24. Januar

Bin spät nachts in Zürich angekommen, ab Autobahn durch menschenleere Straßen, hin und wieder ein Taxi, eine Polizeistreife; die Ampeln sind in Betrieb, drei-, viermal steh ich minutenlang bei Rot vor einer unbefahrenen Kreuzung – was wird da geregelt? Mein Schwachsinn? Mein Wachsein? Meine Geduld? Meine Ungeduld? Es wird geregelt, was hier und jetzt keiner Regelung bedarf. Leerlauf als administratives Prinzip. – Hier und jetzt geht es um die andere Prosa: putzen, waschen, einkaufen, einzahlen, Post abholen, Geld abheben usf. – Im Internet das jüngste »Mahnwort« des Bischofs von Chur: »Nicht erlaubt sind insbesondere die Verwendung von Dialektfassungen liturgischer Texte sowie Äußerungen gegen die Lehre der Kirche und gegen deren Hierarchie. Gefordert sind Bekenntnis zur realen Gegenwart Christi im Stand der Gnade und einstündiger Abstand von Speise und Trank.« Und weiter? Weiter mit ›Alias‹, das Schreiben wird allmählich interessanter, ergiebiger, bringt immer wieder Neues ins Konzept, Ungeplantes, oft Überraschendes. Die körperliche Dynamik der Schreibbewegung regt den spontanen Einfall von Ideen, Assoziationen, Reminiszenzen an. – Nachmittägliche Schreibpause mit einem flüchtigen TV-Zapping; auf RTL eine Live-Reportage über »Statistenschicksale« – Leute, die ihren Lebensunterhalt oder einen Teil davon als Statisten bei Filmaufnahmen erarbeiten, geben Auskunft über den Job auf dem Set. Ein Mann mittleren Alters, seit Jahren in der Komparserie tätig, sagt etwa dies: »Wir Statisten sind meistens große Individualisten mit einer großen Liebe zum Film, zum Fernsehen.« Eine junge Frau, die unter anderm beiläufig als Obdachlose, Fabrikarbeiterin, Prostituierte, Arztgehilfin, Verkehrspolizistin aufgetreten ist, meint: »Es ist das Statistenschicksal und ganz normal, dass man im fertigen Film oder Werbespot kaum zu erkennen ist oder vielleicht bloß von hinten. Oder man wird rausgeschnitten. « Statistenschicksal, Menschenschicksal. – Der Briefwechsel Adorno/Kracauer erweist sich inhaltlich als unergiebig; Adorno als quengelnder Schulmeister, Kracauer als rechthaberischer Freund, beide endlos geil aufs Publizieren, auf Erfolg. Alles andere tritt dahinter zurück, selbst Krankheiten, Todesfälle, Verfolgung; von Hitler und vom Krieg und von der Judenverfolgung in Deutschland ist nur nebenbei, nie grundsätzlich die Rede. Bemerkenswert ist allerdings die rhetorische Qualität des Briefwechsels, noch das Banalste kommt in stark gebauten Sätzen daher, und eben dies macht die Banalität vollkommen. – Bei Krys zu einem kalten Abendmahl, sie hat bei Fabiello eingekauft, die Session fügt sich zu einem guten Gespräch – wir reden über ihr aktuelles Theaterprojekt zum Thema … zum Phänomen des freiwilligen, unangekündigten, scheinbar grundlosen, aber definitiven Verschwindens von Menschen wie du und ich (deren es jährlich, allein in der Schweiz, Hunderte gibt); ich lese ihr diese Passage aus dem entstehenden Roman vor: »Ich stellte fest … ich glaubte festzustellen, dass der Straßenverkehr nun ruckartig zum Stehen kam und dass gleichzeitig eine strenge Stille eintrat. Die Stille nahm plötzlich ganz langsam die Form einer gewaltigen Pyramide an, die gewichtslos auf ihrer Spitze im endlos blauen Raum stand. Die Pyramide schwebte stehend im Gleichgewicht, sie wurde zu meinem jüngsten Tag, sie nahm mir jede Erinnerung weg und aber auch jeden Gedanken an morgen. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen früher und später. Weder Geschichte noch Logik. Keine guten und keine unzureichenden Gründe. Statt dessen eine göttliche Gleichgültigkeit oder auch bloß das klare Bewusstsein, dass alles Mögliche die so genannte Wirklichkeit gleichwertig ausmacht. Für Sekundenbruchteile, die mir wie Lichtjahre vorkamen, Raum und Zeit zugleich, war ich eine unzusammenhängende, dennoch gebündelte Vielfalt, vereinigt mit mir selbst und mit allem andern auch. Ich könnte auch sagen, ich war ganz Auge. Ganz Auge zu sein, das heißt, es gibt den Horizont nicht mehr und auch nicht den Fluchtpunkt, auf den alles hinausläuft, der alles mitreißt ins Verschwinden. Nein. Die Perspektive hatte sich in diesem einen, endlos dauernden Moment umgekehrt, und der Fluchtpunkt lag jetzt in mir, fiel mit meinem Auge zusammen, ließ alles um mich herum winzig und vereinzelt erscheinen. Doch je weiter dies oder das von mir entfernt war, entfernt zu sein schien, desto größer wurde es an Umfang. Riesig ragte das Entfernteste vor mir auf, neben mir, rundherum. Alles, ob dort oder hier, war ein Gleiches. War gleichermaßen vorhanden und gleichermaßen gültig. Ich dachte oder fühlte und hoffte jedenfalls oder wusste bereits, dass ich in diesem Augenblick sterben würde. Ich wusste es so sicher, ich war dagegen so ohnmächtig, dass ich’s laut hinausgeschrien haben muss. Ich sterbe … ich schterwa! Aber wieso und wozu spreche ich das vor einem Therapeuten aus? Was sollte ein Psychologe oder ein Sozialarbeiter oder ein Strafrichter damit anfangen können? Tut mir leid. Ich bin das Opfer, und als Opfer bin ich ein schlechter Zeuge. Ich war nur so lange dabei, bis nach irgendeinem der Schläge und Tritte mein Bewusstsein ausging und es schwarz wurde um mich herum und in mir drin. Ich erwartete, dass nun gleich jener Film anlaufen sollte, der mir mein langes, ziemlich fruchtloses … ziemlich unmögliches Leben noch einmal vom Ende bis zu seinem Beginn vorführen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Das Leben, das meins gewesen war und meins sein würde, hielt einfach inne, war für diesmal und für immer auf den Punkt gebracht, und ich würde niemals sterben können, wie man’s gewohnt ist, und niemals erfahren, dass ich tot bin. Sterbend − nur so kann ich’s sagen − lebte ich aus, was ich zuvor versäumt oder verfehlt hatte, erlebte ich, was mir aus Unvermögen, aus Verzagtheit, aus Verzweiflung versagt und auch erspart geblieben war. Alles Mögliche … nur das Mögliche gehörte in diesem zeitfernen Moment der Wirklichkeit an, und es brauchte keinerlei Anstrengung, all das Mögliche auch wirklich zuzulassen.« Um ein Uhr fahre ich Krys nach Haus, sie muss morgen … sie muss heute früh um sechs auf den Zug, will gegen Mittag in München ihre Kostümbildnerin treffen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00