Christoph Perels: Zu Paul Celans Gedicht „Bei Wein und Verlorenheit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Bei Wein und Verlorenheit“ aus Paul Celan: Gedichte in zwei Bänden. Band 1. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Bei Wein und Verlorenheit

Bei Wein und Verlorenheit, bei
beider Neige:

ich ritt durch den Schnee, hörst du,
ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe, er sang,
es war
unser letzter Ritt über
die Menschen-Hürden.

Sie duckten sich, wenn
sie uns über sich hörten, sie
schrieben, sie
bogen unser Gewieher
um in eine
ihrer bebilderten Sprachen.

 

Eine Sprache für die Wahrheit

Man sieht sie vor sich, die Schreiber mit den gebeugten Rücken, Chronisten, Theologen, Dichter, die mit Hilfe ihrer Sprachen die Zeichen der Zeit zu deuten hoffen. Sie wissen nicht oder wollen nicht wissen, daß Endzeit angesagt ist.
Das Gedicht selbst läßt die Sprache des Propheten Jeremia durchschimmern:

Denn also spricht zu mir der Herr, der Gott Israels: nimm diesen Becher Wein voll Zorns von meiner Hand, und schenke daraus allen Völkern, zu denen ich dich sende.

Und der Prophet schenkt ein „allen Königen… in der Nähe und Ferne“ und sagt ihnen seinem Auftrag gemäß den Untergang an:

Der Herr wird brüllen aus der Höhe, und seinen Donner hören lassen aus seiner heiligen Wohnung; er wird brüllen über seine Hürden; er wird singen ein Lied wie die Weintreter über alle Einwohner des Landes, des Hall erschallen wird bis an der Welt Ende.

Nicht mehr in Menschensprache, nur im Tierlaut noch und im Gottesgesang, in zwei Ausdrucksweisen, die sich der Aufspaltung in ein Zeichen und in das, was es bezeichnet, entziehen, ist Wahrheit.
Und Celans Gedicht selbst, spricht es nicht, entgegen seinem eigenen Verdikt, in einer „bebilderten“ Sprache? Es ist ja aus Wörtern gemacht und hat teil an der Grundverfaßtheit aller menschlichen Sprache. Aber es radikalisiert das Bilderverbot des Alten Testaments zum Zeichenverbot überhaupt. Es hat zu jeder Zeit menschliche Erfahrungen gegeben, die sich der Sprache entzogen, etwa die Gotteserfahrung in den mystischen Überlieferungen der verschiedenen Religionen, und Celan hat sich intensiv mit diesen Überlieferungen auseinandergesetzt.
Doch dieses Gedicht hat andere Voraussetzungen. Was der Prophet als bevorstehend ansagt, ist bereits eingetreten, der Text spricht von Vergangenem. Es sind die für Celan niemals zu überwindenden Erfahrungen der Judenvernichtung, einer Apokalypse, so über alles Maß furchtbar, daß jedes Sprechen davon die Wahrheit verfehlt. Da der Dichter aber auf die Sprache angewiesen bleibt – denn in einem erweiterten Sinn von lyrischem Sprechen als von Singen zu reden macht ja die Verwendung von Sprache nicht ungeschehen –, führt er im Gedicht selbst gegen die „bebilderten Sprachen“ einen Prozeß.
Am Wort „Neige“ läßt sich etwas von diesem Prozeß zeigen: lesen wir es als Wort der deutschen Sprache, so wird das in der dritten Zeile aufgehoben, wir sollen in ihm auch das französische „neige“ („Schnee“) hören und in der elften das englische Wort für „Gewieher“ („neigh“) – Celan weicht hier bewußt vom „brüllen“ im lutherschen Bibeltext ab. Der Zusammenhang von Sprachzeichen und dem, wofür es steht, löst sich auf, den Schreibenden, Lügenden wird ihr vertrautes Notationssystem entzogen.
Aber der Dichter selbst ist mitbetroffen: der von diesseits des Untergangs spricht, negiert zugleich, daß es irgendeine der vorher geltenden Sprachen noch geben könne. Nicht daß es über alle Sprachen verfüge, zeigt das Gedicht, sondern daß Sprache erst wieder zu schaffen sei, Sprache, die das Unfaßbare nicht verleugnet. Auch dies gibt den Sprechenden der „Verlorenheit“ anheim, von der am Beginn des Gedichts die Rede ist.
„Wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend“, so hat Celan sein Dichten einmal charakterisiert. Es ist auch auf Sprachsuche. In ihm ertönt die Klage über das Ende einer Epoche, die den Menschen als das Wesen, das Sprache hat, definiert. Wo diese Klage seitdem in der deutschen Literatur gehört wird, wächst die Hellhörigkeit für verlorene Redeweisen und verlogene Bilder rings um uns.

Christoph Perelsaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

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