20. Dezember

Die Geräuschwelt des Walds ist gegenwärtig auf ein Minimum reduziert – was ich beim Gehen zu hören bekomme, ist das Knirschen der vereisten Schneedecke unter meinen Schritten, hin und wieder das Herabbrechen von Totholz, ein Knacken im starren Gezweig, und irgendwann geht auch mein Atem so laut, dass ich das Schniefen und Pusten mitbekomme. Doch heute, als über Mittag plötzlich die Sonne durch die Wipfel schien und sogar ein Anflug von Wärme spürbar wurde, hörte ich … glaubte ich ein schüchternes Piepsen zu hören, das fast schon einem Zwitschern glich, und gleichzeitig kam von einem der kahlen Tannenstämme ein Klappern, zaghaft zwar, aber doch als ein regelmäßiges Tak-tak-tak. Ich konnte weder den Specht noch die Meisen im Gehölz ausfindig machen, das Piepsen und Klappern wurde durch keinen Augenschein beglaubigt – möglich, dass ich’s vor Ort gehört habe, möglich aber auch, dass es mir ohnehin in den Ohren klang. – Kitschbedürftigkeit scheint am stärksten ausgebildet zu sein bei Kindern, Greisen und Neureichen. Von daher mag sich erklären, dass die großen traditionellen Festivitäten (Weihnacht, Ostern, Hochzeit, Abdankung) in aller Regel zu Apotheosen des schlechten Geschmacks mutieren. Vorweihnachtszeit! Schon vor zwei Monaten hat sie begonnen, jetzt steht das Finale an. Geschäfts- wie Privathäuser sind mit Glimmer überzogen, Schaufenster Tag und Nacht voll ausgeleuchtet, die Einkaufsstraßen mit Leuchtsternen und elektrifizierten Bäumen bestückt – schön! Und wem gefällt die falsche Pracht nicht? Und wen packt kein Horror beim kollektiven Einkaufsrausch, beim Rieseln sanfter Animationsmusik, beim Röcheln und Drängeln um die Sonderangebote oder bei den von drängelnden Kunden belagerten Kassen? Mich! Mir! Ich! – Mozart ahmt den spanischen Erfolgskomponisten Vicente Martín y Soler nach, der seinerzeit europaweit berühmt war und in Madrid, Wien, Petersburg gleichermaßen gefeiert wurde; manche der bei Soler abgekupferten Melodien sind als Ohrwürmer in Mozarts große Opernwerke eingegangen, in den ›Figaro‹, den ›Don Giovanni‹. Gewöhnlich wird ja angenommen, dass sich mindere Künstler von stärkeren Vorbildern beeinflussen oder zu Plagiaten hinreißen lassen. Vielleicht sollte man aber das umgekehrte Verfahren genauso berücksichtigen – die Verwertung schwacher, vielleicht nichtswürdiger, zumeist uneingestandener Vorbilder durch Autoren, die ihrerseits als epochale Vorbilder gelten – Fjodor Dostojewskij als Leser französischer Magazin- und Massenliteratur, Franz Kafka als Liebhaber von Salon-, Damen-, Pornoliteratur, Peter Handke als Apologet eines Hermann Lenz oder Kommissar Maigret. – Bei TV-Mezzo ist rund um die Uhr klassische und moderne E-Musik zu hören. Bewährte Interpreten und junge Stars lösen einander in endlosem Reigen ab, und man staunt … ich staune immer wieder, wie viele Musiker unterschiedlichster Herkunft und aller Altersklassen es gibt, die ihr Instrument auf höchstem Niveau beherrschen. Die Sprache, als Instrument begriffen, scheint schwerer beherrschbar zu sein. Im internationalen Feld der Literatur wird das höchste Niveau – nach meiner Beobachtung – nur ganz selten erreicht; es wird aber offenkundig auch gar nicht erwartet. – Nach meinem kritischen Essay über zeitgenössische erotische Poesie in ›Volltext‹ meldet sich per Post ein mir unbekannter Lyriker und bietet rund ein Dutzend seiner Bücher an, mehrheitlich Pornografie von unsäglicher Trivialität. Da will mich also jemand für eine Art von Literatur interessieren, die ich in meinem Beitrag durchweg ablehnend behandelt habe. Mir wird ja mein strenges kritisches Urteil hin und wieder zum Vorwurf gemacht, aber offenbar bin ich für manche Zeitgenossen noch immer nicht deutlich genug. – Die sogenannten Festtage werfen ihr Geklingel und Geflimmer voraus, alles ist überstrahlt vom fokussierten Kunstlicht, via Internet werden letzte Geschenkideen und Sonderangebote verbreitet, im Postfach häufen sich Einladungen und Prospekte. Und jetzt – heute – auch noch ein Sonntag, vorletzter Advent, vorletzte Chance für den ultimativen Einkauf. Der Konsumismus ist die einzige Kunst, die noch floriert in diesen elenden Tagen. Solche Tage schlage ich der Unzeit zu, die völlig verloren wäre, wenn sie nicht gleichwohl als Notzeit taugte. – Einer kleinen Zeitungsnotiz entnehme ich, dass der schweizerische Gesamtbundesrat spätestens ab Anfang 1942 über den forcierten Bau von Konzentrationslagern, die geplante Endlösung der Judenfrage und generell über die reichsdeutsche Willkürjustiz in Wort und Bild genauestens unterrichtet war. Ich nehme diese Information, die heute erstmals aus dem Archiv der Landesregierung veröffentlicht wird, zur Kenntnis im Wissen, dass zu gleicher Zeit die Einreise von schutz- und asylsuchenden Flüchtlingen aus Deutschland »auf Anordnung aus Bern« noch einmal markant erschwert wurde. Man hat damals – es war mein Geburtsjahr – Tausende von Verfolgten an der Grenze abgefangen und zurückgewiesen: Handlangerdienste für den bereits rotierenden Vernichtungsapparat. Und ich sitze, siebzig Jahre danach, hier am Schreibtisch, arbeite an meiner KZ-Prosa (›Kirilliza‹ oder ›Alias‹?) und frage mich, ob und warum und wozu und wem ich – gerade ich! – so etwas erzählen soll? Als Vorlage für einschlägige Beschreibungen verwende ich einen jüngst erschienenen Fotoband über das KZ Mauthausen-Gusen, der grinsende Totschläger, pralle Offiziersnutten und propere Sturmbann- und Obersturmbannführer mit geschundenen, ausgemergelten, ausgebeuteten Zwangsarbeitern zu einem schauerlichen Totentanz vereint. Das Schauerlichste daran ist, dass hier keineswegs die Schlächter, vielmehr die Opfer wie Monster aussehen. Niemand hat so überzeugend »wie die Deutschen« dargetan, dass die Schlächter gewöhnliche Spießer … das sie ganz normale Spießer sind. Wenn man sich … wenn ich mir die Fotos aus dem KZ vor Augen halte, mir die Kommandanten und Wärter und Helfershelfer ansehe, sehe ich auch nur Menschen, Menschen wie du und ich, Menschen, die beliebig zahlreich für das Vernichtungswerk an ihresgleichen zur Verfügung stehn, und mehr als dies – sie tun’s ohne erkenntlichen Grund, ohne materiellen Gewinn oder sonstigen Vorteil; der Grund ihres Tuns kann also nur Überzeugung oder Spaß sein. Beides, Überzeugung wie Spaß, vermag einzig der Mensch aufzubringen, von daher lassen sich die Verbrecher nicht einfach als »wilde Tiere« oder »blutrünstige Bestien« abtun. Nein. Doch. Der eigentliche Skandal sind wir selbst, die dem Menschengeschlecht und kraft dessen auch der Spezies der Schlächter angehören. Wer kein Mensch ist, kann auch kein Schlächter und Rächer an seinesgleichen sein. Selbst für die Ausrottung von Wäldern und Tieren, die Verwüstung von Landschaften, die Verseuchung von Gewässern, die Vergewaltigung von Artgenossen ist allein der Mensch gut genug. Um über das Menschengeschlecht alles und noch viel mehr zu erfahren, lese man Homer, Lukrez, Ovid; ich für meinen Teil nehme auch ein wenig Sekundärliteratur dazu – die Studien zum menschlichen Aberglauben von Julius Negelein, die mythologischen Kompilationen von Robert Ranke-Graves, die Monografie von Arno Borst über den ›Turmbau von Babel‹ und das Denken der Sprache. – In den Memoiren von Jean Rossi, einem der schwersterprobten und beredtesten Opfer der sowjetischen Konzentrationswelt, stoße ich auf die folgende, freiwillig oder unfreiwillig komische Reminiszenz: Schwere Holzarbeit außerhalb des Lagers, die Häftlinge ausgehungert, am Ende der Kräfte, und in jeder kurzen Arbeitspause die Frage … das Problem … die Entscheidung: Was tun? Wie nutze ich diese paar Minuten optimal zum Überleben? Kurzer Intensivschlaf? Brotration aufessen? Scheißen gehen? Nach einer dieser Pausen wird einer der Häftlinge, ein Russe, den alle Iwan nennen und der zu Rossis Vertrauten gehört, als abgängig gemeldet. Ob er sich versteckt hat? Ausgerissen ist? Aber wohin denn in diesem unbevölkerten Landstrich! Wozu? Der Gruppenführer beauftragt Rossi, Iwan zu suchen und zurückzubringen, »lebendig oder tot«. Rossi sieht sich im nahgelegenen Waldstück um, jedes Knacken im Unterholz lässt ihn herumfahren, die Richtung wechseln, und plötzlich erkennt er weiter weg im Gehölz zwischen den Stämmen ein großes blasses Gesicht, ruft Iwans Namen in den Wald, bleibt aber ohne Antwort. Nun nähert sich Rossi dem hellen schimmernden Rund und sieht mit jedem Schritt deutlicher, dass ihn da jemand aus einem Auge unverwandt und stumm anstarrt; er geht noch näher hin und begreift nun, es ist ein Arsch mit dem verschmierten Loch in der Mitte, es ist sein Freund Iwan, der sich rittlings über die beiden daliegenden Baumstämme gehockt hat, um seine Notdurft zu verrichten. Dabei ist er vor Müdigkeit und Elend wohl eingeschlafen … ist einfach vornüber gekippt und eingeschlafen, womöglich erfroren, schon tot? Rossi weckt den Freund mit einem Faustschlag auf, gemeinsam suchen sie, immer wieder in wieherndes Gelächter ausbrechend, den Weg durchs Dickicht zurück zur Arbeitsbrigade. – Die harsche Kälte ist vorbei, der Schnee bis auf ein paar wenige verdreckte Häufchen weggeschmolzen, Weihnacht wird voraussichtlich grün sein. Der Wetterwechsel bekommt mir schlecht, Hirn und Darm sind deroutiert, drehen trotz meiner bleiernen Müdigkeit durch. An Arbeit ist nicht zu denken, auch den täglichen Rundgang im Wald lasse ich heute aus. Lege mich am frühen Nachmittag hin, schlafe augenblicklich ein, verschlafe mit einem langen unguten Traum bis gegen fünf Uhr abends. Die Wohnung liegt im Dunkeln, draußen ist schon Nacht.

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