6. Oktober

Um sechs Uhr wach. Noch tief die Nacht. Im Dunkel schweben, grau meliert vom Vollmondlicht, langfädige Nebelschlieren. Bei frühwinterlicher Frische schlägt mir in der Bäckerei wie eine unsichtbare Walze die Ofenhitze entgegen. Bin etwas zu früh. Außer den Baguettes und den Croissants gibt es noch nichts zu kaufen. Der Meister ist mit den Nuss- und Mohnbroten beschäftigt. Keine Zeit für schwärmerische Gespräche über Eos und Konsorten. – Bei der Abreise aus Sibiu sind am Flughafen zwei von sechs Schaltern geöffnet, einer für Business-, einer für Economypassagiere. Vor dem E-Schalter hat sich eine lange Warteschlange gebildet, ein halbes Hundert Leute mit auffallend viel Gepäck. Es wird gemächlich eingecheckt, ein einziger Angestellter steht für die Abfertigung, die Sicherheits- und Passkontrolle zur Verfügung. Der Mann wendet sich freundlich, fast familiär an die vor seinem Schalter passierenden Kunden, man macht Witze, erzählt Anekdoten, und Eile kommt auch dann nicht auf, als die Eincheckzeit, schließlich gar die Abflugzeit längst überschritten sind. – Zusammen mit dem Dichter Jean Daive stehe ich ziemlich weit hinten in der Warteschlange. Ich hatte ihn mir aufgrund seiner Texte wie auch seiner Stimme (die ich von France culture kenne) als hageren, asketischen Typ mit grauem faltigem Gesicht vorgestellt, doch hier in der sogenannten Wirklichkeit erweist er sich als ein kleiner korpulenter Mann, der in seiner weiten, um Knie und Knöchel wehenden Leinenhose noch kleiner und unförmiger aussieht. Er trägt heute ein bunt gestreiftes Hemd, auf dem Hinterkopf eine Baskenmütze, an den Füßen elegante Wildlederschuhe über bunt gestreiften Socken. Man könnte in ihm den typischen Franzosen und einen gelassenen Bonvivant sehen. Doch vom Klischee weicht er ab durch eine auffallende Rastlosigkeit … eine Erregtheit, die jederzeit … so empfinde ich es … in Empörung umschlagen kann. Daive ist unaufhaltsam unterwegs, neben mir beim Schlangestehen tritt er nervös am Ort, bittet mich immer wieder, seinen Platz zu halten und geht in der Wartehalle auf Wanderschaft, stets an den Wänden entlang, die dicken Fäuste auf dem Rücken gekreuzt. Den schweren vogelartigen Kopf hält er dabei gesenkt, er scheint beim Marschieren seine Schuhspitzen zu fixieren und lautlos vor sich hin zu reden. Zwei-, dreimal versuche ich, mit ihm ins Gespräch zu kommen, stelle die eine und andere Frage (zu Paul Celan, den er gut gekannt hat, zu Jabès, Guillevic, Tortel, die im Studio seine Gäste waren usf.), doch statt einer Antwort bekomme ich jedes Mal einen kurzen, fast unwirschen und völlig abwegigen Monolog zu hören; etwa so: »Vous… Mais vous, vous connaissez bien le latin …« Er möchte nämlich den Unterschied zwischen tractata und tractanda erklärt bekommen, wartet meine Erklärung aber gar nicht erst ab, sondern weist übergangslos darauf hin, wie gern er reist, vor allem deshalb, weil Reisen immer mit langen Wartezeiten verbunden sei: »J’adore attendre, l’attente est le souvenir, le survenu …«, und schon zählt er mir ungefragt die neun Namen seiner neun einstigen Frauen auf – Ava, Olga, Anna, Greta, Meta usf. Mit Olga habe er übrigens einen Sohn, »un mi-Russe«, ganz und gar »mauvais garçon, pas bon, pas réussi …« Also sei er eines Tags einfach vom Tisch aufgestanden und grußlos weggegangen, nicht zuletzt deshalb, weil er selbst sich als Frau genüge und weil er selbst ja auch ein Sohn sei. Wozu denn diese ewige Familie! Wir sind endlich beim Einchecken, als mir Jean Daive gesteht, er möge die Literatur eigentlich nicht, weder als Autor noch als Leser, viel wichtiger, viel interessanter sei doch das Bild, denn alles … »tout nous parvient par l’image«. Wir bekommen zwei weit auseinander befindliche Sitzplätze zugeteilt, verlieren uns schon beim Einsteigen aus den Augen und werden uns, da er bei der Zwischenlandung in Stuttgart auf seinen Flug nach Paris umsteigt, nicht einmal verabschiedet haben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00