Bin zurück von der Ochsentour mit Cantieni, Florescu, Stamm und den andern Buchpreiskandidaten. Seltsame Erfahrung: Bei allen Lesungen die gleichen Textauszüge zu hören. Ich bin der Einzige, der jedes Mal etwas anderes vorträgt, der einzige auch, der – mit ›Alias oder das wahre Leben‹ – einen geschriebenen Text in die Konkurrenz einbringt, derweil die Kollegen in emphatischem Tonfall erzählen, was sie aus eigenem Erleben und Erinnern oder wenigstens vom Hörensagen wissen. Eigentlich sind das Nacherzählungen von Geschichten, die das Leben schrieb, Nacherzählungen, die beim Vorlesen zu mehr oder minder unterhaltsamen Plaudereien mutieren. Mundgerechte Prosa dieser Art entspricht dem aktuellen Trend. Ich kann mich da nicht einbringen, bleibe hinter den Erwartungen entweder zurück oder übertreffe sie in verwirrlicher Weise; bin also bestenfalls ein Alibikandidat und faktisch bereits aus der Konkurrenz ausgeschieden. Habe in den drei, vier Hotelnächten Lukrez und Sainte-Beuve gelesen, dazu ein paar Essays des unvergleichlichen Georg Simmel; die Neuerscheinungen von Nizon und Handke, die ich im Gepäck hatte, ließ ich auf der kurzen Bahnfahrt von Düsseldorf nach Köln im Abteil liegen. – Am Rand der Wiese mache ich Halt, schaue hinüber zu den Kühen – vier Tiere, die mit geiferndem Maul Kraut und Moos zupfen, während gleichzeitig ihre riesigen Kiefer mahlen; alle heben sie nun gleichzeitig den schweren Kopf und wenden ihn sehr langsam zu mir hin, unter den filzigen Stirnen stehn die Kulleraugen, die wie blind auf mich gerichtet sind, völlig reglos starren oder staunen sie mich an, derweil ich selber staune und starre; und sobald ich mich um einen Schritt wegbewege, lassen sie ihre Köpfe wieder nach unten ins Gras sinken und fahren, als wäre nichts gewesen, mit dem Kauen fort. – Stéphane Mallarmé könnte mein Urahn sein, er ist mir fremd und fern genug, dass ich ihn als einen Verwandten begreifen und ihn dennoch bewundern kann. Mallarmé bleibt mein Vorbild, weil mir klar ist, dass ich sein Können … das ich seine Kunst nie erreichen werde. So fühle ich mich ihm und seinem Werk gegenüber frei. Anders ist mein Verhältnis zu Paul Valéry. Valéry steht mir zu nah … Valéry stehe ich zu nah, um ihn als einen Verwandten akzeptieren zu können. Was er kann, würde ich mir selbst auch zutrauen – es ist mir tatsächlich vertraut, wäre erreichbar. Doch weshalb sollte ich noch einmal schaffen, was er mit höchster Exzellenz bereits in Texte umgesetzt hat? Frage aber auch: Was sollte … was könnte ich anderes, also Eigenes tun, ohne sein intellektuelles Niveau und seine künstlerische Kompetenz zu verfehlen? Ich habe von Valéry alles gelesen, hab’s mehrfach gelesen, hab’s wieder verdrängt, bin punktuell darauf eingegangen, habe mich schriftlich dazu ausgesprochen. Und doch bleibt eine tiefe Scheu vor diesem unerbittlichen Könner, der mein Schreiben wie mein Denken nachhaltig imprägniert hat und weiterhin – sowohl im Gedicht wie auch in diesen schlichten Tagesberichten – mitbestimmen wird. Viel zu lange hat mich Valérys Beispiel und Vorbild davon abgehalten, meine Stärke, meine literarische Eigenart produktiv zu machen. Aus Furcht, mich an ihn zu verlieren und … oder in seinen Schatten verbannt zu werden, habe ich mich in Büchern und Aufsätzen akademischen Usancen unterworfen, mich an fremden Autoritäten orientiert, meine Argumente durch Fremdzitate beglaubigt und durch beliebig viele Fußnoten abgestützt. Fußnoten gibt es bei Valéry kaum, Fremdzitate gibt es zuhauf, aber bloß in verkappter Form und ohne Beleg, und von akademischen Usancen hat er sich (der von Anfang an ein Meister war) niemals einengen lassen. Paul Valéry gehört mit dem Philosophen Alain, mit Georg Simmel, Walter Benjamin oder Jacques Derrida zu jenen poetischen Denkern, die fernab der Schulphilosophie zu einer Synthese von Rationalität und Ingeniosität gefunden und damit den Essay auf neuartige Weise produktiv gemacht haben. Neuartig – das heißt in diesem Fall, dass die Sprache nicht nur zum Transport von Begriffen und Argumenten eingesetzt wird, sondern auch als autonomer Generator von Problemstellungen und Problemlösungen. In Paul Valérys kleinen Versuchen über den Traum findet sich – ich beschränke mich auf ein einziges Beispiel – dieser Satz: Dans le rêve, j’agis sans vouloir; je veux sans pouvoir; je sais sans avoir vu jamais, avant d’avoir vu; je vois sans prévoir. Das klingt vorab wie eine lyrische Strophe, ist aber – auch – eine ernst zu nehmende, hochverdichtete Abhandlung, für die ein anderer Autor Dutzende von Seiten benötigt hätte. Ich übersetze: »Im Traum handle ich, ohne zu wollen; ich will, ohne zu können; ich weiß, ohne jemals gesehen zu haben, bevor ich gesehen habe; ich sehe, ohne vorzusehen.« Man erkennt sofort, dass hier nicht begrifflich argumentiert, sondern mit Wortspielen improvisiert wird, und man stellt fest, dass der Erkenntniswert dieses einen Satzes keineswegs geringer ist, als es der einer wissenschaftlichen Studie sein könnte. Doch die Aussage, genauer – das Sagen ist bei ihm anders instrumentiert. Man beachte, wie aus sprachlichen Gleichklängen gedankliche Zusammenhänge erwachsen: vouloir > pouvoir > (voir) > avoir > (savoir) > prévoir usf. Die Wort- beziehungsweise Lautfolge könnte ebenso gut einem Gedicht von Valéry entstammen, so wie manche seiner Verse und Strophen auch in einem Essay stehen könnten. Das heißt? Das heißt, dass hier das Sprachvertrauen jeder Sprachkritik und auch jeder Sprachbeherrschung vorgeordnet ist. Dieses Vertrauen teile ich mit Valéry, er kann also weder mein Vorbild noch ein Konkurrent sein. Was unsre ferne Verwandtschaft bezeugt, ist nicht das Geschriebene, es ist – das Schreiben. – Ausgedehnter Waldgang. Ich schlurfe durch das rottende Laub, der Nebel steht wie ein durchsichtiger Betonblock zwischen den Stämmen. Die Natur bringt alles zur Übereinstimmung – Farben, Formen, Bewegungen, es gibt hier nichts Falsches, nichts Nachgeahmtes, keinerlei Kitsch. Die Ober- und Unterseite der gefallenen Blätter – tiefes Rostbraun und zartes Beige – stimmt im Kontrast perfekt zusammen; dass hier nun alles verrottet und in die morastige Erde absinkt, hat ebenso seine Richtigkeit wie später wieder das Frühlingserwachen mit seinem blauen Band und seinen grünen Tönen. – Gilt nicht ein Gleiches für die Sprache? Wo doch jedes Wort, für sich genommen, schön ist und jedes zu jedem andern passt – das Wörterbuch belegt’s; unpassend, falsch, allenfalls hässlich werden die Zusammenhänge erst auf der Bedeutungsebene, dort, wo es nicht mehr um die Wörter als solche geht, sondern um das, was hinter ihnen als Aussage steht. – Im Halbschlaf nachmittags ist der Traum von heute Nacht plötzlich wieder da, setzt sich fort: Ich bin im Reisebus mit einer bunten Gesellschaft unterwegs ins gelobte Land. Die Gegend wird rasch einsamer, die Vegetation dürftiger, doch in das abgründige, mehrfach sich verzweigende, im Übrigen fast vegetationslose Hochtal schiebt sich gänzlich unerwartet eine moderne Überbauung mit gewaltigen Wohnblöcken, Bürotürmen, Spielcasinos, Sportanlagen usf. Doch da gibt es keinen Flecken Grün oder Blau, keinen einzigen Baum, keine Hunde, keine Sperlinge, keine Kinder, keine Bettler und auch keine Menschen. Was also sollen wir … was wollen wir da oben? Vilém Flusser setzt unauffällig Hubert Burdas Gesicht als Halbmaske auf und erklärt uns die Vorzüge neuer brasilianischer Architektur, bevor wir Quartier beziehen. Ich bekomme ein geräumiges Penthouse zugewiesen, es ist mit bunten flauschigen Teppichen ausgelegt, lange Sitzbänke sind in die Wände verschraubt, schwere Vorhänge halten den heutigen Tag fern. Das frei im Raum stehende Klosett aus schwarzem Bakelit hat einen geblümten Kunststoffüberzug, und übrigens soll ich die Wohnung mit den Gruschkas teilen, »Andrea und Herwig Gruschka aus Heidelberg«, so steht’s auf der Liste der Gäste. Der Sturmwarnung zum Trotz entschließe ich mich zu einem Erkundungsgang durch das Betongelände und stehe nach wenigen Schritten am Fuß einer schmalen, aus Sperrholz gefertigten Rolltreppe, die sich in steilen Passagen durch die auf Breitleinwand projizierten hängenden Gärten nach oben, zur Kuppel, zur Kommandozentrale hin bewegt. Eine lange Reihe von völlig neuen Menschen staut sich vor mir an der knackenden Treppe, man steht Schulter an Schulter, Ellenbogen an Ellenbogen gepresst, doch Wärme kommt nicht auf, die Blicke bleiben gesenkt, es ist offenkundig, dass die neue Sprache noch nicht funktioniert. Unmittelbar vor mir in der wartenden Kolonne lehnt zwischen zwei Kerlen die Frau, die definitiv Semiramis ist. Da wir nun endlich die rollenden Stufen betreten und Iris im Gedränge entgegen der Fahrtrichtung an mich gedrückt wird, gelingt die Begattung rasch und unbemerkt, und kaum sind wir oben angelangt, beginnen wir – ohne auch nur einen Blick aufs Panorama geworfen zu haben – mit dem Abstieg. Der steile Pfad ist gesäumt mit schimmernden Vitrinen, in denen verschiedenste kleine Objekte ausgestellt sind, alle in Gelb oder Gold, doch mir bleibt unklar, ob es sich dabei um Artefakte oder Naturdinge handelt. Eben solche Objekte – Topfscherben? Fingerknochen? Aprikosenknospen? – trug doch eben noch Semiramis in ihrem hochgesteckten Haar! Und dies am wärmsten Novembertag seit 1864. – Mehr und mehr bildet sich als Konstante meiner Vita und auch meines geistigen Lebens das Glück im Unglück heraus; so als bräuchte es … als bräuchte ich stets eine Krankheit, eine Schuld, eine Verspätung, eine Ungerechtigkeit, ein Reuegefühl, eine Dummheit, ein Vergessen, ein Defizit, ein Missverständnis, damit sich daraus – oft viel später erst – eine Chance ergeben kann oder nur einfach eine Möglichkeit, die sich ohne Behinderung nicht aufgetan hätte. Mag sein, dass dies auch für meine literarische Schreibarbeit gilt, die viel zu lang durch außerliterarische Verpflichtungen eingeschränkt, während Jahren sogar völlig abgebrochen war, bis sie, nachdem ich meinen Beruf vorzeitig aufgegeben hatte, endlich freigesetzt wurde. Freigesetzt! Tatsächlich bin ich als freier Schriftsteller ein Spätzünder … ein Anfänger noch immer. Für wie lange? – Aufgestanden um halb sieben. Draußen in der mausgrauen Finsternis hängt, über die Straßenlaternen gestülpt, der dicht gewirkte Nebel – keine Schlieren, keine Schwaden, vielmehr ein kompakter dreidimensionaler Vorhang, der alles einschließt und bereinigt. In der Vagheit des Nebels präzisiert sich die Wahrnehmung. Der Nebel lässt Ecken, Kanten, Perspektiven, Irregularitäten, Besonderheiten schwinden und bewirkt gleichzeitig, dass in der Verflachung größere Zusammenhänge – Proportionen, Volumen, Helldunkel – überschaubar werden und sich zu abstrakten Mustern fügen. – In Polen, wo neonazistische Umtriebe verboten sind, hat eine regionale Staatsanwaltschaft in diesen Tagen ein Gutachten in Auftrag gegeben, das abklären soll, ob es den Hitlergruß tatsächlich gegeben hat und was er in Wirklichkeit bedeutet.
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