17. Dezember

Gute ruhige Tage seit der Krise vom vorigen Sonntag, kein Schnee mehr, kaum noch Post; darunter ein Päckchen von Krys aus Paris mit Fritz Stahls Monografie über ›Die Stadt als Kunstwerk‹, Erstausgabe bei Mosse in Berlin 1931. O ja, Liebe, das nehme ich gern entgegen … das kann ich einreihen in das Regal mit meinen Stadtgeschichten, Paris neben Rom, Moskau, Petersburg, will das Buch aber zuvor wie ein später Flaneur durchstreifen anhand der vielen historischen Fotografien, die wohl größtenteils aus der Zeit um 1900 stammen – sorgfältig auf Mittelachse gestellte Architekturaufnahmen, Plätze, Alleen, Gassen, repräsentative öffentliche und private Gebäude, darunter die Kathedrale Notre-Dame, die Sainte-Chapelle, der Louvre, der Pont des Arts mit dem Institut, der Eiffelturm mit (… in weiter Ferne …) dem Trocadéro zwischen den gespreizten Beinen, das Lycée Henri IV, das Palais Bourbon usf. Die meisten Bilder kommen ganz ohne Menschen aus, die Architektur steht für sich oder für eine Idee oder für staatliche und kirchliche Macht. Die Menschenleere gibt den Ansichten etwas Erhabenes und lässt trotz der Schwere und Gedrängtheit mancher Baukörper viel Freiraum aufkommen. Freiraum wozu? Für wen? Viele dieser Gebäude und Straßenzüge, dieser Plätze und Parks sind so groß angelegt … scheinen darauf angelegt zu sein, die darin sich bewegenden Menschen kleinzumachen, sie zu absorbieren und zum Verschwinden zu bringen. Die von Stahl zusammengetragenen Fotos bestätigen diesen Eindruck. Heute, hundert Jahre danach, ist es umgekehrt. Heute lassen die unaufhaltsamen Ströme der Menschenmassen und des städtischen Verkehrs, die Werbeflächen und die Fliesschriften die historische Architektur weitgehend verschwinden, in Paris wie in Moskau. Wollte man heute in Moskau oder Paris menschenleere Stadtteile fotografieren, müssten weitläufige Abschrankungen errichtet … müssten die Passanten ausgesperrt oder … oder sie müssten aus den Bildern retouchiert werden. Ich selbst frage mich … ich muss mich fragen, weshalb mir die Menschenleere auf den von Fritz Stahl ausgewählten Fotos so entlastend vorkommt, weshalb ich sie geradezu tröstlich finde? Worin besteht das Faszinosum einer Welt mit ohne Menschen? »Mit« und »ohne« in einem. Übrigens: Das schönste Bauwerk der Stadt Paris ist für mich die »Königsbrücke«, der Pont Royal. – Zum Wochenende soll sich die Wetterlage (bei Vollmond!) unter atmosphärischem Hochdruck radikal ändern – Eis und Schnee werden sich innerhalb von Stunden in Schmelzwasser auflösen, es drohen Überschwemmungen, Föhnstürme, was für mich gleichbedeutend ist mit Migräne, Durchfall, Schlaflosigkeit. Desolate Aussichten. Und gleichzeitig wird der vorweihnächtliche Stress in die vorletzte Runde gehen, der heidnische Konsumismus und Warenfetischismus wird unfrohe Urständ feiern, zu Millionen werden Jungtannen abgeholzt, Karpfen und Küken und Kälber abgeschlachtet, allein der Buchstabe K (es könnten auch B oder S sein) signalisiert des Üblen zu viel. Ich werde diese mörderischen Festtage allein verbringen – allein mit Krys und den … und den Lamenti von Vater Bach. – Rainer Werner Fassbinders ›Lili Marleen‹ als Filmklassiker im TV – ungebrochen hält sich der Zauber der Stimmführung, die Fassbinder seinen Darstellern fast durchweg abgewinnt; wieder vermag mich dieses inständig Wegwerfende bei der Schygulla zu faszinieren. Doch ansonsten gerät mir die Reprise zur Enttäuschung. Die vielen offensichtlichen Konzessionen an Hollywood sind ärgerlich und künstlerisch kontraproduktiv. Das harmlos-heroische Finale mit dem szenischen Chiasmus ist nur ein Beispiel dafür: Nachdem Willie Bunterberg bei den Nazis als arische Sängerin Karriere gemacht hat, ihren Ruhm aber nicht über das Kriegsende hinwegretten kann, steht nun ihr inzwischen verheirateter jüdischer Geliebter, der das Dritte Reich einigermaßen schadlos überlebt hat, als Star am Dirigentenpult in der Tonhalle. Hinter den Kulissen erwartet ihn seine Frau und neben ihr nun auch – unbekannterweise – die neugierige Willie, die wohl an die frühere Beziehung anknüpfen möchte. Die Ehefrau des Dirigenten stellt sich nach kurzem Wortwechsel, nichts ahnend, der einstigen Geliebten ihres Mannes vor, worauf diese, im Innersten getroffen, grußlos fortgeht. Durch diese emotionale Verzichtleistung wird die schusslige, dümmliche, erfolgsgeile, stets überforderte und deshalb überall sich anpassende Mitläuferin zur eigentlichen Heldin des hektisch zusammengeschnittenen Films. Fassbinder führt in kaum differenzierter Kontrastmanie vor, wie Willies deutsche Freunde und Kollegen (darunter ihr Pianobegleiter) gegen Kriegsende ins Elend geraten, an die Front, ins KZ, in den Tod geschickt werden, derweil »der Jude« mit seiner Familie jedes Ungemach zu vermeiden weiß – durch Bestechung, Betrug, Irreführung, aber auch durch organisierten Widerstand. Der antisemitische Touch dieses Films macht den Regisseur und die Drehbuchautorin noch lange nicht zu Antisemiten, lässt eher vermuten, dass hier bewusst ein korrigierender Akzent gegen die offizielle bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigung gesetzt wurde. Am schlechtesten bekommt dieses politische Engagement – wie meistens in derartigen Fällen – der Kunst. – Ich besitze noch immer kein Handy, schon gar nicht ein Smartphone, beschränke auch sonst meinen Telefonverkehr auf ein Minimum. Anrufe erhalte ich kaum, meist sind es unerwünschte Werbeanrufe oder belanglose Daseinsbekundungen. Natürlich weiß ich … ich kann beobachten, dass für die Mehrheit dort draußen das Handy längst zu einem unentbehrlichen Schrittmacher geworden ist, halb inneres Organ, halb externe Prothese, so oder anders fast schon verwachsen mit der Hand, mit dem Ohr, nah am Körper getragen – ein elektronisches Stoma. Ich gehöre sicherlich zu den ganz Wenigen … zu den Allerletzten hienieden, die ohne Mobiltelefonie und ohne soziale Medien auskommen; mehr als dies – ich gehöre zu den letzten mitteleuropäischen Quasimohikanern, die unvernetzt ihren Weg machen und dabei keinerlei Defizite verspüren. Die technischen Möglichkeiten des Kommunizierens und Interagierens auf Distanz übersteigen, zumindest im Alltagsbereich, bei weitem alles, was notwendig und nutzbringend sein kann. Wenn ich in der Straßenbahn, im Supermarkt, im Restaurant, im Kraftraum, im Wartezimmer oder auch auf dem Fußgängerstreifen mitzuhören bekomme, wie und worüber sich meine Zeitgenossen gemeinhin am Handy »austauschen«, rufe ich mir hin und wieder den guten alten »Mundfunk« in Erinnerung – das direkte, das frontale Gespräch über Wesentliches, ein Gespräch, bei dem es nicht selten um Leben und Tod geht, jenes Gespräch, das im realen Faschismus Nazideutschlands wie im realen Sowjetkommunismus der Stalinzeit unter akuter persönlicher Gefährdung geführt wurde. Ein solches Gespräch war gekennzeichnet durch Kürze und Klarheit, war ein Versprechen und ein Vertrauensbeweis, fand nur bei höchster Dringlichkeit statt, setzte also eine bedrohliche Ausnahmesituation voraus. »Mundfunk« ist heute naturgemäß nicht mehr angesagt. Nicht dass es keine bedrohlichen Ausnahmesituationen mehr gäbe, aber auch solche Situationen werden längst – im Gefängnis wie in der Klinik, im Iran wie in Syrien oder in der inneren Mongolei – elektronisch und digital bewältigt. Dass eine Geschäfts-, eine Liebesbeziehung per Email, SMS oder Facebook aufgenommen und so auch wieder abgebrochen wird, entspricht in unsern Krisenzeiten fast schon der Normalität. Ich meinerseits halte auf privatem Außenposten gern an einer besondern Form von »Mundfunk« fest, indem ich Krys oder Oya oder Hans oder Farhad (oder wem auch immer) ein Gedicht vorlese – muss kein eigenes sein! Aber anders als via »Mundfunk« geht es eben nicht.

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