Für zwei, drei Stunden bin ich auf Reportage, fahre mit dem 33er Bus von Fluntern nach Wollishofen und zurück. Das ganz und gar unaufwendige Projekt besteht darin, auf dieser längsten Strecke der hiesigen Verkehrsbetriebe aktuelle Materialien zur Stadtschrift zusammenzutragen – sogenanntes Sprachgut, das sich auf unterschiedliche Art und in unterschiedlicher Funktion im öffentlichen Raum kundtut. Auf der Hinfahrt sammle ich die liegengebliebenen Gratiszeitungen und Weihnachtsprospekte ein, um Titelzeilen, Originalzitate aus Interviews und Sonderangebote zu notieren; auf dem Weg zurück beschränke und konzentriere ich mich darauf, mit Blick auf Ladenauslagen, Werbeplakate, Firmennamen, Leuchtschriften usf. so etwas wie einen städtischen Fließtext festzuhalten, der sich bei der Durchfahrt durch die verschiedenen Stadtkreise wie von selbst aus der nahezu kontinuierlichen Abfolge von Geschäftsnamen, Labels und Werbesprüchen ergibt. Mein Interesse richtet sich dabei ausschließlich auf solche In- und Aufschriften, die als bewusste, bisweilen forcierte Wortspiele zu erkennen sind. Die Häufigkeit derartiger Wortspiele bestätigt, wie weit sich das zeitgenössische Sprachdesign – nicht anders als die Alltagsrede – an die Sprache der Dichtung und der klassischen Rhetorik angenähert hat. Die heutige Stadtschrift wimmelt geradezu von Assonanzen, Anagrammen, Akronymen, Homophonien, End- und Binnenreimen, die als solche nicht einmal erkannt werden müssen, um verstanden zu werden. Ob nun ZUERICH in Sprayschrift von einer linksautonomen Zelle als ZU REICH angeprangert wird oder das Brillengeschäft Felder im Seefeld sich SEHFELDER nennt – in beiden (und in vielen andern) Fällen werden minimalistische, teils optisch, teils akustisch nachvollziehbare Sprachspiele inszeniert, um punktuelle Wahrnehmungsintensitäten und damit Aufmerksamkeit zu erzeugen. Einige weitere Beispiele von der heutigen Tour: DUHO (Werkstattkonzert des Duos Dubach und Horrich); EHE DIE EHE geschieden wird (Werbung Ehetherapie); IHR MANN FÜR ALLE FELLE (Werbung Pelzgeschäft); UMFAIRTEILEN (Slogan der Occupy Bewegung); SCHRANKEN FÜR BANKEN (dto.); MUSS DIES SIGN? (Ausstellung Design); AQUA REELL (Ausstellung Aquarelle); NAHTOUR (Demonstration Naturschutz); AMOHR (Anlaufstelle für Telefonsex); OPIUM BR INGT OPI UM (Schlagzeile Blick); MASSAGE IS MESSAGE (Massagesalon); FICK’S UND FERTIG (Sexberatung Gratiszeitung); HAUS IM HOCH (Ankündigung Hausfest); FOLLTEXT (Reklame Volltext > »follow Volltext«); EIN HERZ UND EINE KEHLE (Ankündigung des Duos Gessler im Casinotheater > »Kehle« für Seele); HINTERNATIONAL (Kolumnentitel > Provinzsparkassen statt Großbanken); HACKTIVISM (Kolumnentitel > jüngste Aktivitäten anonymer Hacker); usf. Die Beispiele gehören offenkundig ganz unterschiedlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Sphären an, entstammen unterschiedlichen Medien, richten sich an unterschiedliche Adressaten und weisen gleichwohl eine übereinstimmende Machart auf, unabhängig davon, ob sie in einem Werbebüro ausformuliert oder bei einem spontanen Sprechakt erfunden worden sind. Dass derartige Wortfindungen heute gang und gäbe sind, dass sie trotz ihrer lautlichen und semantischen (oft mehrsprachigen) Komplexität sofort verstanden und außerdem als amüsant empfunden werden, lässt vermuten, dass hier archaische Sprachmagie in neuer Funktion am Werk ist, während gleichzeitig der alltägliche Sprachgebrauch wie auch die kodifizierte Schriftsprache zunehmend vernachlässigt und durch Normbrüche aller Art strapaziert werden. – Also gleich die Retourkutsche. Auf halber Strecke – bei der Anfahrt zum Grauholz – meldet sich die Migräne mit leichtem Pochen und Zerren in den Schläfen. Ein Grund dafür ist vermutlich der krasse Wetterumschwung nach oben, Regen bei zehn bis zwölf Grad, nachdem die Temperatur vor Tagesfrist noch um den Gefrierpunkt schwankte. Ankunft in R. gegen Mittag, fast drei Stunden Fahrzeit, drei lange Baustellen, zwei Staus waren zu bewältigen. Beim Aufschließen der Wohnung höre ich das Klingeln, kann das Telefon noch rechtzeitig abheben, Krys grüßt mich vom Handy, erkundigt sich, wie die Reise war, wie die Stimmung ist, die Witterung, berichtet auch, sie sei jetzt auf dem Weg zum Bezirksgefängnis, wo sie – wir haben gestern darüber geredet – ihr Projekt für einen Theaterworkshop mit inhaftierten Schwerverbrechern anbieten will. Beiläufig beklagt sie sich … beiläufig klagt sie die Natur dafür an, dass sie die Frau in einem gewissen Alter einfach »auströpfeln« lasse; dabei habe ihr Frausein einst mit einem Blutsturz begonnen, und ebenso heftig und plötzlich und zeichenhaft sollte doch eigentlich das Ende sein – endlich frei! Frei wovon, frage ich zurück, frei wozu? Und denke dabei an meine Migräne, die nie an ein Ende gekommen sein wird … mit der ich nie fertig geworden sein werde. – Kurz danach Mutters Anruf, die in vierzehn Tagen dreiundneunzig wird und es »einfach peinlich« findet, dass sie »immer noch da« ist. Aber noch immer klingt ihre Stimme fast mädchenhaft, hell, ohne das geringste Scheppern, ohne Heiserkeit. Mit ein paar Scherzen muntern wir einander – so ist’s üblich geworden zwischen uns – ein wenig auf; sie empfiehlt mir den TV-Pilcher von heute Abend, vom ›Tatort‹ rät sie ab, der sei »nie nicht brutal« und »nach sieben Minuten« wisse man, »wer’s war«.
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