3. Januar

Wieder Schnee über Nacht – eine rare Sondervorstellung; denn die Luft ist, heute wie gestern, voll von schwebenden, langsam sinkenden, seitlich driftenden, auch aufwärts fliegenden feinsten Flocken, die offensichtlich am Boden gar nicht ankommen oder nach dem Auftreffen sofort wegschmelzen. Jedenfalls bleiben Dächer und Wege unberührt von der herabsinkenden pulverigen Weiße; es ist, als zögerte der Schnee in seiner unbestimmten Fallbewegung und verglimmte oder verdampfte, bevor er festen Grund erreicht. Und nun kommt, plötzlich, ein Lichteinfall dazu, die Sonne knallt ihren schrägen Schein in die Gasse, die noch dichter, noch feiner fallenden Flocken taumeln durch den scharf ausgeleuchteten Korridor. Ein Spektakel ohne Sinn und Bedeutung, nur einfach schön, nutzlos, einmalig, nicht zu beschreiben, nur zu bewundern. – Eben hatte ich von Edmond Jabès geträumt, heute erfahre ich, dass er gestern in Paris gestorben ist. Ich habe von Jabès mehrere Bücher übersetzt, war über Jahre mit ihm in Briefkontakt, habe ihn mehrfach privat besucht. »Das Wort gewinnt seine Heraufkunft von dem, der es wahrgenommen hat. Entblößt läuft es Gefahr zu gefallen oder zu missfallen; beurteilt zu werden«, heißt es, mit den Worten des Autors, in der Todesnachricht des Verlagshauses Gallimard: »Was sollte es im Übrigen anderes sein als ein Denken, das dem Tag entlockt wird? Ich denke, und mein Denken erfüllt mich mit Worten. Ich höre, und mein Denken erfüllt mich mit Stille; denn Wort und Stille sind Denken, gerade dort, wo sie sich treffen, um ineinander aufzugehn. In intimstem Sein.« – In einem langen starken Traum bin ich mit dem alten Roman Ossipowitsch Jakobson zugange, über den ich – in seiner Gegenwart – eine Vorlesung zu halten habe. Jakobson kommt von weit her, tief aus der Zeit, tief aus dem Raum, sieht aus wie ein uralter Vogel, erinnert mich an den Raben Nevermore. Ich zeige ihm Bücher und Dokumente aus meiner Sammlung, darunter diverse signierte Erstausgaben tschechischer Dichtung aus den 1920er, 1930er Jahren. Wir blättern, vertraulich plaudernd, mehrere Mappen und Alben durch, reden über Poetik, Metrik, Majakowskij, Nezval, Biebl, Wolker. »Aber der Beste von uns«, sagt Jakobson mit leiser krächzender Stimme: »Der Beste von uns war der Teige!« Ich muss mich, da ich mich in Sachen Prosodie noch immer nicht ganz sattelfest fühle, beim Vortragen sehr konzentrieren, lese alles vom Blatt, hebe den Blick nur, um mich zu vergewissern, ob Jakobson noch da ist und wie er auf meine Ausführungen reagiert. Nach der letzten Vorlesung treffen wir uns zu dritt mit Jelisaweta Eduardowna Maler, die mit ihrem alten Kollegen sofort eine theoretische Debatte über Hochzeitsbräuche, Körperstrafen und Totenklagen im Petschoryland eröffnet. Die schöne schlohweiße Greisin ereifert sich mächtig, ihre mädchenhafte Stimme erfüllt das Privatissimum mit einem schrillen, fast schon aggressiven Klingeln. Lächelnd lehnt sich Jakobson in seinem knirschenden Korbsessel zurück: »Der Beste von uns allen war aber doch der Karel! Was für ein Picabia!« Das Traumgeschehen erreicht hier, obwohl ein spannender Plot fehlt, eine Intensität und einen Detailreichtum, wie ich es sonst nur im Wachzustand erlebe. Ich bin Jakobson in der sogenannten Wirklichkeit nie begegnet, erinnere mich nun aber an ihn, als hätte ich ihn kürzlich angetroffen … als wäre ich mit ihm tatsächlich bekannt geworden … als hätte ich ihn tatsächlich aus nächster Nähe so genau beobachten können, dass ich nun aus eigener Anschauung über sein Aussehen, seine Kleidung, seine Aussagen referieren darf. Ist der Traum eine eigenständige Wirklichkeit in der Möglichkeitsform, und ist – umgekehrt – das Leben ein Traum in der Wirklichkeitsform? – Die Kopfdrehung bei Eulen, Uhus, Käuzchen ist ein wundersames Kuriosum der Natur. Eulen, Uhus, Käuzchen können gemäß ›Science‹ (online) ihren Kopf beziehungsweise ihren Hals um zweihundertsiebzig Grad, also um beinahe drei Viertel des Kreises von einem Punkt aus drehen. Wie dies ohne Schädigung der Blutgefäße und Behinderung der Blutzufuhr zum Gehirn möglich ist, weiß man erst seit kurzem auf Grund computertomografischer Untersuchungen. Die Physiologie des Halsbereichs bei Eulen oder Uhus oder Käuzchen unterscheidet sich merklich von derjenigen des Menschen, des Wolfs, der Kuh. Der knöcherne Kanal, der die Halsschlagadern zum Kopf führt, ist hier deutlich geräumiger als die Arterie selbst. Dies ermöglicht die weitläufigeren Kreisbewegungen um die Halswirbelachse. Zudem verfügen die Vögel über speziell angelegte Reservearterien, die jederzeit – bei Überdrehung – die Blutversorgung des Gehirns gewährleisten. Unklar bleibt der Nutzen des extremen Panoramablicks bei nachtaktiven Tieren, die ohnehin mit übergroß dimensionierten Augen ausgestattet sind. Eine Halskehre von zweihundertsiebzig Grad käme dem Menschen vermutlich weit mehr zustatten.

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