29. November

Es gibt angeblich so etwas wie Glückssträhnen; ich selbst kenne bestenfalls vereinzelte Momente von Glück. Vertrauter sind mir die schwarzen Tage, an denen sich das Ungemach als dunkles Durcheinander manifestiert. So wie heute. Ein Katastrophentag. Wenn auch in Maßen. Aber doch dicht genug. Lauter miese Kleinigkeiten, die mich – kaum bin ich hier in R. angekommen – zur Rückreise nach Zürich nötigen. Die lange Gartenmauer nach Westen hin ist eingebrochen – ich muss die Versicherung informieren, muss einen Steinmetz finden, der die Mauer im alten Stil wieder aufbaut; der Sturm hat einen Teil des Dachkamins weggerissen – das Regenwasser rinnt durch den Abzug herunter in die Küche; meine Stereoanlage (Braun – dreißig, vierzig Jahre alt), auf der ich täglich meine Vinylplatten abspiele, fängt plötzlich an zu ruckeln und der Plattenteller klemmt; mein PC (IBM – vier, fünf Jahre alt) versagt seit heute diverse Dienste sowohl im Internet wie im einfachen Schreibgebrauch – im Internet gibt’s keine Bilder mehr, Geschriebenes kann nicht mehr gespeichert werden. Das ist – für einen einzigen Tag – recht viel des Üblen, angesichts der Weltlage zwar ein Witz, für mich aber hier vor Ort ein gewaltiges Ärgernis. Fragt sich, wie und warum und wozu es zu derartigen Häufungen von unglücklichen, völlig unerwarteten Fügungen kommt … kommen kann. Denn ein gemeinsamer Grund dafür ist ebenso wenig zu erkennen wie ein gemeinsamer Sinn, eine statistische Wahrscheinlichkeit oder auch bloß eine einigermaßen plausible Zeichenhaftigkeit. Aber soll man … soll ich darüber nachdenken, was das für mich zu bedeuten hat, allein für mich, denn nur ich bin von der schwarzen Serie betroffen, und eben deshalb fühle ich mich ja auch persönlich tangiert. Doch nein, ich werde nun nicht über Zufall und … oder Notwendigkeit grübeln. Lieber geh ich noch einmal in den Wald, bewege mich – es ist halb sechs Uhr abends – durch das schon leicht eingedunkelte, leicht eingenebelte Gelände, überlege mir, was nun als Erstes zu tun ist, ob und wie ich meine Arbeit der neuen Situation anpassen kann, überlege hin und her, bis plötzlich hinter und unter mir die Erde zu beben beginnt, der Wald scheint zu erstarren, ich wende mich um und sehe, wie eine gewaltige Kuhherde durchs Gehölz auf mich zuhält – gut zwei Dutzend galoppierende Milchkühe, die in seltsamen Sprüngen und mit vielstimmigem Rülpsen und Schnauben und heiserem Husten bedrohlich rasch näherkommen. Bin erstaunt, wie leichtfüßig die schwerfälligen Tiere sich über gefallene Stämme und niedriges Dickicht hinwegsetzen, fasziniert, wie ihre großen weißen Stirnen zwischen den Bäumen kurz aufscheinen und wieder verschwinden und wieder zum Vorschein kommen und so fort. Da steh ich, wissend, ich kann nicht anders, kann nicht ausweichen, kann nur hoffen, dass mich die trabende Herde nicht gleich in Grund und Boden stampfen wird. Nein. Tut sie nicht. Der Spuk ist ebenso rasch vorbei, wie er aufgekommen ist. Nein. Kein Spuk. Bloß das harmlose Ende eines schwarzen Tags. – Da habt ihr den neuen Menschen! Endlich ist er frei von Krankheit, Gebrechen, Versehrungen, Hoffnungen, Enttäuschungen aller Art. Endlich hat er sich emanzipiert von Therapien, Prothesen, Kosmetik und von Todesfurcht. Endlich ist er so weit, dass er ein ganzes Bein oder eine halbe Gesichtshälfte innerhalb von fünf, sechs Wochen komplett zu regenerieren vermag. Die neu vernetzten Zellen wissen … die Zellen haben zu unterscheiden gelernt, ob sie das Bein insgesamt oder bloß den Fuß und die Fessel zu ersetzen haben. Grundlage dafür ist ihr kollektives Ortsgedächtnis. Ja. Doch. Man weiß schon seit längerm, dass bestimmte Gene in einer knospenden Extremität während der Embryonalentfaltung nach einem spezifischen Muster aktiv sind. Je nach Position der Zelle werden unterschiedliche Proteine in verschiedenen Konzentrationen produziert. Diese Information vermag nun der neue Mensch … vermag der Organismus des neuen Menschen nun zeitlebens – also auf ewig – zu erhalten. Nach einer Verletzung immigrieren die umliegenden Zellen in die Wunde und bestimmen anhand ihres Positionscodes das Ausmaß des Schadens, um ihn danach autopoietisch zu beheben. Nase, Zahn, Schultergelenk, Herzklappe, Milz, Eierstock, Sacrum wachsen unweigerlich nach. So vollzieht sich im neuen Menschen der Fortschritt als Rückschritt, und alles bleibt beim Alten. Der Axolotl hat’s vorgemacht. – Seit einer Woche nun trage ich diese ungute Kopfgrippe mit mir herum, auch heute früh bin ich mit eitrig tränenden Augen, Druck in den Schläfen, schlechtem Allgemeinbefinden aufgewacht und bald wieder, nach dem Klogang, eingeschlafen: Ich nehme an einem mehrtägigen Literatentreffen teil. Ort des Treffens ist eine evangelische Tagungsstätte, zum Essen … vorm Essen steht man schweigend in der Schlange, die meist sehr jungen Autorinnen sind mir nicht mal dem Namen nach bekannt. Ich bin … ich fühle mich hier nicht an meinem Platz, wirke offenbar störend oder provokant, man lässt mich nicht zu Wort kommen, lacht und zischt über mich hinter vorgehaltener Hand, alle Projekte und Anträge gehen ohne meine Stimme durch. Schon bald … jetzt gleich geht die Ablehnung in aggressives Mobbing über, woran, wie ich ziemlich klar erkennen kann, zwei junge unscheinbare Frauen besonders aktiv beteiligt sind – sie lesen sich gegenseitig laut aus meinen Texten vor, machen sich darüber lustig, werfen die Blätter achtlos über ihre nackten Schultern ins offene Gelände. Den nachmittäglichen Ausflug erspare ich mir, steige statt dessen zur Quelle hinunter, über der finster die Kathedrale ragt. Ein grauer Mann mittleren Alters, sympathisch mit hellem Rundgesicht, erwartet mich unten, er stellt sich vor, als müssten wir einander kennen: Ich bin der Kurt … Kurt Marti! Aber ganz sicher bin ich mir dennoch nicht. Rat…mi! Turk? Ruth? Rita! Nein, ich erinnere mich nicht an diesen ergebenen, wenn nicht hingerissenen Leser, der mir da ins Gesicht atmet und wirklich nur das Gute will … der nur Gutes verstehen will. Zum Abschluss des Workshops haben einige Teilnehmerinnen in der Mensa eine Aufführung angesetzt, bei der ich die Hauptrolle … für die sie mich zur Hauptrolle verknurrt haben und … aber kurzfristig werde ich dann doch durch Thomas Brasch ersetzt, der nun solo auftritt, ein holpriges Liedchen ins Mikrofon stammelt, während meine Verächterin aus ihrem sommersprossigen Gesicht zu mir herüber grinst. – Ich notiere mir dazu … dazu fallen mir diese Zeilen ein: Wen die Angst erwählt
aaaaader hat plötzlich ein Gesicht. Und plötzlich
aaaaatrifft sich – im Aug des Betrachters –
aaaaaVerbotenes mit einem Verdacht. Die Nacht des Wissens
aaaaaist (man weiß es) weiß.
– Die Menschheit in zweistelliger Milliardenzahl ist eine realistische, fast schon realisierte, dennoch nicht vorstellbare Prognose. Acht, neun, zehn Milliarden Menschen, und alle sollen gleichgestellt sein! Wo bleibt … wo bliebe denn aber der Einzelne? Was zählt das Individuum im Vergleich mit der großen Zahl? Wie … von wem ist das sogenannte Ich … wie bin ich als der, der ich bin, zu retten? Dazu eine schräge Analogie: Allein in Österreich wurden im vergangenen Jahr zwanzig Milliarden Euro von Pfuschern (Schwarzarbeitern) illegal verdient, weltweit sind Milliardenbeträge verschoben und umgesetzt, verzockt, veruntreut, gewonnen worden, aus Rettungsschirmen überwiesen, als Bußgelder bezahlt worden, als Schwarzgeld gewaschen worden, als Entwicklungshilfe geleistet, zur militärischen Aufrüstung eingesetzt worden. Usf. Wie sollte man angesichts solcher Summen, von denen täglich in immer wieder andern Zusammenhängen die Rede ist, den einzelnen Franken noch ehren, den Dollar, das Pfund, den Yen? Ehren! Da gleichzeitig in vielen Weltgegenden für Millionen von Menschen der eine Dollar unerreichbar bleibt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00