29. Dezember

Glück! Gibt es das Glück im Großen? Im Ganzen? Das Glück als ein großes Ganzes? Für mich ist das kleinste Glück »Glück« genug. Zu finden auf meinem täglichen Rundgang durch den Gemeindewald. Zu haben bei jeder Tages- und Jahreszeit, in jeder Gefühls- und Geisteslage, in frischer Luft, bei geschärftem Bewusstsein am Rand zur Träumerei. Ein natürlicher Raum voller Geräusche und Gerüche, ohne Nachbarn und Passanten, ein unentwegt zu entdeckendes Territorium, für mich ideal zum Finden und Erfinden, hier bin ich besonders disponiert für Einfälle und Erinnerungen aller Art, hier komme ich unangestrengt zu Problemlösungen und neuen Fragestellungen, hier bin ich – ohne Handy noch immer – auf mich gestellt, ich weiß, ich bin zumindest zeitlich weitab von der Zivilisation, und es würde, sollte mir etwas zustoßen, Stunden, vielleicht einen Tag oder länger dauern, bis man mich hier finden würde. Tot oder lebendig. Doch das kleine Glück des Alleingangs kann selbst einem großen Unglück zuvorkommen. Wie heute, als ich mitten im Wald auf dem schmalen Steg über den durch reißendes Tauwasser angeschwollenen Quellfluss beim dritten tastenden Schritt ausrutschte und mich nur noch durch eine hektische Verrenkung – ähnlich einem Seiltänzer – im Gleichgewicht halten konnte, nachdem mein rechter Schuhabsatz sich an der Kante des Stegs verkeilt hatte. Nicht auszudenken … leicht auszudenken, was aus mir geworden wäre, hätte mich nicht dieses kleine rasche Glück gerettet: Ich wäre rücklings in das steinige Bachbett gekippt, wäre vielleicht ohnmächtig geworden, hätte mich vielleicht an der Wasserflut verschluckt, hätte mir vielleicht ein Bein, die Hüfte, den Schädel gebrochen, wäre vermutlich erst viel später von einem Waldarbeiter oder einem Pilger in meinem Elend entdeckt worden. Also ein guter Tag heute? – Wenn ich in dieser mir unbekannten Stadt unterwegs bin, geht’s immer aufwärts, geht’s himmelwärts auf bombierten asphaltierten Straßen, aber wohin? Beim Verlassen der Tiefgarage stelle ich fest, dass es hier keinerlei Signalisation gibt, keine Straßen- und Verkehrstafeln, keine Bodenmarkierungen. Aber ich kenne mich vor Ort ja aus, steige zur Hochschule hinauf, wo ich ein Forschungsprojekt einreichen soll, gerate jedoch in eine kleine persönliche Feier zu Ehren von Helga Nowotny, die ich hier im Kreis ihrer Anwälte und Assistentinnen überrasche, und sie – merklich älter geworden – überrascht mich auch. Um das Gespräch möglichst diskret zu eröffnen, erkundige ich mich nach meiner Kollegin Inés García de la Puente, die sich meines Wissens bei ihr habilitieren will, erfahre aber, dass ihre Arbeit abgelehnt worden sei und dass man ihr empfohlen habe, in den USA einen Übersetzerjob anzunehmen. Hanni Tarsis tritt derweil sehr selbstbewusst auf, sie will ihre souveränen Rechte verteidigen und durchsetzen. Dabei geht es offenbar um eine von ihr als unrechtmäßig empfundene Kündigung, sie legt in Reinschrift Texte ihres verstorbenen Mannes vor. In den altmodischen Schrankvitrinen spiegelt sich das weitläufige Trümmerfeld mit den restlichen Völkern und Sprachen Babylons. – Mensch, hör mal! Was fällt dir ein, Mensch? Mensch, wie oft muss man dir das noch sagen? Was einst – zu meiner Zeit – der »Mensch« war, ist heute der Mann. Hör endlich auf, Mann! Hau ab, Mann! Das wirst du mir büßen, Mann! Mit »Mann« kann auch eine Frau gemeint sein. Gib endlich Ruhe, Mann! Oder ist mit dem »Mann« vielleicht das Man gemeint? Man höre auf, man haue ab usf. Oder soll »man« als Subjekt das gute alte Wir ersetzen? Wir! Auch wir Politiker sind doch nur Menschen! Auch wir Mütter – Zahnärztinnen, Verkäuferinnen, Nutten, Lesben, Friseusen, Putzfrauen, Vorzimmersekretärinnen, Sterbebegleiterinnen, Extremsportlerinnen, Nachwuchsforscherinnen, Frauenrechtlerinnen – auch wir sind Menschen! Auch wir Ärzte, Lehrer, Experten machen Fehler! Was aber hat der Amokläufer von Newtown mit uns zu tun, jener Junge mit dem Bleichgesicht, der Topffrisur, den Kulleraugen, der vorgestern zwei Dutzend Schulkinder mit einem Sturmgewehr kaltblütig abknallte, ebenso wie eine dreiundzwanzigjährige Lehrerin, die sich schützend vor ihre Klasse stellte, und schließlich seine eigene geliebte Mom, die er stets respektvoll »Excuse me« genannt hatte – auch er ein Angehöriger des Menschengeschlechts, auch er einer von denen, die »wir« unter die erste Person der Mehrzahl subsumieren, einer, der dem »Man« zuzurechnen ist. Dazu kommt – es ist ein Hohn –, dass der Mann Adam heißt. Was für ein »Mensch«! Man, hör auf! – Krys fragt mich, was ich mir für das kommende Jahr und darüber hinaus für mein Leben vornehme. Ein Jahr! Mein Leben? Vielleicht wird ja eins mit dem andern zusammenfallen. Mein Wunsch … meine Hoffnung ist, dass ich vorbehaltlos abnehmen kann, verzichten, vergessen, leichter werden, um noch dies und jenes in mich aufzunehmen, von dem ich bisher nichts weiß und nichts ahne. Ich sollte mir nichts mehr vornehmen, was andere ebenso gut oder besser können als ich, dafür aber forcieren, was nur ich auf unverwechselbare Weise schaffen kann – zwei, drei größere literarische Sachen, einen Nachfolgeband zu ›Gegengabe‹, vielleicht noch das Buch über den Tod (das Sterben) in Russland, mit Einzelstudien zu traditionellen Totenklagen, zum Freitod, zum Duell, zur Apokalyptik in der russischen Kultur; vor allem – Gedichte! Im übrigen – weniger ambitioniert, nicht weniger einträglich – die Alten lesen und wiederlesen; neue Musik hören; die Konfrontation mit neuen Bildern suchen. A propos »die Alten lesen« – Simon Morris hat mir ›Die Wende‹ von Stephen Greenblatt geschenkt. Gut gewählt! Greenblatt geht den Spuren und den Wirkungskräften des »alten«, während Jahrhunderten völlig vergessenen Lukrez nach und macht deutlich, was und wie dieser zur Renaissance der Antike beigetragen hat. Das Buch liest sich wie ein wissenschaftshistorischer Abenteuerroman, kommt aber – anders als Umberto Eco in seinen großen Nacherzählungen – ohne belletristische Verbrämungen aus. Mit einiger Empathie lese ich bei Greenblatt den folgenden Hinweis auf Francesco Petrarca: »Grenzenlos war die Verachtung, die Petrarca für die Zeit hegte, in der zu leben er gezwungen war. Es sei, klagte er, eine schäbige Zeit, mit ihrer Rohheit, Dummheit und Trivialität werde sie in der menschlichen Erinnerung keine Spur hinterlassen. Offenbar trug aber gerade diese Verachtung dazu bei, Charisma und Berühmtheit des Dichters zu steigern.« Sei’s drum! Aber wie das? Dazu schweigt sich Greenblatt aus. – Plötzlich – beim Frühstück, beim Zeitungslesen, beim Wenden des Blatts – zupft mich jemand … zupft mich etwas am rechten Ellenbogen. Ich schau kurz hinunter, kann sehen, wie unter der Haut in der Beuge zwischen Unter- und Oberarm die Muskeln arbeiten, es ist ein Hin und Her von kleinen sich wälzenden Wellen und Wülsten, die gleichsam übereinander herfallen; sieht aus, als tummelten sich unter der schlaffen Haut ein paar winzige Mäuschen. – Strahlender Tag bei frühlingshaft milder und aufgewühlter Luft. Der Bodenwind gräbt in den dürftigen Rabatten und Bosketten, treibt die Spatzen vor sich her, rüttelt an den klapprigen Fensterläden und – auf der Südseite des Hauses – am Spalier der Jungbirnbäume. Das scharfe Frühlicht spannt deren Schatten als feines zackiges Netzwerk über die leicht angewärmte Hauswand. – Mit Niklaus von Steiger zu Besuch bei Irmgard Wirtz im Schweizerischen Literaturarchiv. Wir reden und beraten über die Nachlassmaterialien des Dichters Anatol von Steiger und deren allfällige Übergabe an das Archiv der Nationalbibliothek. Ich selbst besitze (aus der Hinterlassenschaft meines verstorbenen Kollegen Robin Kemball) ein umfangreiches, von Hand korrigiertes Typoskript, zudem sämtliche Erstdrucke mit der Signatur des Autors (Geschenk meiner Basler Lehrerin Elsa Mahler) sowie zahlreiche Zeitschriftenhefte und Erinnerungsschriften mit Beiträgen von und über Anatol von Steiger. Da wir uns auf eine gemeinsame Übergabe der Materialien (zu denen vor allem eine umfangreiche Fotosammlung aus dem Nachlass des Schriftstellers Sergius Golowin gehört) nicht einigen können, vertagen wir den Akt auf unbestimmte Zeit. Meine zweisprachige Werkausgabe von Anatol von Steiger, vor anderthalb Jahren bei Ammann in Zürich erschienen, ist unlängst vom S. Fischer Verlag in Frankfurt a. M. übernommen worden. Bei Kritik und Publikum hat sie kaum Reaktionen ausgelöst. – Bei einem frugalen Abendmahl lese ich Krys zwei, drei Gedichte aus dem ›Krimgotischen Fächer‹ und ein paar Stücke aus ›Fleischeslust‹ von Oskar Pastior vor – ich schätze diese verhältnismäßig frühen Texte weit höher ein als die späteren Kopfnüsse, Sestinen, Vokalisen oder Gimpelstifte mit ihrem krausen, allzu vordergründigen Wortwitz. Ich kann Krys auch von einer denkwürdigen Begegnung mit dem Dichter berichten. Schauplatz ist die Berliner Akademie der Künste, Anlass – Pastiors sechzigster oder fünfundsechzigster Geburtstag. Zusammen mit mehreren Dichterkollegen soll ich auf dem Podium vor großem Publikum eine kleine lyrische Huldigung darbieten, und es ist vorgesehen, dass der Jubilar als Finale ein kurzes Dankeswort sprechen würde. Diese unaufwendige, eigentlich selbstverständliche Geste wurde für Oskar Pastior unversehens zum Problem. Es komme für ihn nicht in Frage, an der Öffentlichkeit »frei zu reden«, sagt er, und er werde statt dessen ein paar Sätze aus seinem jüngsten Buch auswählen, sie neu gruppieren und als Wortmontage vortragen. Ich sitze rechts neben ihm am Tisch auf der Bühne, und er flüstert mir zu: »Du weißt doch, dass ich Bedeutung hasse.« Ich weiß, ich wusste auch damals, dass Pastior nach einer bedeutungsfreien Dichtersprache sucht, dass er keinen Bedeutungsraum hinter oder zwischen den Wörtern gelten lässt. Gelten soll das Wort als solches, das Wort als verlautender Klangleib, nichts besagend, bloß leichthin an die Sinne rührend. Die im gedruckten Text unterstrichenen Verse rezitiert er dann so, als handle es sich um eine lyrische Improvisation aus gegebenem Anlass. Was er zu sagen hat, ist das, was er geschrieben und kodifiziert hat. Meine Zugabe für Krys (das einzige Gedicht von mir, das ich auswendig weiß): Wer wäre er. Der
aaaaasich ein Gesicht andichten ließe.
aaaaaUnd nestelte
aaaaadem Gegenüber – zack! –
aaaaadie Maske vom Geschlecht.
aaaaaKlaubt ihm Gruß
aaaaaund Namen aus der Faust.
aaaaaSagt statt Amen
aaaaazweimal Ich! Und schon
aaaaaschießt krähend
aaaaaaus dem Staub das Beutetier
aaaaains Bild. Und jetzt
aaaaader Biss. – Gestern die Extraktion eines mehrfach verwurzelten Zahns aus dem rechten Oberkiefer. Wie üblich bei solcher Ungelegenheit entsteht unter der Lokalnarkose das völlig verfehlte Gefühl, der Zahn werde mit Gewalt nach oben in den Kiefer gedrückt, und nicht etwa, wie es der Fall ist, nach unten gezogen; aber plötzlich baumelt er vor meinen Augen an der Zange. Bin erstaunt, dass es diesmal kaum Nachwehen gibt. Drei Monate soll der Knochen nun ausheilen, bevor die Behandlung fortgesetzt und ein Hightec-Zahn implantiert wird. – Höflichkeit ist das Letzte, was in heutiger Sozialkommunikation als cool gilt; oder anders (nochmals neudeutsch gesagt): Höflichkeit ist out – kein Dank, keine Entschuldigung, kein frontaler Blick, keine Aufmerksamkeit. Anfragen, Angebote, Zuwendungen, Geschenke bleiben zumeist ohne Bestätigung. Doch erreiche ich in diesen Tagen (und beglückwünsche mich dazu) einen Grad von Gleichgültigkeit, wie ich ihn seit langem erstrebe und einübe, lasse mich weder enttäuschen noch beleidigen, nehme die Welt und vor allem die Men und Schen so hin, wie sie sind, cool und nie nicht in. – Ich arbeite kaum noch zu diesem Jahresende hin, stapfe Runde um Runde durch den eingeschneiten Park, beheize meinen Pavillon, blättere in Handschuhen den von Feuchtigkeit und häufigem Gebrauch versehrten Briefband von Nietzsche durch, besorge mir dann aus dem Reduit das Brennholz für heute Abend. Nehme mir vor, mit Potocki weiterzumachen, lasse mich aber durch dies und jenes ablenken, höre mir – eben als Geschenk von Connie Müller eingetroffen – Valery Afanassievs geradezu fantastisch langfädige Einspielung von Schuberts großer B-Dur-Sonate an. Ein nüchternes Delirium! Dann lesen – Girard, Lotman, Borst.

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