Seit Monaten habe ich unter meiner Hand kein Gedicht mehr entstehen sehen, bin zu sehr von der Prosa in Anspruch genommen, auf Berger, Beregow und Bergson folgt John Potocki, und der macht mir das Schreiben wie das Leben zunehmend schwer. – Bin heute geistig und physisch aus Migränegründen merklich verlangsamt, wenn nicht verblödet, blättere beiläufig in meinem zweisprachigen Gedichtbuch ›Restnatur/De nature‹ herum und finde, ohne danach zu suchen, manch einen Vers, manch eine Strophe, die ich kaum noch als die meinen erkenne, die mich in ihrer Fremdheit und Frische frappieren, die ich mir aber gern gefallen lasse. Immer weniger verstehe ich … immer mehr bedaure ich, dass meine poetische Arbeit (nach wie vor das Beste, was ich zu bieten habe) in einschlägigen Anthologien nicht dokumentiert ist. Bleibendes Defizit? Eigentlich bin ich ja, unter betrieblichen Gesichtspunkten, lieber defizitär denn inflationär – ein Seltener, ein Einzelner, statt mit von der Partie zu sein. Nein, ich resigniere nicht, ich resigniere nie; ich mach mir – hier und jetzt – einen Spaß daraus, aus meiner dichterischen ›Restnatur‹ (die um ganze siebzehn Jahre zurückliegt!) diverse Versatzstücke herauszubrechen und sie einzeln vor mir auszubreiten – als lyrische Notate, als quasiphilosophische Aphorismen, als eigenständige Kürzestgedichte. Zum Beispiel so: Der Abgrund weiß. Und
aaaaadrin verwahrt wie viele Funken
aaaaablinken nicht. Statt
aaaaaSonne bloß ein Rest von Körperwärme. Ei
aaaaaist vollkommen
aaaaawie die Null. Und wie
aaaaaGewult. Das bessere Versprechen. Oder: Der trägt
aaaaadie Mutter auf der
aaaaaBrust. Was
aaaaadenn sonst. Die Wabe als Wappen. Oder:
aaaaaIn der Tat
aaaaaist Wahrheit nur ein
aaaaaWort. Die Quitte bleibt schön
aaaaareif. Reif zum Vergessen
aaaaawie wir ja auch. Exotische Teilchen
aaaaawovon. Vom rettungslosen Gros. Und noch eins: Ich zu sagen
aaaaaheißt mit sich gebrochen haben. Usf. – Diese und andere Teilstücke ließen sich zu neuen Gedichten zusammenfügen, die ganz und gar meine Gedichte wären, selbst dann, wenn jemand anderes die Kompilation übernähme. Oder doch nicht? Ließe sich das Kompilat – wenn es denn technisch und poetisch überzeugend gelänge – nicht als eigenständige Komposition rechtfertigen? Aus lauter Fremdtexten Texte generieren, die als Originale gelten können! Kompilierte Originale? Originale Kompilate! Ja? Aber ein wenig originell sollten sie schon auch sein! – Langer Rundgang im eisstarrenden Wald, über dem als wehende Gaze der Nebel hängt. Geräusche gibt es, außer meinen eigenen Schritten und Atemzügen, keine mehr, nur hin und wieder in ferner Höhe der Nachhall eines Düsenjets, der zur Landung in Genf-Cointrin ansetzt, oder auch – wundersam an diesem unwirtlichen Dezembertag! – ab und wann ein zögerliches Piepsen im kahlen Gezweig. Dass es beim Gehen leichter fällt, sich eigenen Gedanken und Erinnerungen zu überlassen, als aktiv wahrzunehmen, wovon man umgeben ist, weiß ich aus langjähriger Erfahrung als Spaziergänger und Wanderer. Der alte Schopenhauer hat diese Erfahrung ex positivo mit einprägsamer Schlichtheit notiert: »Je weniger Einer denkt, desto mehr hat er die Augen überall …« Es kann durchaus vorkommen, dass ich nach einer Gehstunde heimkehre, ohne unterwegs irgendetwas wahrgenommen zu haben. Statt dessen überlaufen und bedrängen mich zahllose Ideen, die mir beim Gehen ganz einfach kommen, die mir einfallen … die beim Gehen über mich hereinbrechen und dann unabweisbar da sind. Diese gilt es sofort zu notieren – tu ich’s nicht, sind die Einfälle verloren. Dabei bleibt mir stets klar, dass solche Einfälle (oder auch bloß Gedankenblitze) nur dann sich ergeben, wenn ich unterwegs kein Notizheft dabei habe … wenn also einzig das Gedächtnis als Block zur Verfügung steht; das bedeutet wohl – das Risiko, die Furcht, eine spontan aufkommende »gute Idee« nicht sofort festhalten zu können, sondern memorieren zu müssen, gerät mir zur Provokation des Denkens, und die Ausformung des jeweiligen Gedankens erfordert eine Konzentration, die für die Wahrnehmung der Umwelt weder Kraft noch Raum lässt.
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