30. Dezember

Bin, liebe Krys, vor Ort vom Schneeeeeeeeee überrascht worden und ergo zurück geblieben hinter aller Welt. Auch hinter dir, deiner Suche, deiner Sucht. Und doch bist du, scheint’s, die stets Verhinderte. Noch später wird dann naturgemäß zu früh gewesen sein. Erwarte dich zum Jahreswechsel. Bring deine Musik mit. Ich fahre derweil nach Yverdon, kaufe auf dem Markt für uns ein. – Bin touristisch unterwegs mit vielen Leuten, von denen mir viele nur dem Gesicht, nicht dem Namen nach bekannt sind. Lange Busfahrt, mehrere Picknicks, Pilz- und Diamantensuche. Die Reiseleiterin hat als Uniform einen schlanken, halbwegs durchsichtigen Kegel übern Kopf gestülpt, der ihr bis zu den Knöcheln reicht. Der seltsame Kopfputz – eigentlich eine Ganzkörpermaske – besteht aus dickem, bereits deutlich angegilbtem und zerkratztem Plexiglas, er hat auf Hüfthöhe links und rechts eine vulvaförmige abgewetzte Öffnung, durch die die Dame ihre winzigen Hände nach außen streckt, um rechts ihr Smartphone, links ihren Geigerzähler zu bedienen. Beim ersten Blick auf ihr Namensschild am untern Saum der Uniform fällt mir, locker am Straßenrand liegend, eine vielleicht fünfzehnjährige Schönheit auf; sie trägt kurzes graues Kraushaar, hat ein rundliches Gesicht mit hohen Wangenknochen, kleine graue Augen, fast durchsichtige volle Lippen; ihre abgetragenen und ausgeleierten grauen Wollstrümpfe rümpfen sich in den Kniekehlen und bilden dicke Falten über den Fesseln. Das Mädchen hat einen unmodischen Minirock aus grauer filzartiger Baumwolle an, stützt sich auf den linken Ellenbogen und sieht, völlig entspannt, zu mir hoch. Ich bücke mich, mit dem Rücken zum Reisebus, rasch zu ihr hinunter, reiche ihr den Mund, sie küsst unbeschreiblich sanft zurück, und sofort erhebt sich in der Runde hinter mir und in dem Kreis, der sich nun um uns schließt, ein bedrohliches Murren. Die großen Brothers der kleinen Schwester (die vielleicht doch meine jung gebliebene Mutter ist?) protestieren laut. Aus der hintern Reihe der Wegelagerer meldet sich Hans Frey, er will ein Wörtchen mit mir reden, kommt in seinem schwarzen wehenden Regenmantel durch die Luft und übers Wasser geritten, reckt die massive Faust, überschüttet mich mit Vorwürfen. Der Schwerfällige beugt sich abrupt über seine Tochter, vergisst aber, rechtzeitig die große Wut abzulegen, so dass sie erschrocken zurückfährt und die Knie hochzieht. Endlich haben wir dich!, brüllen die Brothers: Diesmal entkommst du uns nicht! Der Fällige wird gepackt und in seine Mantelschöße eingeschnürt. Und du hau ab! schreit mir einer von ihnen ins Gesicht. Papa!, haucht die Kleine: Ich werde immer für dich da sein. Einer von den Brothers hebt sie auf die Schulter und trägt sie zum wartenden Bus; er verstaut die Frau im Kofferraum zwischen dem Reisegepäck und gibt dem Fahrer – also mir – das Zeichen zur Weiterfahrt. – Der Schriftzug mit den Worten »Arbeit macht frei«, aus schwerem Eisen geschmiedet und über dem Lagerportal von Auschwitz als Devise angebracht, wird nachts von Dieben demontiert, zerlegt, abtransportiert, um – so die Vermutung der Polizei – als Alteisen verkauft zu werden; oder – noch eine Vermutung – bei den Dieben handelt es sich um Leute, die mit Nazisymbolen handeln und die eherne Schrift im Auftrag eines Sammlers entwendet haben. Menschenwerk alles. – Die Nacht, vor einer Stunde noch schwarz und nur mit wenigen Sternen bestückt, hat sich machtvoll zum Tag gewandelt – blassblaues, homogen eingefärbtes Firmament, tiefstehende, gleißend helle Morgensonne, lange, schmale, scharf gezeichnete Schatten, die sich wie bedrohliche Risse ausnehmen. Abgründe nach oben? Gleich trete ich meinen Waldgang in Richtung Croy an. Der Föhn hat den Restschnee abgesaugt, den Morast ausgetrocknet, nur da und dort bleibt in den Radspuren eine längliche Pfütze, in der die Baumwipfel sich grüßen. Ich schreite die Rundstrecke ab, eigentlich schlendere ich nur, muss die herabdringenden Ideen von mir fernhalten, um mich nicht von der schlichten … von der einzigartigen Schönheit des Moments ablenken zu lassen. Was bleibt, sind diese wenigen Zeilen und eine der magischen Stunden dieses Jahrs. – Versuchsanordnung: Jeder darf … jeder muss solange leben, bis er alles – die Welt, sich selbst – verstanden hat; also wird er – jeder, jede – ewig leben. Und dann? Dann beginnt vermutlich Gott und mit ihm das Ende jedes möglichen Beginns. – Eigene, selbst verschuldete Fehler finde ich besonders ärgerlich – sie wären vermeidbar und sind es dennoch nicht; mein Ärger wird allerdings relativiert dadurch, dass Fehlleistungen auch dann nicht zu vermeiden sind, wenn Projekte in Gremien verhandelt werden, in Expertenrunden, Sonderkommissionen, Parlamenten, Direktorien, Armeestäben und andernorts. Ich denke an unpraktikable Gesetze, Fehldispositionen mit ungeahnten Folgekosten, Prestigeprojekte mit implizierter Naturzerstörung, fahrlässige Investition öffentlicher Gelder, Bildungs-, Gesundheitsreformen mit untragbaren Nebeneffekten oder Nachwirkungen. – Nach zwei strengen Winterwochen mit viel Schnee und tiefen Temperaturen ist das Thermometer nun in vierundzwanzig Stunden um fünfzehn, sechzehn Grad gestiegen. Große Winde kopulieren im durchsichtigen Himmel, es ist fast frühlingshaft mild, wenn auch das Licht dazu fehlt und all die grünen Töne. Erstaunlich, dass diesmal weder Herr Kopf, noch Herr Bauch auf den Umschwung reagiert; denn normalerweise sind solche Tage für mich verlorene Krampf- und Schmerzenstage, Tage des Verzagens, des Rückzugs, der Ohnmacht, der blöden Wut. – Die Klimakonferenz in Cancun ist selbstredend gescheitert, die Klimakatastrophe wird selbstverständlich eintreten, ob der umweltschädliche Energieverbrauch gesenkt wird oder nicht. Vermutlich wird er nicht gesenkt werden können – aus wirtschaftlichen, sozialen, politischen, technischen, ideologischen und auch aus sogenannten allgemeinmenschlichen Gründen. Ist auch egal. Und alle – die möglichen Nutznießer wie die möglichen Leidtragenden – wissen doch längst, dass es egal ist; dass es vor allem der Natur egal ist, die selbst keine Fehler macht und die unser Fehlverhalten unter allen Umständen irgendwie konterkarieren wird. – Kommt Roland Barthes hierzulande allmählich wieder ins Gespräch? Nachdem die sekundären Theoriefranzosen – Rancière, Nancy, Badiou, Latour, Lacoue-Labarthe usf. – ausgedient haben, erinnert man sich erneut an den urbanen Schöngeist und Muttersohn, der die strukturale Theoriebildung überboten (oder unterlaufen) hat mit seinem subtilen poetischen Denken, das von methodischem Rigorismus wie von fahriger Begrifflichkeit gleichermaßen frei war. Ich bin alt genug, um mich an Barthes’ Vorlesungen im Collège de France zu erinnern – an den geschniegelten, damals schon etwas fülligen Mann, der stets im Stehen sprach, stets vor dem Katheder, auf Hüfthöhe angelehnt an den riesigen Holzkorpus, der die Wandtafel vom Publikum trennte. »Elemente der Semiologie« war damals das Thema. Barthes sprach frei, gestikulierte ausdrucksstark, aber unspektakulär, redete leise, dozierte nicht, schien nur einfach laut zu denken. – Aufgestanden um sechs. Auf dem Balkon steht schwarz und lau die Nacht, die die vorletzte in diesem Jahr gewesen sein wird. – Elazar Benyoëtz fragt mich nach einem … fragt mich nach der Herkunft eines meiner Einzeiler: »Dort! bricht unsereiner mit sich selbst, indem er spricht; wie immer.« Dort! Das kann nur aus den ›Ortsterminen‹ von 2002 stammen, einer Folge von Einzelversen, die später in mein Lyrikbuch ›Wortnahme‹ und noch später in die von Theo Leuthold gestaltete Schatulle mit den insgesamt 116 separaten Versstreifen einging. Ich sehe, um sicher zu gehen, kurz in dem Band nach – dort steht tatsächlich dieser Einzeiler, der zugleich ein Gedicht ist. Auch anderes steht dort. Ein wenig komme ich ins Blättern, ins Lesen, dann ins Räsonieren. Auf mehreren hundert Seiten versammelt ›Wortnahme‹, in meiner eigenen Auswahl, den Ertrag meiner langjährigen Arbeit am Gedicht, Textproben aus den Jahren 2005 bis 1980. Das alles soll ein Autor geschrieben haben, den kaum jemand kennt, der kaum je besprochen wird, der im Betrieb nicht kotiert, in Anthologien zeitgenössischer Poesie nicht präsent ist? Wer denn also, wenn nicht ich! Ich könnte … ich müsste verbittert sein, ob soviel Missachtung und Verkennung. Ich müsste irritiert sein, wenn ich sehe, wer im lyrischen Diskurs das Sagen hat. Doch ich kann mir Ärger und Neid ersparen, weil ich auch bei wiederholtem Blättern in eigenen und andern Büchern nie nicht feststelle, dass ich … dass meine Sachen unvergleichlich sind. Unvergleichlich zu sein … nicht vergleichbar zu sein, ist noch lange kein Qualitätsbefund; doch wer sich entgegen allen Trends in seiner Unvergleichlichkeit behauptet, bleibt naturgemäß auf den einsamsten Posten verwiesen, und den einsamsten Posten sucht naturgemäß nur einer auf. Doch honoriert werden heute, auch in der Poesie, vorzugsweise Anpassung und Chorgesang. Wem, wenn nicht mir selbst, sollte ich treu sein? Vor wem, wenn nicht vor mir selbst, sollte ich mich behaupten wollen? Wo, wenn nicht außerhalb jeden Vergleichs, sollte ich unterwegs sein?

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