– Zu Georg Heyms Gedicht „Der Gott der Stadt“ aus Georg Heym: Werke. Mit einer Auswahl von Entwürfen aus dem Nachlaß von Tagebuchaufzeichnungen. –
GEORG HEYM
Der Gott der Stadt
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.
Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
die großen Städte knieen um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.
Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.
Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.
Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Die Zerstörung der Städte: ein uraltes Angstbild, das tief ins kollektive Unbewußte der Menschheit eingebrannt ist. Ninive, Babel, Sodom und Gomorrha – sie alle sind mit Feuer und Schwert von einer höheren Macht vernichtet worden. „Ich will Unrat auf dich werfen und dich schänden und ein Schauspiel aus dir machen“, so lautet das Gottesurteil über Ninive im Alten Testament. Bis in die Moderne wird die Stadt als Ort des Bösen attackiert, als Platz des Hochmuts und der Entfremdung des Menschen von seiner wahren Natur. „Wehe dieser großen Stadt“, heißt es in Nietzsches Zarathustra, „ich sehe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird.“ Und Brecht konstatierte nicht ohne Genugtuung:
Von diesen Städten wird bleiben, der durch sie hindurchging, der Wind.
Georg Heyms „Der Gott der Stadt“, einer der Ursprungstexte des Expressionismus, steht also in einer langen Tradition. Mit zweiundzwanzig Jahren, im Jahr 1910, schrieb der Sohn eines Militäranwalts und Student der Jurisprudenz dieses Gedicht und eine Zahl weiterer Gedichte, in denen die Stadt als eine Bühne des Verderbens geschildert wird.
In der Form ist „Der Gott der Stadt“ konventionell: fünf Strophen, kreuzweise gereimt, in fünffüßige Jamben gesetzt. Bis heute überwältigend: die bildmächtige Sprache. Im Eingangsvers wird gleich ein großer Ton angeschlagen.
Ein mythisches Wesen hat sich über die Stadt erhoben, sitzt ihr drohend im Nacken; die Naturkräfte, die Winde, sind auf seiner Seite. In der zweiten Strophe lernen wir diesen furchtbaren Riesen näher kennen: Es ist der orientalische Fruchtbarkeitsgott Baal, ein böser Gott, der gerne mit seinen Opfern spielt und der schwer zu besänftigen ist. Im Licht der untergehenden Sonne betrachtet er lüstern die Welt zu seinen Füßen. Die Unterwerfungsgeste der Städte, die sich vor ihm auf die Knie geworfen haben, stimmt ihn nicht gnädig.
In der dritten Strophe bricht dann das Chaos aus: Im Schatten des drohend brütenden Baals werden die Triebe, die Lust an der Selbstzerstörung entfesselt. In einem orgiastischen Treiben geben die Menschen sich dem allmächtigen Gott hin. Wie einst zu Zeiten der Korybanten, die als wilde, dämonische Tänzer in der griechischen Mythologie die Göttin Kybele begleiteten, erklingt Musik: ein Huldigungs- und Opferritual zugleich, vom Rauch der Fabriken wie von einem heiligen Feuer eingenebelt. Doch der auf Zerstörung sinnende Gott läßt sich nicht besänftigen, seine Wut wird vielmehr angefacht. In der vierten Strophe kündigt sich der Untergang an, der dann in der fünften von der Fleischerfaust des Ungeheuers vollzogen wird: ein großes apokalyptisches Bild, dessen Grundfarben das Rot des Feuers, des Hasses und der Wut und das Schwarz der Angst und der Verzweiflung sind.
Mitten im Frieden, in der saturierten Welt des Wilhelminischen Zeitalters, hat Georg Heym in der unablässig sich ausdehnenden Industriestadt Berlin das Lied der Unordnung und des Untergangs, das Lied vom Weltende, gesungen. Was hat diesen jungen Mann, der als Vierundzwanzigjähriger beim Schlittschuhlaufen im Wannsee eingebrochen und ertrunken ist, angetrieben? In seinen Tagebüchern klagt er über unerträgliche Langeweile, allerdings:
Gäb es nur Krieg, gesund wär ich.
Er träumt davon, „Kürassierleutnant“ oder lieber gleich „Terrorist“ zu werden;
… würden wieder einmal Barrikaden gebaut, ich wäre der erste, der sich darauf stellte.
Kürassierleutnant oder Terrorist, Ordnung oder Chaos: Wie Georg Heyms Leben steht auch dieses Gedicht unter dem Zeichen der Ambivalenz. Faszination und Entsetzen, Angst vor der Zerstörung und Lust am Untergang gehen hier eine untergründige Verbindung ein. Es ist ein visionäres Gedicht, das zukünftige Schrecken des 20. Jahrhunderts anzukündigen scheint und das zugleich von einer frühen und tiefen Menschheitserfahrung kündet: von der Gewalt, die unvermittelt in die menschliche Existenz einbrechen kann.
Claus-Ulrich Bielefeld, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007
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