Das Naturschöne – heute am frühen Nachmittag der blassblaue, tiefhängende Himmel mit den himbeerrot von unten angehauchten Wölkchen – mag dem Kitschigen nahekommen, kann als kitschig wahrgenommen werden, wird aber nie vom Kitsch eingeholt, da es weder gefallen will, noch den Anspruch hat, Kunst oder auch nur »künstlerisch« zu sein. – Ich variiere einen beiläufigen Satz aus einem Gespräch mit dem späten E. M. Cioran in dessen Pariser Wohnung; und sage also: Die Musik ist die einzige Kunstgattung, die auch ohne Zutun des Menschen hätte entstehen können. Wer damals den Originalsatz zu dieser Variation ausgesprochen hat, weiß ich nicht mehr; auch nicht, wie der Satz ursprünglich lautete – wie er klang, das indes bleibt mir unvergesslich. – Trüber Vormittag, über den fast schon kahlen Baumwipfeln hängen wie schmutzige Laken die Nebelschwaden, das nasse vermatschte Laub entlässt einen leisen würzigen, schon etwas fauligen Dunst. Das triefende Grau lässt keine Helle aufkommen, also auch keine Schatten. – Eine Merkwürdigkeit, ein Tick vielleicht, der mich, merklich nur für mich selbst, seit Jahren begleitet: In Momenten des Gelingens, des kleinen Glücks, der positiven Überraschung verfalle ich in ein … packt mich ein kurzes mickriges Lachen, das nicht mehr bedeutet als Aha? Ja – mit Fragezeichen. – Bin eingeladen zum Poesiefestival für Oskar Pastior in Sibiu, wo ich nach einem schier endlosen Reisetag durch die mir verhassten künstlichen Welten des Tourismus, der Shopmeilen, der Musikberieselung, der Billigangebote, der dreisten Spießigkeit, der brutalen Spaßkultur, des ganz normalen Infantilismus ziemlich erschöpft eintreffe. Der Flughafen von Sibiu, neu aus dem Boden gestampft, halb Schulhaus, halb Klinik, alles glänzt noch, riecht nach Putzmitteln und Kerosin, die geduckten Hallen sind so gut wie menschenleer. Durch das schlecht verlötete Dach tropft da und dort … tropft überall der schlierige Regen. Das Zoll- und Kiosk- und Auskunfts- und Reinigungspersonal steht unbeschäftigt in den Korridoren herum. Draußen warten Dutzende von Taxis mit laufendem Motor auf ankommende Passagiere. Flughäfen wie diesen gibt es sonst nur in B-Movies, selbst Samedan oder Altenrhein sind diesbezüglich besser gerüstet. Mit mir ist auch Jean Daive gelandet, den ich nun hier bei der Zollkontrolle kennenlerne und mit dem ich im Taxi zum Hotel fahre. Dort sind vor uns die übrigen Teilnehmer schon vollzählig eingetroffen. Mit von der Partie – Ernest Wichner, Petr Borkovec, Andrzej Kopacki, Ulf Stolterfoth, Urs Allemann, Monika Rinck, Erwin Einzinger, Christian Hawkey, Uljana Wolf, Elke Erb, Inger Christensen. Inger Christensen, die schon bei der Begrüßung ihren Rotwein im Glas schwenkt, sieht mich erstaunt an … sie sagt unverblümt: »Und ich dachte, du bist tot.« Nach solcher Begrüßung kann nichts mehr schiefgehn. Die Lesungen sind über drei aufeinander folgende Abende verteilt; es bleibt viel Zeit zum Flanieren, für Gespräche, zum Lesen und Notieren. Ich setze mich gegenüber der Kirche am Hauptplatz in ein Straßencafé, zeichne die Fassaden, Details von Giebeln, Einfahrtstoren; die Menschen lasse ich weg (wie immer), kann sie mit dem Stift nicht erfassen. Es sind schwüle Oktobertage hier, immer schweben Staub und Gestank in der Luft, gleißende Riesenmonitore hängen zwischen den halb entlaubten Bäumen, Pop- und Schlagermusik dringt aus Wohnungen, Straßenbuden, Hinterhöfen. Ich lese von Erasmus das ›Lob der Torheit‹ (hier an einem Kiosk gekauft), Paul Celans Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann (geborgt von Allemann), notiere zwischendurch ein kleines Gedicht auf der Ansichtskarte für Krys: 12.04h –
aaaaaDa! ein Marmor mit offenen Armen. Scham
aaaaakennt keine Pracht und
aaaaaaber tout à l’heure Sonne! Die Restluft
aaaaareicht für einen halben Song. – Es gibt in der Altstadt schöne, meist zu Ringen gekrümmte Straßenzüge, weiträumige Plätze, bunte Fassaden, darüber alte Ziegeldächer mit eingelassenen Ochsenaugen, die einen ständig zu beobachten scheinen. Die tiefen Hinterhöfe – in einem davon das Internetcafé Silence, wo ich mit Monika Rinck für eine halbe Stunde herumgoogle – in desolatem Verfall, auf schiefen Galerien stapeln sich abgefallene Ziegel, Fenstersimse, Kaminaufsätze, Brunnenfiguren, Laternen und andere Trümmerstücke. Man sieht hier auffallend viele dicke Leute, niemand versteht ein Wort Französisch oder Italienisch, manche ein bisschen Englisch, aber Deutsch scheint in dieser ehemals deutschsprachigen Stadt – Pastiors Geburtsstadt – tatsächlich ausgestorben zu sein. Vereinzelt passieren schöne Frauen, hoch gewachsen, mit auffallender Oberweite und schwerem langem Haar, mit schmalen Hüften, aus denen sie, wie auf Tatzen gehend, mit souveräner Gemächlichkeit ausschreiten. Man merkt, dass diese raren Schönheiten eine gemeinsame einheimische Genealogie haben. – Auf der Hotelterrasse trifft sich täglich zwischen zehn und zwölf Uhr eine kleine Schreibklasse, um simultan im Privatissimum zu dichten. Sieht aus wie eine Schülerrunde bei der gemeinsamen Erledigung von Hausaufgaben. An zwei Tischen sitzen sie mit bald gesenkten, bald gereckten Köpfen fast wortlos beisammen, rauchen und notieren unentwegt, Allemann mit winziger Schrift wie ein Buchhalter übers Heft gebeugt, Stolterfoth mit dem Kugelschreiber ständig zwischen Notizblock und Oberlippe unterwegs, Monika Rinck mit durchgestrecktem Rücken und vorgestreckter Schreibhand ihre »Dinge« festhaltend (oder von sich fernhaltend), Uljana Wolf scheint Korrektur zu lesen, Christian Hawkey schreibt irgendwelche Kommentare oder Lesehilfen zwischen die Zeilen seiner Gedichte, die er übermorgen vorlesen soll. Die Schreibklasse meint es … die Klasse nimmt sich ernst, exerziert täglich ihr Programm durch, lässt sich auch durch Zaungäste wie mich – ich lese an einem Nebentisch russische Zeitungen oder vergnüge mich mit Erasmus – in keiner Weise stören. Die demonstrative Performance nimmt sich aus wie eine Parodie auf einen literarischen Workshop, da ihr aber jede Ironie abgeht, sehe ich darin doch eher eine unfreiwillige Selbstparodie. Auffallend ist, dass alle Beteiligten konsequent von Hand schreiben, keiner von ihnen hat einen Laptop dabei, sie hängen an ihren Kugelschreibern, Bleistiften oder Füllfedern und sehen angestrengt zu, welche Spuren der Schriftzug unter ihrer Hand zurücklässt. – Nachmittags Besuch und Rundgang im weitläufigen städtischen Kunstmuseum. Viele Säle, ganze Saalfluchten sind hier mit minderer Kunst bestückt, geordnet nach Landschaft, Stillleben, Portrait. In- und ausländische Malerei werden in unattraktiver Hängung präsentiert, darunter viel Westeuropäisches von drittem Rang, auch manche Kopien (alter Mann nach Rembrandt usf.). Zwei Bildnisse von Memling, eins davon – koloristisch und kompositorisch besonders schön – zeigt einen jungen Mann beim Lesen, dahinter ein Mädchen in dunkelrotem Gewand; vor diesem in dunklen warmen Farben unauffällig leuchtenden Werk verbringe ich eine gute Viertelstunde in purer Augenlust und gänzlich ungestört unter so wenigen Besuchern. – Heute kehrt in mehreren Tageszeitungen (unter den »Vermischten Meldungen«) eine Agenturmeldung von Reuters aus Nordkorea wieder. Dort sind (seien) mehrere ranghohe Offiziere der Volksarmee hingerichtet worden, weil sie die offiziell verordnete Trauerzeit für den frühern Staats- und Parteichef Kim Jong Il nicht eingehalten und durch Alkoholgenuss »entheiligt« haben (hätten). Das gleiche Schicksal haben (hätten) vier junge Frauen erlitten, die sich – wohl versehentlich – auf einer öffentlichen Bank bei feuchter Witterung »mit ihrem Geschlecht« auf die mitgebrachte Parteizeitung mit dem Portrait von Kim Jong Un gesetzt hatten, was als Majestätsbeleidigung gilt und mit dem Tod bestraft wird. – Die 3sat-»Kulturzeit« bringt live ein Gespräch von Cécile Schortmann mit Michael Haller. Mit Michael Haller war ich während meiner Studienzeit an der Universität Basel befreundet, später trafen wir uns wieder in Zürich, wo ich an der ETH unterrichtete und er sich als Chronist und Fürsprecher der 1980er Jugendbewegung profilierte. Seit dreißig Jahren gibt es keinerlei Kontakt mehr. Nun seh ich ihn auf dem Flachbildschirm erstmals wieder, naturgemäß stark gealtert, völlig ergraut, doch mit dichtem Haarwuchs, die Augen halb zugekniffen, die Pupillen verschattet, die Wangen leicht eingefallen, der Mund seltsam verformt, hinter der schmalen farblosen Unterlippe eine unregelmäßige Zahnreihe. Das einst rundlich-rosige Gesicht hat sich leicht gelblich verfärbt, der jungenhafte Charme von damals ist traurigem Ernst gewichen. Nein, ich hätte in diesem sympathischen alternden Mann den einstigen Freund und Kollegen nicht wieder erkannt, wäre mir nicht sofort seine Stimme wieder gegenwärtig gewesen … hätte mich nicht sofort seine Stimme an ihn erinnert. Haller, einst etwas vorschnell im Denken und oft polemisch im Ton, spricht mit kluger Gelassenheit, spricht wie vom Blatt, kein Zögern, keine Pause, keine Verlegenheitsfloskel, kein einziger Versprecher unterbricht seine knapp gefassten Ausführungen zum Verhältnis von Pressefreiheit und Politik in öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Ich höre ihm mit Interesse zu. Die Vertrautheit seiner Stimme kontrastiert schmerzlich mit seinem völlig veränderten Äußern. Mit Michael Haller, so wie ich ihn jetzt und hier wahrnehme, ist mir ein kleiner Teil meines Lebens und bin ich mir selbst als der, der ich damals war, fremd geworden.