GENIUS LOCI
Warum sollte der Idiot
kein Genie sein? Zumindest
weiß er nichts als was er
fühlt. Der armseligste Narr
verschafft der Intelligenz
eine Geburtsurkunde. Und ein Tier
hat keine Verachtung verdient.
Betrachtet nur das einfache Pferd
das die geteerte Via Appia
gemächlich entlanggeht, unter
dem Bogen blühender Akazien
das, keineswegs abgeschreckt
von Anstandsregeln
langsamer wird und mistet
wo andrer Pferdemist schon liegt
wie eine andere Zeit
anderen Dung mit Erde vermengte.
Und das gründlich fleckige
Schweißband im breiten Hut
des contadino steht nicht im Widerspruch
zum darunter verborgenen Hirn.
Hinter den kleinen, schwarzen Augen
eindringlicher als Moskitos
in ihrem ziellosen Zielen
ergänzt durch das goldene Blitzen
des Ringes am rechten Ohr
das zeigt, wo Engel womöglich
nicht zu wandeln wagen, kein Gedanke
hat sich da anders seinen Weg gebahnt
als mittels verdorrter Sprache. In Ordnung.
Mehr verlangt man nicht, wenn man
laufend weniger zu sehen bekommt.
Wir wissen zuviel und nicht genug
um zum Grund eines Ortes vorzustoßen.
Wie die Olive auf so kahlgeschorenem
so steinigem Boden ihren Stamm
im Stich läßt und ihren Stolz
herunterschluckt, um Saft zu spenden
zur richtigen Zeit, um die Erde zu reinigen
von ein bißchen Tod. Öl
aus dem Baum für den Baum des Lebens.
Genius? Nichts, das
dem Boden nicht entstammte −
eingeboren, wenn auch eingeschränkt.
Jedem Tag sein Tagwerk
dies Wunschbild hat auch
der Weiseste noch nicht
wahrer ausgedrückt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaals die Erde.
schrieb Cid Corman in der süditalienischen Stadt Matera, wo er etwas mehr als ein Jahr verbrachte, um im Auftrag des US Foreign Service Englisch zu unterrichten.
Allein die
Lebenden kennen,
brauchen den
behauenen Fels.
Für die große Mehrheit der Italiener und für die übrigen, denen der Name überhaupt etwas sagt, ist Matera gleichbedeutend mit elender Armut und Rückständigkeit. Tatsächlich aber ist die Hauptstadt der Provinz, die die südöstliche Hälfte der heute Basilicata genannten Region einnimmt, im Hochland zwischen Ionischem Meer und Adria, verhältnismäßig wohlhabend in einer Welt, wo Verfall die Regel ist. Sie hat einen Endbahnhof, alle amtlichen Einrichtungen der staatliche Autorität, mehr als ein Dutzend Kirchen und eine wachsende Mittelschicht. In den Randbezirken, in den Burgdörfern auf abgelegenen Bergspitzen, ist die Armut unverhüllt, ungemildert und verschwiegen. Ich geriet ganz zufällig in diese Gemeinschaft, ohne einen Pfennig Geld, und blieb dort als Lehrer anderthalb Jahre. Was ich gesehen, gelernt, gefühlt habe, die Beziehungen zwischen mir und anderen dort und diejenigen zwischen Erde, Luft, Feuer, Wasser und ihnen und mir, all das sollte in den folgen Gedichten, zumindest unausgesproche, zum Ausdruck kommen.
Cid Corman, Vorwort
− Im März dieses Jahres verstarb der weitgehend unbekannte Lyriker Cid Corman. In seinem Nachlass: 80.000 unveröffentlichte Gedichte. −
Es hat Sinn, über Cid Corman zu schreiben, und auch nicht. Seine Gedichte sprechen für ihn. Er hat an die 150 Bücher – Gedichte, Übersetzungen, Essays – veröffentlicht, hunderte von Gedichten in hunderten von Zeitschriften publiziert. In Deutschland ist er nahezu unbekannt und in hiesigen Anthologien, Kompendien, Nachschlagewerken und Literaturlexika nicht verzeichnet.
Wenn ich mir vorstelle […], dass Cid Corman über tausende von unveröffentlichten Gedichten verfügt; oder dass sich seit Jahren kein Sponsor findet, der ihm und seiner Frau eine Reise nach Europa bezahlt – dann reagiere ich abwechselnd mit Schrecken oder mit dem belebenden Gefühl, dass es noch Dringendes und Schönes zu tun gibt.
So der Verleger Rüdiger Fischer in einem Interview. 1998 entbot er eine erste minimalistische Auswahl von Gedichten von Cid Corman unter dem Titel Wasserkraft in seinem Verlag am Wald dem deutschen Publikum.
In Roxbury, Massachusetts am 29. Juni 1924 als Sohn ukrainischer Juden geboren, startet Cid Corman, gerade mal Mitte zwanzig, in Boston eine Radiosendung, die sich zum ersten Mal überhaupt ausschließlich dem Sujet widmet, das im Titel dieser Radiosendung unzweifelhaft anklingt: This is Poetry. Die Sendung lief über drei Jahre einmal pro Woche, dauerte fünfzehn Minuten und war häufig zweisprachig.
Er macht das Publikum mit Lyrikern wie Archibald MacLeish, Stephen Spender und Theodore Roethke bekannt. Ein Hühnerzüchter in New Hampshire hört die Radiosendung und schreibt an Corman. Dieser wiederum stellt den Hühnerzüchter in einer der ersten Ausgaben seiner Zeitschrift Origin vor: Robert Creeley. Die dritte Ausgabe von Origin porträtiert Wallace Stevens und enthält den ersten ausführlichen Essay zu dessen Werk. Weit über dreißig Jahre lang schenkte diese Zeitschrift Autoren wie Denise Levertov, Robert Duncan, Louis Zukofsky, Larry Eigner, Charles Olson, George Oppen, Paul Blackburn, Philip Whalen, Lorine Niedecker oder Gary Snyder, um nur einige zu nennen, ihre Aufmerksamkeit.
In den Fünfzigerjahren ist er dank eines Fulbright-Stipendiums in Paris, wo er Gedichte von René Char und Francis Ponge, aber auch von Celan, allerdings ohne dessen Einwilligung, ins Englische übersetzt. Gleich in der ersten Woche in Paris lernt er den Künstler Sam Francis kennen, der ihm anbietet, sein Gesamtwerk zu veröffentlichen. Francis scheint letztlich nicht klar gewesen zu sein, was er da offerierte.
Nach seinem Frankreichaufenthalt geht Corman nach Italien, nach Matera, einer Bergarbeiterstadt, wo er etwas mehr als ein Jahr als Englischlehrer arbeitet und ihm genügend Zeit zum Schreiben bleibt. Nach seinen Jahren in Europa, die, wie er sagte, Stoff für fünf Romane bot, kommt er 1962 eher zufällig in Japan an. Im gleichen Jahr heiratet er, und gemeinsam mit seiner Frau Shizumi Konishi eröffnet er einen Coffeeshop in der Marutamachi Street in Kioto, den die beiden nach über zwanzig Jahren dann an Shizumis Bruder verkaufen. In diesen vierzig Jahren seit seiner Ankunft in Japan hat Cid Corman weiter Gedichte geschrieben und als Herausgeber, Übersetzer und Kritiker gearbeitet. Seine Übersetzungen japanischer Lyrik zeugen von einem Aus-erster-Hand-Wissen der japanischen Kultur und Sprache. Als Beispiele mögen Bashos Back Roads To Far Towns, Kusano Shimpeis Frogs and Others und Santokas Walking Into the Wind gelten.
Manchmal trug ihn die Struktur des Haiku; aber seine Gedichte, die, schon bevor er nach Japan kam, sehr kurze Gedichte waren, brechen mit den syntaktischen Regeln des Haiku, zumal er grundsätzlich an Regeln nicht interessiert war. Wenn er ein Gedicht begann, wusste er nie, was dabei herauskommen würde, und er wollte es auch gar nicht wissen. Er wollte aufzeigen, was die Worte sagen. Er schrieb nicht für sich selbst, eher für jedes menschliche Wesen. Er schrieb, um anderen das Leben vor Augen zu führen. Alles war für ihn Dichtung, und nichts bedurfte einer Erklärung, denn das Leben hat keine Bedeutung. War für ihn jeder Augenblick des Lebens Poesie, so gleichen seine Gedichte einem Atemzug. Und noch einem.
Als Cormans erste zwei Bände (von insgesamt fünf angekündigten Bänden à 750 Gedichten; Band 3 erschien 1998) 1992 erschienen, erfuhren diese nur geringe Beachtung der Kritiker. Im New Yorker Arts Magazine wurde Cid Corman als „the best kept secret in American poetry“ bezeichnet. Es erschienen Gedichtbände von ihm, auf denen sich nicht mal sein Name fand. Und mit All in a Day’s Work, der Titel deutet es an, veröffentlichte er ein Buch, das er an einem Tag geschrieben hatte.
An Larry Sawyer, den Herausgeber von Milk (milkmag.org), schrieb Cid Corman am 20. Dezember 2003
Writing still a book of poems every day in effect. Tomorrow it will be 62 years since I began, also on a Sunday, and I’ve been at it every day since. Vacation is not a word in my vocabulary.
Cid Corman erlitt Silvester 2003 einen Herzinfarkt, fiel in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte, und starb am 12. März dieses Jahres in einem Krankenhaus in Kioto im Alter von 79 Jahren. Laut seinem Archivar Richard Aaron hinterlässt Cid Corman an die 80.000 unveröffentlichte Gedichte.
Nun ist eine zweisprachige Ausgabe seines Gedichtbandes Sun Rock Man auf Deutsch erschienen, erneut im Verlag im Wald, wiederum übertragen von Rüdiger Fischer. Die Gedichte, die in diesem Band versammelt sind, schrieb Corman überwiegend während seines Lehrerdaseins in Matera, Hauptstadt der gleichnamigen süditalienischen Provinz mit an die 60.000 Einwohnern. Das auffallende Charakteristikum dieser Stadt, die oberhalb einer Schlucht entstand, sind die seit 1993 zum Weltkulturerbe der Unesco zählenden über 3.000 in den Kalktuff der Felsen geschlagenen antiken Behausungen.
Die Menschen trotzten dem Felsen eine Stadt ab. Kargheit und Entbehrung, Not und Mangel legt einem die Lektüre dieser Gedichte nahe. Doch Corman gelingt es, gleichsam als Seismograf mal rhapsodisch prosaisch, mal blitzartig bildhaft diese Stadt und ihre Bewohner als eine felsige Augenweide in ihrer harten Blöße nicht nur auf-, sondern auch nachzuzeichnen.
Die Sprache gliedert die Welt nach den materiellen Bedürfnissen der Menschen; vor allem aber ruft sie die Illusion hervor, es würde eine objektive Welt der Phänomene existieren. Dieser Mangel der Sprache erscheint nur in Relation zu einem Wissen, das noch in den Illusionen der Sprache befangen ist. Aussagen über die Wirklichkeit müssen an den nicht sagbaren Kern der Subjekte rückgebunden werden.
Er ist jedenfalls da raus
Nicht seine Sorge,
sondern ihre, anderer Leute. Genug
zum Leben in den eigenen Knochen. Und er kommt zurück,
arm vielleicht, aber mit der Rente, von der er träumte,
zu diesem Traum aus Nichts. Steht
oberhalb der Höhlen, wo die Grube war,
so sehr ein Gott, wie’s ein Gott nur sein kann, und sieht
Leute wie ihn, zwischen Sonnen und Bergen verloren,
die eigene Last hinauf- und hinunterschleppen.
Und er steht da entfremdet, befremdlich, sieht
steinerne Wasserfälle, die Fenster der Kindheit blind
gegen Rückkehr, wo noch Dunkelheit herrscht.
Hier wurde er geboren. Ein Schlussstrich gezogen. Der Weg nach oben
ist der Ausweg, sagte man ihm. Und oben
steht er nun, schaut hinab auf sein Heim.
Volker Frick: Cid Corman: Sonne Fels Mensch: Sun – Rock – Man
buchkritik.at, 7.12.2004
Theo Breuer stellt hier die mehrsprachigen Gedichtbücher vom Verlag im Wald vor.
Interview mit Cid Corman Teil 2/3.
Interview mit Cid Corman Teil 3/3.
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