Noch immer hat mich die Migräne, und als müsste das Elend im Hinterkopf und im Magen zusätzlich veranschaulicht werden, geht der großflockige Schneefall nun in tränenden Regen über. Die dreckweißen Wälle am Fuß der Hauswände und die Haufen am Ende der Gassen verkommen rasch zu Matsch, zerrinnen, das Schmelzwasser treibt in immer breiterem Strom auf die gurgelnden Gullys zu. Bin grade, vom Schmerz animiert, wieder einmal dabei, den Lebenszeitverlust zu beklagen, den mir ein ungebliebter Beruf abverlangt hat und den meine allzu vielen Exkurse in allzu disparate Interessenbereiche mitverursacht haben. Alles und noch viel mehr – das war lange Zeit meine Devise, der nachzuleben mich einiges an Substanz und Energie gekostet hat, zu viel … so viel, dass mir die Kraft für einen hochgemuten Schlussakkord vermutlich fehlen wird. Vermutlich bleibt am Schluss bloß ein unverständliches Brabbeln … ein mürrisches Räsonieren … ein leeres Schlucken. Anderseits ist mir ja klar, dass an meinem Parcours nachträglich nichts mehr zu ändern und prospektiv nichts mehr zu planen ist. Nur müsste ich nun noch einsehen und akzeptieren können, dass am Ende (und darüber hinaus) genau dieser Parcours notwendig gewesen sein wird – lauter Abwege und Umwege, die insgesamt den einzig möglichen, mithin den einzigen tatsächlich gangbaren Lebensweg ausgemacht haben werden. Bei nachlassendem Migräneschmerz wird mir bewusst, dass meine Irrwege mit all ihren Sackgassen, Einbahnstraßen, Rückschritten und Ausrutschern nichts anderes sind als der ganz normale Weg – einer von beliebig vielen – durch das Labyrinth, das die Welt bedeutet. – Viel Neuschnee heute, eher unerwartet in dieser Fülle, die weiße Schwere legt die Welt in Trauer, dämpft ihr Gelärm, erleichtert den Atem, begräbt die Zweifel, verteidigt den Tod. Ich unterbreche die Arbeit gegen halb zehn Uhr abends, absolviere einen Rundgang auf knirschendem Grund, die kompakte Decke liegt acht, zehn Zentimeter hoch, bei jedem Schritt sinkt der Schuh mit einem leichten Quietschen ein, wird aber gleich aufgehalten von der gefrorenen Schneeschicht darunter. Einen einzigen Fußgänger treffe ich an, später eine kleine dickliche Frau, die reglos am Straßenrand steht und sich mit gesenktem Kopf und ausgebreiteten Armen einschneien lässt. Um so zahlreicher sind die Autos, die durch die nächtliche Weiße schlittern, sich um sich selbst drehn, am Randstein hängen bleiben. Ein Bus der Linie 33 steht mit durchdrehenden Rädern mitten auf der Kreuzung bei der Kirche Fluntern, dahinter warten drei weitere Busse, auf den Gleisen quer zur Straße stauen sich bergauf- und -abwärts die Trams. Die Szene ist irgendwie gespenstisch, weil in der Runde noch immer kein Mensch zu sehen ist, keine herbeieilenden Helfer, keine fliehenden Passagiere, keine Straßenpolizei – ich komme mir vor wie in einer verlassenen Filmkulisse. Stapfe langsam und tief durchatmend weiter, halte da und dort vor einem zugeschneiten Schuppen … vor einem Strauch … vor einem Zaun an und bewundere die molligen Skulpturen, die der stets dichter fallende Schnee auf Ästen, Stangen, Klinken, Simsen einfach so modelliert. Und gleichzeitig bringt er den Verkehr einer mittleren Großstadt zum Erliegen. Als ich hier – zu Haus – ankomme, hockt die einfrierende Weiße bereits so schwer auf allen Dingen, dass die kahlen Sträucher und Baumkronen gespreizt, die Äste herabgebogen und in Bogenform fixiert werden. – Meine jung verstorbene Tante Dorothee, Jahrgang 1919, hat sich mir gegenüber – als ich noch zur Schule ging – gerühmt, sie wisse nur ein einziges Gedicht auswendig. Aber welches denn? Und gleich begann sie es mit schwindelerregender Geschwindigkeit aufzusagen: Mose eins bis fünf
aaaaadann Josua und Richter
aaaaaRuth vor Samuel mit eins und zwei und
aaaaaKönige und Chronik
aaaaafolgen Esra Nehemia Esther
aaaaadie Botschaft Hiobs und der Psalter
aaaaadie Bücher Sprüche Predigten des Salomo
aaaaagefolgt vom Hohen Lied
aaaaanoch vor Jesaja Jeremia und Hesekiel
aaaaadann die Propheten
aaaaaDaniel Hosea Joel Amos und Obadia
aaaaaauch Jona Micha Nahum Habakuk Zephania
aaaaagefolgt von Haggai Sacharia und Meleachi
aaaaasodann die Judith und die Weisheit Salomonis
aaaaaTobia Jesus Sirach Baruch und
aaaaadie Makkabäer die Stücke Daniel Susanna nochmals Esther
aaaaaund zu Babel Bel und Drach
aaaaadann das Gebet Asaria und der Gesang im Feuerofen und
aaaaaendlich das Gebet Manasse – Schluss! Ich habe mir die Aufzählung nie ganz korrekt und auch nicht ganz vollständig merken können, bin aber den eigenartigen Namenzauber, den die Tante mit ihrem Singsang noch verstärkte, nie wieder losgeworden. Bis heute bleibt die Litanei der alttestamentlichen Namen für mich Modell und Inbegriff aller Poesie. – Noch mehr Schnee über Nacht. Unmerklich schichtet sich die wattige Weiße – federleichte Trauer – auf Schläfen und Scheitel des Träumenden. Zwölf Stunden Schlaf und – noch immer nicht genug. Alles ist gedämpft, herabgedimmt, eine lichte, seltsam bedrückende Last. Gedämpftes Hören. Gedämpfter Appetit. Gedämpfte Erinnerung an gestern und vorgestern. Gedämpfte Erwartungen. Gedämpftes Begehren. Alles Dampf. Und als ich um neun Uhr endlich in der Vertikalen war und das heiße nackte Gesicht durchs Fenster in den düstern Tag hielt, fiel mir der Schnee in Abertausenden von trocknen Flocken von ungeheuer oben entgegen wie ein Sternengestöber, wie ein sanfter Überfall aus dem All, wie eine letzte Schönheit, ein letztes Ja…ach, eine letzte Gesundheit, eine letzte Luzidität – wie das Allerletzte. Ja! So zu enden!
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