Dieser Novembertag … überhaupt dieser November zeigt sich immer wieder, ganz rasch zwischendurch, mit seiner März-, seiner Aprilseite. Meist hängen zwar die gewohnten Regenschnüre und Wolkenschlieren vor dem zubetonierten Himmel, aber unverhofft tut sich ein Spalt auf, eine Nische, ein Schacht, durch den protziges Sonnenlicht einfällt, eine Helle, die lange schmale Schatten hinter sich her und über die Fassaden und durch die Hintergärten zieht. Alles scheint plötzlich aufzuatmen … alles nimmt wieder Form an, Volumen, verkörpert sich wie zum ersten Mal, steht nach allen Seiten klar abgegrenzt im Revier und ist … und wird aber gleich wieder eingeholt und verschwindet unterm großen grauen Lid des neu einsetzenden Regens. Ich liebe diesen Regen, der die Regel ist, ich mag sein monotones Rauschen und Nieseln und Plätschern. Ich mag das wabernde Novembergrau, das jeder andern noch so schwachen Farbe eine Chance gibt, in aller Schlichtheit aufzufallen. – Früh aufgestanden, eine Stunde – noch am Saum der Nacht – auf der gewohnten Runde durch den Wald; zurück zum Frühstück mit Verbène und Waadtländer Krone (Hefeteig, Knusperkruste). Morgenpresse: »Beim ›Ja‹ bereits ans mögliche ›Aus‹ denken«; »Lokalpatriotismus als Hindernis für Wirtschaftswachstum«; »Der Branchenführer kommt ins Straucheln«; »Mythen wiegen Anleger in falscher Zuversicht«; »Gold scheidet die Geister«; »Nachfrage nach illegalen Drogen treibt den Kurs hoch«; »Nach der Klippe ist vor der Klippe«; »Weniger Geld für mehr Leute«; »Wissen Sie, was morgen ist?«; »Viel Staub um wenig Kohle«; »Avis kauft Zipcar«; »Arcelor-Mittal verkauft Posco-Anteil«; »Marktversagen in Frankreich«; »Schwarzes Jahr für die russische Autoindustrie«; »Verzögerte Abwertung belastet Venezuelas Wirtschaft«; »China als hartes Pflaster«; »Kein Griff zum Kit-Kat«; »Die Großen rudern zurück«; »In der Sackgasse«; »Opec knackt die 1000-Milliarden-Grenze«; »Flüchtiges Glück«; »Die Tragödie eines Hochseeseglers«; »Kloten Flyers aus dem Tritt geraten«; »Helfer von Impfaktion getötet«; »Organspendeskandal in Leipzig«; »Fauler Kompromiss in Washington«; »Ölbohrinsel auf Grund gelaufen«; »Abidjan im Schockzustand«; »Hacker attackieren Internet Explorer«; »Jeder will mehr als gesund sein«; »Globaler Babyboom unter Promis«; »Verdüsterung zum Jahresende«; »Neue Kaltwetterfront«; »Kein Ende in Sicht«; »Wer ist schuld?«. Tagesberichte, Tagesfragen. Soviel – die kleine Auswahl dürfte genügen – für heute. – Ich glaube, ich war acht Jahre alt, als ich erstmals – noch ohne das Wort dafür zu kennen – bewusst eine Schwangerschaft wahrnahm und gleichzeitig begriff, dass Schwangerschaft irgendwie zwischen den Beinen beginnt und nur bei Frauen vorkommt. Ich war bei meiner eleganten Tante Rosalie zu Besuch, begleitete sie zum Einkaufen auf dem schmalen Weg zwischen Korkfabrik und Badeanstalt. Im Kinderwagen schob sie ihre damals vielleicht zweijährige Tochter – meine Kusine Esther – vor sich her, wobei sie ihren riesigen Bauch auf die wippende Lenkstange legte und mir beiläufig zuflüsterte, dass »Estherchen bald ein Geschwisterchen« bekomme. Dann zog sie meine Hand auf ihren Bauch. Alles klar. Aber mich bewegte etwas anderes. Mich erregte der exotische Duft der frischen Korkballen, die hinter dem Lattenzaun gelagert waren und die mich jedes Mal mit leisem Horror erfüllten … mit der leisen Hoffnung, eine riesige Klapperschlange könnte uns in die Quere kriechen. Von solchen Schlangen war bei uns zu Hause und auch in der Schule immer wieder die Rede – man warnte uns Kinder davor, man erzählte uns, dass die giftigen Monster zusammen mit den in der Fabrik gelagerten Korkballen unbemerkt aus Afrika importiert würden und nur darauf warteten, aus ihrem Versteck auszubrechen, um sich ein Hündchen oder ein Kindchen zu schnappen. Pass auf! Die tiefe, seltsam knirschende Stimme der Tante Rosalie ist mir unvergesslich geblieben. Und wieder gab’s keine Riesenschlange zu sehen. – Twitter, SMS und Email lösen mehr und mehr den traditionellen Schriftverkehr ab – die wechselseitige Kommunikation mit Originalen. Der Brief als signiertes Unikat spielt im privaten Leben keine Rolle mehr. Lieber verausgabt man sich in den sozialen Medien, auch Persönlichstes – Partnerwechsel, Schwangerschaft, Liebesaus, Traumurlaub, Karrieresprung, Burnout, Lottogewinn – wird öffentlich kommuniziert. Die Exklusivität des Briefverkehrs und den damit verbundenen Aufwand an Material, Zeit, Energie nimmt man nicht mehr als Respektbezeugung wahr, sondern als elitäre Verausgabung, die »nichts bringt« und deren Transmission nicht Sekundenbruchteile in Anspruch nimmt, sondern bestenfalls einen Tag, je nach Distanz auch mehrere Tage. Je leichter und je rascher Kommunikation abzuwickeln ist, desto irrelevanter wird sie im Normalfall. Man teilt sich mit, was nicht der Rede wert ist. Gegenüber dem elektronischen Tratsch wird der persönliche Brief zum Ernstfall … zum Ausnahmefall. Wer einen Brief vom Schreibtisch via Briefkasten oder Postbüro auf den Weg zum Empfänger bringt, hat in aller Regel mehr zu übermitteln als bloß das, was der andere ohnehin schon weiß oder gar nicht zu wissen braucht. Mag sein, dass sich der Brief zuletzt noch als elitäre Literaturform behauptet. – Empfindlicher Temperatursturz über Nacht, der Eindruck der Erstarrung wird verstärkt durch die geradezu gespenstische Wildstille, die alles ruhen, rasten, ragen lässt. – Barbara Auer, Aglaia Szyszkowicz, Jeanette Hain, Marie Lou Sellem – ich versuche mir vorzustellen, wie die vier Frauen sich in einer (als eine) ausnehmen würden und … aber wessen Frau wäre das dann! – Die im Trend liegende Angleichung dichterischen Redens an die Alltags-, die Wissenschafts-, die Party-, die Kindersprache halte ich für unergiebig und uninteressant; plädiere statt dessen – entgegen allem, was zur Zeit angesagt ist und weithin praktiziert wird – für eine Dichtung, die sich, in Versen wie in Prosa, dem üblichen Sprachgebrauch und der zunehmenden Sprachverluderung widersetzt: Korrektheit und Formstärke als Abweichung von der Norm; eine Dichtung, die am Rand des Verständlichen operiert und jede leichtfertige oder voreilige Vereinnahmung unmöglich macht. Unverwertbarkeit ist ein Wert besonderer Qualität, steht nur für sich, wirkt provokant und abweisend zugleich. Unverständliche, schwer verständliche Bücher sind die, die man am längsten im Regal behält, auf die man … auf die ich immer wieder zurückgreife, um sie immer wieder anders zu entziffern. Bücher von Rimbaud, Roussel, Lautréamont, Leiris, Char. Was ich gelesen und begriffen habe, brauche ich nicht länger aufzubewahren, werde ich nicht ein zweites Mal aufgreifen. Ich werde das Grimmsche Wörterbuch oder den Webster ebenso wenig durchlesen wie ›Finnegans Wake‹ oder Chlebnikows gesammelte Texte, doch werde ich stets von neuem richtungslos darin nomadisieren und ungewollt fündig werden. – Noch ein Regentag, die matten Tropfen fügen sich in der bewegten Luft zu wehenden durchsichtigen Fahnen. Die Intensität des Niederschlags kann ich am besten ermessen, wenn ich aus der Küche zum Schulhof hinüber sehe … wenn ich sehe, wie der Regen in den weitläufigen Pfützen aufhüpft. Eben hat er etwas nachgelassen. Es ist sechzehn Uhr siebzehn, der Tag verdämmert bereits, die Laternen in der Gasse sind eingeschaltet, der Lichtkegel unter der Schreibtischlampe nimmt Form an, grenzt sich nun sichtlich vom halbdunklen Innenraum ab. Abends im TV eine Filmdokumentation (2. Teil) über die Seidenstraße; Spätnachrichten (Syrien, Griechenland, noch ein Korruptionsfall in Österreich, Wintersport, das Wetter für morgen). – Das hierzulande verallgemeinerte Du evoziert ein vermeintliches Kollektiv von Gleichgestimmten, die sich so – auch ohne Gleichgesinnung – unverbindlich zusammentun. Dass ich einige meiner besten … einige langjährige Freunde und Freundinnen noch immer sieze, schränkt die Intensität der Beziehung in keiner Weise ein, bewahrt mich außerdem vor fahrlässigem oder allzu vertraulichem Umgang. Es gibt Fragen, die man siezend nicht stellt, und Antworten, die man in diesem rhetorischen Register nicht zu geben braucht. Und wie schnell hat man per Du zu viel gesagt! – Ich soll für den Wiener ›Volltext‹ einen kritischen Beitrag zum »Fall Pastior« schreiben, ausführlicher und grundsätzlicher als vor zwei, drei Monaten in meiner diesbezüglichen, eher persönlich gefassten Notiz in der NZZ. Muss mir das noch überlegen. Manche Kollegen hatten damals mit Unverständnis darauf reagiert, dass ich eine kryptografische Lektüre von Oskar Pastiors »bedeutungsfernen« Texten anregte, in denen seine von Dieter Schlesak behaupteten Verstrickungen als Informant der Securitate in poetisch kodierter Form wenn nicht bestätigt, so doch thematisiert werden. Allein die Tatsache, dass ich an Pastiors Integrität andeutungsweise zu zweifeln wagte, konnte man offenbar als anstößig empfinden, abgesehen von dem Missverständnis, ich stellte die formalistische Dichtung vorab unter den Generalverdacht, ein Organon für verdrängte oder verleugnete Bedeutung zu sein. Man kann meine Notiz zu O. P. natürlich auch missverstehn, aber nur dann, wenn man sie missverstehn will. Denn klar ist doch, dass bedeutungsfreier Spracheinsatz kein freier Spracheinsatz ist; dass also, wer schreibend Bedeutung verweigert, Bedeutung verschweigt und verschweigen muss, was schlicht deshalb auf der Hand liegt, weil doch jedes Wort in jedem Kontext Bedeutung unweigerlich mitbringt. – Ist der Tod Wand oder Tor? Keiner ist nicht dorthin unterwegs, jeder – der Kalauer beglaubigt’s – quert das Leben als wandernder Tor! Da – die Wand, und dahinter das Nichts, also alles andere. Dort werde ich nicht nur nicht mehr sein, ich werde auch nicht gewesen sein. – Und die Liebe! Tor oder Wand? Gibt man Liebe … verausgabt man Liebe, weil man Liebe haben will? Mir drängt sich Liebe oft als das Böse in Gestalt des Guten, des Schönen auf … etwa in Gestalt der Qualle, die in ihrem lichten Schleierkleid zwischen der glitzernden Wasseroberfläche und dem dunklen sandigen Grund tänzerisch zu schweben scheint und deren passives Treiben darüber hinwegtäuscht, dass sie mit ätzenden und klebenden Kampfstoffen vollgepackt ist. – Schmetterlinge im Bauch! Auf wen geht dieses Bild zurück? Den Bauch mit Schmetterlingen zusammenzudenken, ist ebenso kühn, wie einen Regenschirm mit einer Tretnähmaschine zu vermählen. Allerdings ist das Bild, genauer besehen, kein Bild. Der Zustand der Verliebtheit wird hier ja nicht durch Schmetterlinge veranschaulicht, sondern mit einem Flattern verglichen, zu dem die Schmetterlinge bloß das Medium sind – es könnten auch Libellen, Spatzen, Fledermäuse sein. Und selbst das Flattern, von dem der Bauch aus gegebenem Anlass erfüllt sein soll, trifft auf das Gefühl akuter Verliebtheit nicht exakt zu. Noch kühner, noch zutreffender wäre es wohl, von Würmern im Bauch zu reden. Damit würde statt des Flatterns ein Kribbeln evoziert, was zur Verliebtheit besser passt; dies im Unterschied zu den Würmern, die man sich eher beim Krabbeln im Bauch einer Leiche vorstellt. Passt also auch nicht so recht. – Was sich im Verlauf der Nacht als Migräne vom Nacken her über den Hinterkopf zur Stirn und in die Schläfen geschlichen hat, schlug sich in der Früh auf die Innereien nieder, und Hirn und Darm verfielen in gleichgeschaltete Krämpfe. Ich habe ein solches Zusammentreffen bisher erst zweimal in großem zeitlichen Abstand erlebt, noch nie aber so heftig. Krampf und Schmerz erfassten den gesamten Körper, und dies mit einer Brutalität, als sollte er … als sollte ich nun gleich umgebracht werden. Das Schmerz- und Krampfzentrum saß auf mittlerer Höhe rechts im Rumpf, knapp über der Leber, vielleicht auch in der Leber drin. Von jenem Punkt her fühlte ich mich nach allen Seiten aufgetrieben, auseinandergetrieben … von jenem Punkt her hätte ich eigentlich aufplatzen müssen. Sicherlich wäre mir danach besser gewesen … sicherlich wäre ich dann tot gewesen, in Stücken. Nichts ging mehr, kein Erbrechen, kein Durchfall. Jeder Schluck, ob Tee oder Wasser, und jedes Medikament machte die Sache noch schlimmer, gab mir meine totale Hilflosigkeit zu spüren. Am Rand zum Unerträglichen schlug der Schmerz in Halluzinationen um – obszöne Fratzen stiegen vor mir auf, menschliche und tierische Körper oder Körperteile fügten sich im Reigen zu einer Revue, die wie ein rasendes Panorama auf Augenhöhe um mich kreiste. Dutzende, Hunderte von Malen hörte ich die Schlussakkorde aus einem populären Opernfinale, die Klänge, die Stimmen hielten sich allesamt im lautlichen Bereich von -Ai- und -Au-, woraus – bald als Wort, bald als Bild – Eier, Eicheln, Steine, Schäume, Augen, Trauben, Auen, Brauen wechselweise hervortraten. Ich war unfähig, mich im Bett aufzurichten, unfähig, den Lichtschalter zu erreichen, zum Klo zu kriechen, den Dorfarzt oder einen Nachbarn anzurufen. Unfähig zu allem, eigentlich auch zum Überleben. Nicht alles, doch wenigstens das Überleben hat geklappt. Die Krise hat bei allmählicher Abschwächung rund acht Stunden gedauert, zwei Kilo Körpergewicht sind mir dabei abhanden gekommen. Die Faust in meinem Innern hat sich gelockert, die Organe erwachen aus der Starre, regen sich … ich erreiche eben noch die Toilette, das Erbrechen ist die erste Wohltat nach dem Krampf, dann kommt die totale Erschöpfung und auch die totale Luzidität, ich weiß, ich bin am Ende, ich weiß, ich muss weiter. Mit einem leichten Brennen in der untern Speiseröhre schlafe ich ein. Vor einer Stunde bin ich aufgewacht. Ich muss gut zwölf Stunden geschlafen haben. – Ich bin in rasender Fahrt auf einer vierspurigen Autobahn unterwegs, bin dabei, mit einhundertneunzig kmh einen schräg vor mir fahrenden Wagen bergan zu überholen; die Straße hebt sich wie eine Riesenwoge bis zum Horizont, ich beschleunige mit sachtem Nachdruck auf zweihundert und … und nun schwebt ganz langsam ein weißes Mädchen in wehenden Umrissen, vielleicht einsfünfzig groß und mit hängendem Flügel, quer über die Fahrbahn, schwebt genau vor mein Auto, ich kann den Zusammenprall nicht vermeiden, bin erstaunt über dessen Sanftheit und Lautlosigkeit, und auch darüber, dass im Rückspiegel nichts von dem Engel zu sehn ist. So wache ich mit ärgerlichem Ungenügen auf.
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