖN
die neue Welt
überall gleich
Bahnhöfe Geschäfte
Flughäfen schnell
vorbei die Passagiere
auf Durchreise
fliehen sich und
leugnen was unter
der Haut lauert
der Sandsturm die Flut
Angst im Hirn
tot gestellt
als sei machbar
die Bergung des Rheingolds
und die Götter
lenkten wieder
jeden Krieg
im schwindenden Licht
aus Bildschirmen und
unsichtbaren Netzen
gefischt die Prophezeiung
jenes alten Stroms
in die Sonne
was wird steht
in den Sternen
geschrieben mit
deinem Blut Gelächter
verklingt jetzt
bist du taub
und lachst doch
Von keinem anderen Dichter haben wir eine derart intensive und umfängliche Anrufung der Engel gelesen. Freilich haben sie in den Gedichten von Christoph Klimke keinen Bezug mehr zum Religiösen, zum Christentum: ihr Wesen ist metaphorisch wechselhaft, ja, stellvertretend für einen festen Angelpunkt, an dem sich das Gedicht festmachen könnte. Wir werden beim Lesen an Hugo Friedrich und an sein Standardwerk über Lyrik erinnert, da der Literaturwissenschaftler uns überzeugend (am Beispiel Mallarmé) die Formel von der „leeren Transzendenz“ offeriert. Für Hugo Friedrich kann sich das moderne Gedicht nicht mehr auf eine tradierte, glaubensverhaftete Transzendenz ausrichten. Doch die Perspektive bleibt erhalten, nun ins Weltliche, also ins Leere, gekehrt. Diese Lesart von Gedichten nach der Epoche der Aufklärung scheint mir auch auf Klimkes Verse zuzutreffen. García Lorca und Pasolini, denen die großen Eingangstexte gelten, sind hier die säkularen Heiligen unseres Autors, Heilige ohne Himmel, obschon dieser wieder und wieder angerufen wird: nur noch eine Projektionsfläche für das unsagbar Gewordene, für Verzweiflung, Liebe, Resignation; in allen Zeilen liegt der Schlüssel offen für den Leser:
Es war einmal
fängt es an
zu leben bis
Glück auf dich
fällt aus Wipfeln
voller Laub doch
darin versteckt
warten keine Engel
lassen dich zurück…
Solche Engel erweisen sich als (Widerspruch in sich) inexistente Nothelfer, an deren Flug sich die Sehnsucht heftet. Sehnsucht und Verlangen sind die bestimmenden Motive von Klimkes verbalen Konzentraten; Sehnsucht und Verlangen nach anderem Leben, nach Glück, nach dem Objekt der Liebe, das sich ständig entziehen will. Manches ist bitter und traurig:
Behalt mich
in deinem Herzen aus Bernstein…
Das klingt fast flehend, eine inständige Bitte, selbst noch mit dem steinernen Herzen sich begnügend, solange es des Bittstellers gedenkt. Und wie die Engel durch die Zeilen wandern, ungerührt und selbstvergessen, so häufig finden wir auch diesen uralten Gegenstand aller Poesie: Das Herz. Als Symbol längst totgesagt, erscheint es „reanimiert“ in den Klimkeschen Strophen; durch seine Weise des Schreibens, das Ineinanderfließen angedeuteter Sätze (typisch Klimkesche Methode) wird jegliche Sentimentalität vermieden: ein Beispiel:
… nicht alles
verloren hab ich
verdammt genommen
hast du mein Herz
schlägt mich tot…
Spreizt man die Verknappung als „geneigter Leser“ auseinander, ergibt sich etwas, wofür ein anderer umständliche Beschreibungen benötigt hätte. Nicht alles verloren – nicht alles verdammt – verdammt, du hast mein Herz genommen – das Herz schlägt mich tot – Bild des Leidens an der Versagung durch den geliebten Menschen.
Der so genannte moderne Zeitgenosse, geprägt vom Tempo der Umwelt, gewohnt; Zeit zu verschleudern, dominiert von der Technik und darum in Erwartung, auf Knopfdruck alles sofort serviert zu bekommen, wird bei diesen Gedichten seine Hast und Hektik zügeln müssen. Gedichte wie diese, wie alle Gedichte, verlangen Muße – ein Wort, das schon auf der Roten Liste aussterbender Begriffe steht. Aber sich Zeit lassen zu müssen, bedeutet auch einen Gewinn, ein Zusich-selber-kommen im Spiegel einer anderen, keineswegs fremden Existenz. Falls wir uns noch an das große Geschrei der endsechziger Jahre erinnern, da jeder sich selbst verwirklichen sollte und möglicherweise auch wollte, was dann zum langen Marsch durch die Institutionen in die Chefetagen führte – so gibt es immerhin eine Art der Selbstverwirklichung, die man ohne gebrochenes Rückgrat zu erlangen vermag: indem man Gedichte liest. Auch und erst recht die von Christoph Klimke.
Günter Kunert, Vorwort
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