22. Juli

Siebenundachtzig Menschen, meist Jugendliche, sind in Norwegen von einem Einzeltäter mit Bomben und Schusswaffen getötet worden. Breaking news mit sogenannten Terrorexperten, die – alle – sofort auf islamistische Täterschaft schließen. Als Täter stellt sich nun aber ein gut aussehender zweiunddreißigjähriger norwegischer Wikinger mit fundamentalistisch-christlichem Hintergrund heraus. Der Mann soll in englischer Sprache ein anderthalbtausend Seiten starkes Manifest in der Art von ›Mein Kampf‹ verfasst haben, in dem er sich selbst als das größte Nazimonster seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Als Einzelner, so gesteht der Täter, habe er eine Tat vollbringen wollen, für die es sonst Hunderttausende brauche, doch ihm entging dabei der implizite Widerspruch, dass er – um gegen die Islamisierung und Überfremdung Norwegens zu protestieren – seine eigenen Landsleute zu Opfern machte und damit dem »weißen Norwegen« Schaden zufügte, und nicht den Gegnern – den Fremden, den Andern, den Wanderern –, die er doch eigentlich treffen wollte. Mehr als die ideologische Motivierung des Massenmords beschäftigt mich eine andere, dadurch nun neu angeregte Frage. Es gibt hier zwar einen Einzeltäter, mithin einen persönlich Schuldigen, und doch wirkt die Tat … wirkt sich die Tat insgesamt wie ein Schicksalsschlag oder eine Naturkatastrophe aus. Keines seiner Opfer hat der Mörder gekannt, alle sind stellvertretend und exemplarisch gestorben für eine fixe Idee, keiner der Toten war als Individuum mit seinem jeweiligen Namen, Geburtsjahr, Wohnort gemeint. Darf man aber von Zufall sprechen? Von Schicksal? Und wären Schicksal und Zufall, von denen die Opfer dieses kollektiven Mords betroffen waren, vergleichbar mit einem zufälligen Erdrutsch oder einem schicksalhaften Flugzeugabsturz und einer ähnlichen Anzahl von Todesopfern? Falls man die Tat selbst als Auslöser für die zufälligen oder schicksalhaften Todesfälle annimmt, hätte der Vergleich – aus der Opferperspektive – seine Richtigkeit. Denn die Absurdität eines Tods durch nicht individualisierte Gewaltanwendung entspricht der Absurdität des Tods in einer Naturkatastrophe oder in einer Massenkarambolage. Was sollte nun daraus zu lernen sein? Außer dass ein einzelner Mensch durch unberechenbares und amoralisches Verhalten auf ähnliche Weise Schicksal spielen kann wie die Natur oder der Zufall? Oder Gott? – Wieder eine Tropennacht, einundzwanzig Grad um acht Uhr früh, gefolgt von rüstiger (rustique) Sommerhitze. Ich habe meine Korrespondenz erledigt, bin dabei, eine Farbkopie für Krys auszudrucken, stelle fest – der Inkjet entlässt ein völlig verschmiertes … ein wie von frischem Blut verschmiertes Blatt, das ich nun tatsächlich triefend in der Hand halte. Erneut ein Defekt? Ich prüfe den Farbstand, er ist in Ordnung. Ich prüfe die Cartridge, auf dem kleinen runden Filter hat sich eine Farbblase gebildet; ich wische sie ab, versuche es nochmals, und wieder – der Dreckeffekt. Also wechsle ich die Patrone aus, diesmal ist nach dem Druck zumindest das Bild zu erkennen, aber es hat auch jetzt einen deutlichen Rotstich. Durchs geschlossene Fenster fällt das intensive Julilicht direkt auf den Drucker. Ja. Jetzt wird mir klar, dass die anhaltende Hitze die Druckfarbe aufgeweicht und verdünnt haben muss. Doch warum ist nur Rot davon betroffen? Ausgerechnet Rot? Ohnehin die heißeste der Farben! – Die Nachlassbände von Robert Musil zum ›Mann ohne Eigenschaften‹ sind einerseits horrend voluminös, anderseits sind in der Ausgabe von Rowohlt Hunderte von Seiten in Petit gedruckt, was zu einem noch mühsameren Durchgang zwingt. Gelohnt hat sich der Durchgang allemal. Die Lektüre war für mich ungemein anregend, auch aufregend, ein Trost geradezu in dieser dürftigen Zeit, die Autoren dieses Formats längst nicht mehr kennt und auch nicht mehr braucht. – Bei Johann Wolfgang von Goethe schätze ich vor allem seine Beschreibungsprosa … die Beschreibung der Straßburger Domfassade, die Beschreibung des Gneisgesteins in den geologischen Schriften. Zur Zeit lese ich – mit dem Rücken an die warme Außenwand des Pavillons gelehnt – Goethes ›Sprüche‹ in der Neuausgabe des Deutschen Klassikerverlags; in diesen Sprüchen, einst als Maximen und Reflexionen rubriziert, behauptet sich ein behäbiges, primär definitorisches Denken, das gleichsam gravierte Gewissheiten … gravitätische Wahrheiten in Worte fasst. Das Meiste, was hier zur Sprache gebracht wird, liegt auf der Hand, versteht sich von selbst, ist oft gar trivial, gewinnt aber in seiner autoritativen Diktion etwas Erhabenes. Mich berührt’s nur selten, schon gar nicht bewegt es mich; durchaus geeignet sind die ›Sprüche‹ aber zum Zitieren: »Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann.« – »Alles Lyrische muss im Ganzen sehr vernünftig, im Einzelnen ein bisschen unvernünftig sein.« – »Man muss sein Glaubensbekenntnis von Zeit zu Zeit wiederholen – aussprechen, was man billigt, was man verdammt …« – »Zur Methode wird nur der getrieben, dem die Empirie lästig wird.« – »Wenn einem Autor ein Lexikon nachkommen kann, so taugt er nichts.« – »Wenn die Kerls was zu sagen hätten, würden sie nicht an die Sprache denken.« Usf. – Gut und recht; doch wo immer alles … wo immer das Allgemeine gemeint ist und behauptet wird, bleibt das Besondere zu oft auf der Strecke. – Mag ja sein, ist gar wahrscheinlich, dass meine Optik in Bezug auf Goethes ›Sprüche‹ etwas gestört ist durch meine derzeitige Beschäftigung mit eigenen poetischen Sentenzen (Monosticha), die ich unterm Arbeitstitel ›Nee die Ideen‹ zusammentrage – da muss man sich … ich muss mich wohl vor Fremdeinflüssen schützen. – Das Ableben von Karl Philipp Moritz kann ich – eine anrührende Erfahrung! – gleichsam synchron mitverfolgen anhand des Sterbeberichts seines Hausarztes. Das ist eine seitenlange, sehr exakte, dabei stets respektvolle Deskription aller Regungen, Symptome, Aussagen des Sterbenden, ein wundersamer Text, in dem sich Abstruses und Erhabenes ganz selbstverständlich – wie in einem Traum, wie in einem Stück fantastischer Literatur – verbinden. Heute wird sich kein Arzt mehr für Stunden oder Tage an einem Sterbebett niederlassen, um seinen Patienten in den Tod zu begleiten und darüber auch noch Buch zu führen. Ich selbst bin längst nicht mehr der Patient eines (oder gar meines) Arztes … ich bin einer von unzähligen Patienten des Gesundheitswesens, eine elfstellige Ziffer in einem europäischen Forschungsprogramm – irgendjemand wird, wenn ich gestorben bin, an meine Halsschlagader greifen und auf dem Sterbeprotokoll den »natürlichen« oder »unnatürlichen« Tod ankreuzen. – Die Träume werden immer weitläufiger, dabei aber keineswegs lockerer oder sprunghafter, vielmehr verdichten sie sich, führen zahllose Gegenstände, Ortsansichten, Namen, Zahlen und ständig wechselndes Personal mit und lassen wie ein Kaleidoskop unablässig alles durcheinander purzeln, sich gegenseitig verbinden oder abstoßen. Ich bin schon nicht mehr in der Lage, derart komplexe Traumbilder und Traumerfahrungen aufzuschreiben – es käme mir vor, als müsste ich täglich die Erlebnisse, Begegnungen, Beobachtungen einer ganzen Woche festhalten. Der Faktenreichtum meiner Träume mag ein Grund dafür sein, dass ich jeweils im Rückblick darauf das Gefühl habe, sehr lange in jener Welt zugange gewesen zu sein, und zwar unabhängig … abgekoppelt von meiner realen Lebenszeit, die durch die Traumzeit nicht berührt, sondern auf einer ganz andern Bewusstseins- und Erfahrungsebene ergänzt wird. Jeder dieser Träume ist für mich ein Gewinn an Erlebniszeit, die von der Uhrzeit abgekoppelt ist und sich in einer eigenen zeiträumlichen Dimension entfaltet. So gesehen … so verstanden müsste ich, Erlebniszeit und Traumzeit hochrechnend, weit über hundert Jahre alt sein – alt! Johann Wolfgang von Goethe hat einst Rom als eine Stadt beschrieben, die außer von den Römern auch von Tausenden von Statuen bevölkert sei – nebst der realen Welt gebe es dort »noch eine Welt des Wahns, viel mächtiger beinahe, in der die meisten leben«. So ähnlich geht’s mir selbst in und zwischen den Parellelwelten von Wirklichkeit und Traum.

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