28. Dezember

Herr Kopf! Herr Leib! Wie lang werden die beiden sich bei mir – in mir – noch vertragen? Fragen wir doch Emilie Teste! Oder nein – jeder kann’s wissen: Leib und Kopf sind Liebende, ewig Enttäuschte, Weltabgewandte, die nie zusammenfinden, nie harmonieren, nie sich verständigen können. »Man möchte sagen «, sagt Frau Teste, »dass sie ihre gegenseitige Entferntheit aufsuchen, um sich nur ja nie zu finden.« Liebe eben. Leiblichkeit und Geistigkeit im Clinch. – So desolat wie heute sehe ich meine hiesige Umgebung selten. Schnee und Eis sind fast vollständig weggeschmolzen, der Matsch zerrinnt bei zwei bis drei Grad über Null zu einer kalten Brühe, die sich, stur der Schwerkraft nach, als leicht gekräuselter Film schräg durch die Gassen bewegt. Alles ist in einheitlichem Grau befangen, und das Grau wird schwarz durchgestrichen … wird in allen Richtungen vielfach durchgestrichen, wird durchkreuzt vom nackten schwarzen Geäst der skelettartigen Bäume und von den schiefen Notenlinien der Leitungsdrähte. – Da hier vor Ort sowohl die Bäckerei wie auch der Krämerladen geschlossen ist, geh ich zum Einkaufen zu Fuß durch die Ebene von Le Praël nach Croy. Mitten im Dorf – im Unterschied zu Romainmôtier betreibt Croy vorwiegend Landwirtschaft – ist das Lädelchen in einem Privathaus untergebracht. Über eine aus Holz gezimmerte Rampe erreicht man die Tür, die früher ein Fenster gewesen sein muss und jetzt als Eingang dient. Ich trete ein, über mir klingeln ein paar Glöckchen, ich befinde mich … ich finde mich um fünfzig, sechzig Jahre zurückversetzt, stehe inmitten eines Tohuwabohus von Ramschware und Lebensmitteln, die hier nicht sortiert und ausgelegt, sondern einfach aufgehäuft sind, bunte Reißverschlüsse neben Briefumschlägen, Hosenträger neben Ziegenkäse, Dosenbier neben Kondompackungen, Zigarettenschachteln neben Konservendosen aller Art, Thun, Erbsen, Apfelmus, Ravioli, beliebig viele Weihnachtskarten mit aufgesprühtem Glitzersand, Werkzeuge für den Hausgebrauch, Nähgarn in vielen Farben auf Holzspulen, Tampons, Taschenlampen, riesige Seifenstücke mit stempelartig hervorstehenden Ziffern und Buchstaben, Häkeldecken, schlaffes Suppengemüse in durchsichtigen Tüten, Glühbirnen, Hustenbonbons, dazu die übliche abgepackte Ware von Nestlé, Knorr, Leisi, Emy, Maggi, Bischofszell. Auch der Geruch da drin scheint ein halbes Jahrhundert überdauert zu haben, ebenso die Verkäuferin, sie ist um die fünfzig, trägt einen dicken handgestrickten Pullover mit Rollkragen bis zu den Ohren, Stiefel bis über die Knie, eine Wollmütze bis auf die Brauen herab. Eine freundliche wortkarge Frau. Neben der Kasse, einem rasselnden Modell aus Zinn oder Gusseisen mit Handkurbel, hat sie eine moderne Espressomaschine stehen. Nach dem Zahlen und Einpacken lasse ich mir einen Kaffee brauen, lese die daliegende Gratiszeitung. Verabschiede mich schließlich »auf bald«, werde sicherlich wiederkommen … lieber hierher kommen als nach Orbe zum Supermarkt zu fahren, der mich mit seinem sterilen Überangebot und der säuselnden Begleitmusik noch jedes Mal in Atemnot bringt. – Vermischte Nachrichten, Tratsch, Gerüchte, Kolportagen ziehe ich irgendwelchen Expertenberichten über die soziale, psychische, bildungsmäßige, gesundheitliche, berufliche Situation des »heutigen Menschen« vor. Heute lese ich im Internet unterm Titel ›Sie starb den Tod eines andern‹ von einer zweiundzwanzigjährigen Engländerin, die wegen eines angeborenen Lungendefekts lange Zeit auf ein Ersatzorgan gewartet, es schließlich erhalten hat und nun, wenige Monate danach, daran gestorben ist. Man hatte ihr die Lunge eines Rauchers eingepflanzt, die offenbar bereits vom Krebs befallen war und nun den Organismus der Empfängerin mit Metastasen überzog. Die Frau war nicht zu retten. Nie hatte sie normal atmen können, für sie war die Transplantation die letzte Hoffnung auf ein einigermaßen erträgliches Leben. Über die Erfüllung dieser Hoffnung hat sie sich nur kurz freuen können, nun ist sie der Hybris und dem Zynismus der Schulmedizin erlegen. Ein solcher Fall … ein Einzelfall wie dieser veranschaulicht die blinde Brutalität des Zufalls ebenso unabweisbar wie die Willkür der Vorsehung, für die – sollte es sie denn geben – alles gleichermaßen gültig und … oder gleichermaßen unerheblich ist. »So fuhrwerkt das Leben!«, würde meine Mutter dazu sagen; eine schlimmeres Verdikt gibt’s nicht. – In den Tage- und Notizbüchern deutschsprachiger Zeitgenossen (Sloterdijk, Waldenfels, Raddatz, Nizon u. a. m.) kommt die Natur – als Landschaft, Lebensraum, Witterung, Leibgefühl – so gut wie nicht vor; eine Ausnahme macht diesbezüglich Peter Handke, der sich konsequent als Wald- und Berggänger, als Pfadfinder, Pilzsucher, Weltenbummler und Stadtnomade geriert, und dessen punktuelle Naturbeschreibungen zu den besten … zu den unverwechselbarsten Momenten seiner Schreibarbeit gehören. »Der Schnee blieb zuerst liegen auf dem Grasmittelstreifen, als lägen da Birkenstämme auf dem Weg, einer hinter dem andern, so fortgesetzt bis zum Horizont. In einem stachligen Busch wurden die einzelnen Kristalle auf die Dornen gespießt und umgaben dann diese wie Halskrausen. Obwohl außer ihm kein Mensch unterwegs war, schien er mit jedem Schritt in die Spur eines, der da schon gegangen war, zu treten. Hier … » Bei Ulrich Schacht dominiert nicht die Gewöhnlichkeit, nicht die Unscheinbarkeit der Natur, sondern deren Ereignishaftigkeit; so kann denn auch – in den Notaten ›Über Schnee und Geschichte‹ – die Rettung und Wiederbelebung einer abgewelkten Rose zu einem geradezu sensationellen Geschehen werden, zu einem glückhaften Schock, der den Tag zum Fest macht. – Alles, was der Traum will, ist – mit dem Träumer zu schlafen. – Ich bin Teil einer großen Festgemeinde, befinde mich mit lauter Ehemaligen in einem weitläufigen Saal, der sich auf verschiedenen Ebenen zu immer wieder andern Räumen öffnet. Die Stimmung ist gut, die Beleuchtung viel zu hell, das Mobiliar – alles in naturbelassenem, lieblos gedrechseltem und geschnitztem Holz – wirkt auf gemütliche Weise provinziell. Die Gäste fühlen sich offensichtlich wohl, haben Gürtel, Kragen, Haare geöffnet, lehnen sich mit gespreizten Beinen zurück, klatschen sich gegenseitig auf die Schulter oder die Knie, scherzen, lachen. Ich weiß, dass nun bald der Programmteil beginnt. Ich gehöre zu denen, die einen Auftritt zu absolvieren haben, weiß aber nicht, wann ich an der Reihe bin und was ich vor dieser mir völlig fremden Gesellschaft darbieten sollte. Nachdem nun bereits ein Bänkelsänger, eine Jodlerin im Trachtenkostüm, ein Jongleur, eine Schlangenfrau, ein Heldentenor aufgetreten sind, winkt mir plötzlich einer von den Gästen zu, ich solle mich – hopp! hopp! – dort drüben aufs Podium stellen und meine »Nummer abziehen«. Werde ich dem Vergleich mit den Vorgängern standhalten? Auf dem zerknüllten Papier, das ich in der feuchten Faust halte, habe ich zwei römisch nummerierte Strophen handschriftlich mit Bleistift aufgeschrieben, die ich eigentlich hier nicht vortragen möchte und die ich eigentlich auch gar nicht vortragen kann, weil mir die eigene Schrift fremd geworden ist. Ich vermag meinen Text nicht zu entziffern. Die Buchstaben erinnern an hebräische und armenische Schriftzeichen, beides durcheinander, ich werde das nicht vorlesen und beginne nun, auf dem Podium angekommen und vorab mit einer gewollten Pause das Schweigen des lustigen Publikums erzwingend, meine Strophen zu summen. Doch bereits haben sich die Köpfe im Saal einem andern Podium zugewandt. Ich fühle mich entlastet und richte den Blick in die gleiche Richtung, wo grade eben in einem Sperrholzgehäuse … in einem als Marionettentheater zurechtgezimmerten Gehäuse eine wunderschöne lebendige Puppe zu sehen ist – ein originalgroßes Mädchen in rotem, mit Pailletten besetztem Schwimmanzug schwebt hinter dem Sperrholzrahmen, sie schwebt hin und her, auf und ab und … aber Fäden sind nicht zu sehen, Halte- und Führungsfäden gibt es nicht, braucht sie nicht. Nun fliegt sie mit einem kleinen Ruck noch ein wenig höher, und man sieht, dass sie an beiden Beinen amputiert ist – links fehlt vom Knie an der Unterschenkel, rechts hat sie nur noch einen Stummel vom Oberschenkel. Die nackten, an der Schnittstelle vollkommen gerundeten Restglieder lassen an Verstümmelung überhaupt nicht denken, sie sind von makelloser Schönheit, schön geformt, schön gebräunt, schön beweglich. Herrliche Haut! Welche Tiefe! Das Mädchen scheint sich in keiner Weise behindert zu fühlen, und dem Murmeln im Saal entnehme ich, dass die junge Invalide ein »aufkommender Stern am Literaturhimmel« ist. Ich selbst habe bislang nichts von dieser Autorin gehört. Als Reaktion auf meinen fragenden Blick reicht mir einer der unbekannten Gäste ein Zeitschriftenheft mit ihrer ersten großen, angeblich sensationellen Veröffentlichung, »es sind Gedichte in mindestens elf Sprachen«. Die junge Frau steigt ohne fremde Hilfe von der Bühne, bewegt sich völlig frei und selbständig mit eleganten Krücken durch ihr Publikum, das sich nun zur standing ovation erhoben hat. Im Vorübergehen spricht sie mich an, lädt mich zur Sitzung ein, wir sollten über unsere künftige Zusammenarbeit und das nächste gemeinsame Projekt reden. Das Treffen des Komitees findet in einem kürzlich renovierten, noch vom Duft der frischen Farbe durchwehten Seminarraum der Universität statt. Als ich ankomme, ist ein älterer Herr gerade dabei, den Raum zu lüften, er hat zwei Fenster geöffnet, die Gardinen wehen wie hängende Flügel in der hereinziehenden Luft. Der Unbekannte seufzt, er sagt, er sei überhaupt nicht berufen … er sei gar nicht in der Lage, unser Komitee zu präsidieren, er beherrsche all diese Sprachen nicht, habe außerdem soviel anderes zu tun, dass er auch zeitlich nicht zur Verfügung stehen könne. Ob nicht ich den Vorsitz übernehmen würde? Würden vielleicht Sie den Vorsitz übernehmen? Ich! Aber ich muss doch in drei Wochen meinen Habilitationsvortrag halten, muss mich auf die Verteidigung meiner These vorbereiten, kann unmöglich darüber hinaus noch andere Verpflichtungen übernehmen. Die schöne Autorin trifft mit einiger Verspätung ein, andere Komiteemitglieder folgen, der Raum füllt sich, wir sitzen nun alle an dem langen ellipsenförmigen Tisch. Die Autorin gibt ihr Zeitschriftenheft in Zirkulation, wir sollen anhand der Texte ihr Potential ermessen, abschätzen, vergleichen. Aber womit? Das Mädchen, sie ist heute von krähenblauen Schleiern umweht und bewegt sich mit Hilfe eines lautlos schwebenden Helikopters, ist ohne Vergleich. Und ich bin es auch. Allein meine Fehler unterscheiden mich. – In einem exzellent gestalteten Buchwerk legt Anselm Kiefer – fulminanter Maler und Plastiker, subtiler Leser und Denker – den ersten Band seiner ›Notizbücher‹ vor, eine Sammlung von teils handschriftlichen, teils elektronischen Aufzeichnungen aus den Jahren 1998 und 1999. Es sind ebenso karge wie prägnante Texte, mit denen Kiefer in dezidiert unzeitgemäßer Manier – stets auf Genauigkeit, auf Objektivität, auf Ernsthaftigkeit bedacht – festhält und zu begreifen versucht, was ihm bei der Arbeit, auf Reisen, im Museum, bei der Lektüre, im Alltag fragwürdig wird. Der Befragung würdig sind ihm vor allem Bilder und Mythen, Landschaften und Stimmungen, aber auch Tiere, Pflanzen, Farben, Klänge oder einzelne Wörter, die sich seiner hochempfindlichen synästhetischen Wahrnehmung darbieten. Selbst sein Laptop und der digitalisierte Akt des Schreibens werden zum Gegenstand tiefgründiger Meditation. Vorrangig allerdings bleibt sein Interesse auf naturhafte Gegebenheiten gerichtet, auf Erde, Sand, Stein, Blei, auf Wasser, Wind, Licht, Temperatur, auch auf elementare Erfahrungen wie das Entscheiden und das Wählen, das Warten oder das Vergessen. Konsequent verzichtet Kiefer in seinen Notaten nicht nur auf modische Jargonismen und unergiebiges Namedropping, er meidet auch den heute weithin praktizierten, oft ins Unverbindliche ausfransenden Ich-Diskurs, dem er bewusst die neutrale Rede mit »man« oder den verkappten Monolog mit einem »Du« in der Subjektposition entgegensetzt. Als diskrete Partner von Anselm Kiefers Denken gewinnen Artaud, Celan und Ingeborg Bachmann durch wiederkehrende Anspielungen oder Zitate besondere Präsenz. »Dass man überhaupt eine Ahnung hat von dem, was man nicht weiß« – dazu trägt Kiefer als Künstler wie als philosophierender Schriftsteller »Gewichtiges« bei: Die »Notizbücher« bilden ein gleichrangiges Pendant zu seinen skulpturalen Buchwerken aus Blei. – Jahresende: Bilanzen, Rückblicke, Ratings – in den USA eine Umfrage nach den zehn bedeutendsten Menschen des Jahres: Nebst neun illustren Zeitgenossen schafft es auch ein Hund auf die Liste; recht so. – Das ist mir seit Jahren nicht passiert – der gesamte heutige PC-Text ist aufgrund eines Fehlklicks gelöscht. Zwei schöne dichte Texte über Glück und Mensch. Weiß nun nicht, ob ich das noch einmal hinbekomme. Noch mehr vertane Lebenszeit.

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