Mutters Geburtstag. Vierundneunzig. Ich hole sie zum Essen bei der Coiffeuse ab. Erfahre, was in den bunten Magazinen steht, erfahre, dass mit zunehmendem Alter alles abnimmt und gleichzeitig auch alles zu viel wird. Mutter bestellt den Wochenhit, ich bestelle vegetarisch. Ob ich den Schriftsteller John Knittel kenne? Kenne ich nicht; sie kann ihn nur noch mit der Lupe lesen, aber sie liest ihn, Zeile für Zeile, mit Begeisterung. Auch eine Art von Nachruhm! – Nach migränebedingter Unterbrechung wieder mit Benjamin Fondane zugange; lesen, übersetzen, zum Schreiben reicht’s nicht, obwohl ja nur ein kleiner Essay geplant ist. Abends zum Essen im Nachbarhaus. Ein Dutzend Leute treffen sich am langen Tisch; großzügige Bewirtung, ausschweifender Tratsch. Plötzlich kommt die dreizehnjährige Pauline Vogaux mit dem Vorschlag, dass wir alle nun unser Testament machen und laut sagen sollen, was wir uns wünschen für wenn wir tot sind. Folgt ein abruptes Schweigen, dann großes Gelächter. – Auffallend viele TV-Korrespondenten, Schauspieler, Moderatorinnen, auch oft gezeigte Politiker tragen an auffälliger Stelle im Gesicht vereinzelte Pusteln oder sonstige Male, die offensichtlich nicht überschminkt oder gar entfernt werden, die man vielmehr eigens auszuleuchten scheint und die in Großaufnahme so aussehen, als gehörten sie zur Maske. Ist mir da etwas entgangen? Ist das womöglich ein neuer Trend? Ein Trend zu mehr Nähe und Authentizität, zu mehr Persönlichkeit und human touch? – Bin noch um zwei Uhr früh zu sehr aufgekratzt, um einschlafen zu können. Ich steh wieder auf, zieh mich an, mach eine Runde durch den Klosterbezirk, der sich wie eine unbespielte Bühne mit zerfallenden Kulissen ausnimmt – das Einzige … der Einzige, der sich auf dieser Bühne bewegt, ist mein Schatten, die Laterne hinter mir lässt ihn wie einen riesigen Uhrzeiger in den offenen Hof ragen, und mit jedem meiner Schritte rückt er um einen Tick zur Seite. Bald wird mir zu kalt; zurück im Haus lege ich Holz nach, versuche die Glut im Kamin zu reanimieren. Auf dem Küchentisch liegt noch der Ausdruck des anonymen Portraits aus der Berliner Gemäldegalerie, über das … zu dem ich für eine Katalogpublikation »etwas Literarisches« schreiben soll. Ich setze mich hin, seh mir das ›Bildnis eines jungen Mannes mit schwarzem Barett‹ erstmals genau und aufmerksam genug an, um die folgenden Zeilen zu notieren – ein Gedicht: Was ist der Blick wenn nicht
aaaaaStille. Wenn nicht dreistes trauriges
aaaaaSchweigen. Denn
aaaaawer wie er blickt weigert sich. Steigert sich
aaaaains Unsäglichste. So begriffen
aaaaaist dieses Blicken nichts. Fasst nichts
aaaaaals Glück.
aaaaaDer kürzeste und tiefste Schatten ist der zwischen Maske und
aaaaa… und Gesicht.
aaaaaDer geht nicht mit nackten Augen ins Gemeine.
aaaaaUnd auch von seiner Nacht taugt nur
aaaaawas sie vom Tag hat. Nie
aaaaakein Licht.
aaaaaaaaaaaaaBleibt also der beste Blick der
aaaaadurch die schrägen Maskenschlitze. Und gleich sind
aaaaadie Augen vergessen.
aaaaaSo ist alles viel besser zu sehn. – Um halb vier zu Bett; noch zwei, drei Seiten aus dem ›Hartknopf‹ von Karl Philipp Moritz, dann Licht aus und nichts wie los – doch wohin?
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