1. Januar

Ich kann mir einen Beginn nicht vorstellen, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass vor dem Beginn nichts war; ein Gleiches in Bezug auf das Ende – wie ist ein Ende zu denken, wenn man nicht denken kann, dass nach dem Ende nichts mehr sein wird. – Ruhiger Silvestertag, ruhige Silvesternacht im Alleingang. Viermal geht der traditionelle Totentanz heute zwischen acht Uhr früh und acht Uhr abends durch die Gassen und weiter durch den Gemeindewald. Ein Dutzend Leute, in schwarze Kutten vermummt, auf denen vorn und hinten ein weißes Skelett aufgesprüht (oder aufgenäht?) ist. Dazu Masken und Pauken. Der seltsam verzogene Rhythmus der Schläge läuft dem Marsch der Schritte zuwider. Viermal zieht der Trupp der Totentänzer unter meinem Fenster vorbei, die Scheiben dröhnen vom Paukengepolter, das aber rasch an Lautstärke verliert, doch nie verstummt’s – noch aus dem Wald schallt es, vielfach gedämpft und gebrochen, ins Städtchen zurück. – Keith Jarrett mit Bach und Schostakowitsch; Eberhard Blum beatmet seine Flöten, als wären sie das Atmungsorgan, und er das Instrument. – Meinungsänderung: Über Blumen denke ich nun wirklich anders! Sonst hab ich kaum etwas erreicht an diesem Feiertag des Zweifels und der Nachdenklichkeit. Ein Übersetzungsversuch mit Francis Ponge – »ein Buch auf die Beine stellen« heißt soviel wie meine Blume zum Blühen bringen. Immer noch einmal mit dem Schreiben beginnen! Solche Weiterbildung (permanentes Lernen) nehme ich mir auch für dieses Jahr vor: »Die (schreibende) Entdeckung des Orts der Schreibenden (Pflanzen), von dem alles, was sie ausdrücken, abgeht, maximiert die Hemmung, ein Buch (also eine Blüte, eine Blume) vorzulegen, das die Änderung meiner Meinung über das Blühn zum Ausdruck bringt.« Ein Satz voller Fehler, doch von den Fehlern lebt er. Das Schreiben zu üben, es als unentwegte Übung zu betreiben, hat immerhin den zweifelhaften Vorzug, dass man Fehler nicht vermeidet, sondern hervorbringt. Dass der Fehler zum Gelingen gehört, führt uns hampelnden Passanten die sogenannte Schöpfung vor Augen. – Noch ein Blick in die TV-Nachrichten von Nulluhr, dazu das Zischen der Raketen, die Kracher, der kreischende Jubel von draußen. Rasch zu Bett. Schlafen. Vergessen. – Was ich herzlich gern nicht mag: Hintergrundmusik im Supermarkt. Graffiti im öffentlichen Raum. Preisverleihungen mit Honoratioren und musikalischer Umrahmung. »Spannende« oder »interessante« Bücher. Den Hund – und überhaupt Hunde – im Bett meiner Freundin. Die andere Wange hinhalten. Eine Betonwand, die meinen Nagel und damit mein Bild abweist. Die jubelnde Fankurve. Den Bierschaum im Oberlippenflaum meiner Tischnachbarin. Geburtstagsgrüße und Geburtstagsgeschenke. Föhnlagen. Männer, die mit gespreizten Beinen und offenen, nach hinten gelegten Armen auf dem Prominentensofa um originelle Antworten ringen. Tattoos. Rekorde. Special effects. Uniformen und Trachten aller Art. Schusswaffen aller Art. Leute, die sich nicht bedanken, sich nicht entschuldigen. Leute, die sich zweimal bedanken oder zweimal entschuldigen. Führungen aller Art. Sehenswürdigkeiten aller Art. Gruppenreisen. Kreuzfahrten. Sprechende, lachende, tanzende Tiere. Hunde- und Hahnenkämpfe. Wettlesen. Wurst zum Frühstück. Bestseller. Lotterien. Kondome. Klingeltöne in und aus Mobiltelefonen. Künstliche Besamung. Polizeisirenen. Notvorräte. Mobbing. Modewörter. Kampfstiefel. Jagdveranstaltungen aller Art. Dreiste Mediokrität. Gratismut. Smileyfaces. Abgekürzte Eigennamen. Neujahrswünsche. Sprachregelungen. Kapitulations- und Scheidungsverträge. Politische Korrektheit. Highlights. Schunkeln. Munkeln. Autoleasing. Autotuning. Autorentreffen. Die pissgelbe Presse. TV-Werbung. TV-Unterhaltung. Unterhaltungsliteratur. Erbauungsliteratur. Animation an der verchromten Stange. Militär- und Trauermärsche. Wahl- und Totenreden. Kerzen und Küsse am Badewannenrand. Kriegsfreiwillige. Flauschteppiche und Flauschpantoffeln. Auch den Anfang vom Ende mag ich nicht. – Warum man … warum ich die wichtigeren und selbst die wichtigsten Dinge (das Testament schreiben, nach Astrachan und ins Wolgadelta reisen, die Einzahlung für Amnesty veranlassen, endlich das Buch über den Tod zu Ende bringen usf.) zu Gunsten alltäglicher Verrichtungen und beiläufiger Auftragsarbeiten immer wieder aufschiebe? Vielleicht will ich … vielleicht kann man das Wesentliche gar nicht erledigt haben hienieden? – Richtig mieses Wetter auch heute, kalter Nieselregen, diesiges Halbdunkel tagsüber, dazu die schneidende Brise – alles derart mies, dass man es fast schon fies nennen könnte. Hätte das Wetter einen Autor! – (Nachmittags:) Ich bin unterwegs zur Technischen Hochschule, an der ich einmal wöchentlich einen sechsstündigen Unterrichtsblock habe, Russisch auf verschiedenen Stufen, nach dem längst veralteten Lehrbuch von Braun/Pridik. Die Verpflichtung belastet mich zwar nicht sonderlich, interessiert und freut mich aber auch nicht. Ich gehe, schon etwas in Eile, zu Fuß auf dem Schotterdamm, um den Weg abzukürzen. Unten springt auf dem Schleichpfad in gleicher Richtung Krys, sie ist in weite, bald grün, bald schwarz glänzende Moirétücher gehüllt, sie läuft immer schneller, scheint zu fliegen, winkt mir von unten herauf zu. Ich realisiere, dass sie mich zu ihrer … zu unserer Hochzeit erwartet, bin nun aber doch froh, dass ich statt dessen unterrichten muss. Treffe unterwegs einen Kollegen, vermutlich ist es Feyerabend, gemeinsam legen wir die letzten paar hundert Meter zur TH zurück. Das Gebäude gleicht einer kleinen zusammengewürfelten Stadt, nichts passt hier zusammen, alles ist baufällig, ungefällig, eigentlich ein Trümmerhaufen. Bevor wir den Hörsaaltrakt erreichen, eilen wir durch eine bis zum Augenpunkt am Horizont reichende Gasse mit zahlreichen Werkstätten – da werden Autos und Rasenmäher und Computer repariert, es gibt Spenglereien, Schreinereien, eine Schmiede. Im Freien stehn Regale mit Verbrauchsmaterial, Stellwände mit sorgsam an Haken aufgehängten Werkzeugen; die Arbeiter tragen blaue Einheitskleidung. Die meisten Aufzüge im Haus sind geschlossen oder funktionieren nicht und … aber endlich finden wir einen Warenlift, die gefaltete Tür steht noch offen, beginnt sich nun aber langsam zu schließen; wir können sie grade noch aufhalten und steigen ein. Im Lift sitzen zwei alte Leute, Frau und Mann, auf ihren Koffern, die Kabine ist innen mit Brokat tapeziert, mit Messingarmaturen stilvoll ausgestattet. Auf der zweiten Etage steigt eine große helle Frau zu, die mich um mehr als einen Kopf überragt – auf Augenhöhe sehe ich ihr flaches, nicht mehr ganz frisches Dekolleté, weißhäutig mit einigen feinen Leberflecken und einem schütteren Kettchen. Beim Aussteigen im obersten Stockwerk reißt sie mich an sich, beugt sich zu mir herab, taucht ihre Zunge tief in meinen Mund; dann sagt sie: »Nee die Ideen.« Wir sind zeitlich knapp dran, vermutlich schon zu spät. Ich laufe zum Auditorium, wo mich die Kursteilnehmer zu Hunderten erwarten. Bin unvorbereitet, muss rasch überlegen, worum es heute überhaupt gehen soll, entschließe mich, die Schüler einfach lesen und übersetzen zu lassen. Denke an die große helle Kollegin, an die verpasste Hochzeitsfeier. Nach der Lektion treffe ich im Archivraum meinen Vater, hier sind alle schweizerischen Dialekte – in deutscher, italienischer, französischer, romanischer Sprache – auf alten Tonträgern gespeichert. Die Bänder und Platten und Walzen drohen zu zerfallen, müssen unbedingt gereinigt, auf CDs überspielt und so gerettet werden. Ich erkläre meinem Vater, dass heute niemand mehr irgendeinen dieser vielen Dialekte noch korrekt sprechen kann, nenne als Beispiel das Innerrhodische, das fünf Vergangenheiten, eine spezielle Dualform, aber keine erste Person kennt, kein Passiv, kein Wort für »ja«. In meinem Tarnanzug schaue ich kurz bei der Hochzeitsgesellschaft vorbei, wo ich feindselig erwartet und kaum begrüßt werde. Die Braut sitzt wie eine kleine fette Kurtisane mit nackten Schultern und in windiger Kleidung zwischen den vielen Gästen; der Bräutigam, ebenfalls klein und dick, ist ein schmieriger Perser, fast schon kahl, dabei bubihaft jung. Ich bin enttäuscht, ohne zu wissen, ob ich getäuscht worden bin oder ob ich mich getäuscht habe. »Schon wieder bist du empört«, flüstert mir Krys zu: »Nie bist du nicht empört !« Also wettere ich, bis der Saal leer ist. – Seit vielen Jahren halte ich mir den Silvesterabend für meine eigene unaufwendige Soloveranstaltung frei: Lektüre, Musik, Korrespondenz, dazu eine Flasche Inferno aus dem Veltlin, ein Stück Bergkäse aus dem Bergell. Auch diesmal bin ich so verfahren … bin ich so verblieben – mit ein paar Dutzend Seiten aus den ›Drei Frauen‹ von Musil, dem ›Tod Landes‹ von Arzybaschew und ›Nightwood‹ von Djuna Barnes. Im Hintergrund (am Rand des Kitsches) die ›Stillen Lieder‹ von Walentin Silwestrow. Beiläufig die Jahresgrüße an M. Z., E. K., C. M., S. M., M. G., I. N., R. I., H. N., B. K., E. S., R. H., T. K. Spät zu Bett. Früh – heute – aufgestanden. Bei völliger Dunkelheit und leichtem Schneefall zu Fuß in den Tag. Der Rundgang wird zu einer Rutschpartie. Außer dem Rieseln der winzigen gefrorenen Flocken ist kaum etwas zu hören, nur jetzt – in der Ferne – das Zweiklanghorn eines Notfallwagens; schon verhallt. Kaum ein Fenster erleuchtet. Kein Mensch auf der Straße, keine einzige Begegnung in dieser schwarzweißen Stunde. Für einen Moment (beim neuerlichen Ausrutschen) denke ich, hoffe ich, fürchte ich – ich bin allein auf der Welt. Also los … bei Null anfangen. Die Null bin ich. Der Anfang ist gemacht. – Heute erneut in nächster Herzens- und Geistesverwandtschaft mit Krys, noch immer oder schon wieder? Seit wann kennen wir einander ? Kennen? Gemeinsam zugange sein! Und waren doch nie wirklich zusammen, nur hin und wieder – während so vieler Jahre – zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Was auch heißen könnte – zur falschen Zeit am falschen Ort; denn doppelt falsch ergibt in der Regel einmal richtig. – Krys beklagt ihre freiberufliche Situation im Theaterbetrieb. Da ich mein eigener Betrieb bin (Ego Inc.), habe ich ihre Probleme nicht, bin aber mit den meinen zur Genüge eingedeckt. Wir kommen, wie meistens im Gespräch, vom Hundertsten ins Tausendste, reden bis zur Erschöpfung (unsere Art, begeistert zu sein), »trinkeln« zwei Flaschen Fetzer weiß, und nach Stunden gibt’s dann – plötzlich der Hunger! plötzlich dieses sprachlose Habenwollen! – noch eine Portion Spaghetti mit scharfem Sugo und den letzten Krümeln von meinem steinharten Grana. Wir schweigen gemeinsam zu Morton Feldmans ›Neither‹. Doch dann ist Krys gleich wieder in Eile, sie muss los, ich fahre sie zum Bahnhof, wir trennen uns mit einem wilden tiefen Kuss. Auf dem Rückweg nach Hause wird mir, obwohl ich mit den Gedanken und mit dem ganzen Begehren noch bei ihr bin, jäh bewusst, dass ich sämtliche Arbeitsunterlagen in Romainmôtier vergessen habe, ebenso den Memostick mit dem angefangenen Essay über Cyprian Kamil Norwid und Gerard Manley Hopkins. Was tun, wenn man nichts zu tun hat?

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