7. Dezember

Die grandiose Zivilisations- und Fortschrittsmetapher von den Zwergen auf den Schultern des Riesen sollte man vielleicht, mit Bezug auf unsre dürftige Zeit, in ihr Gegenteil verkehren und von der Wünschbarkeit eines Riesen auf den Schultern so vieler Zwerge sprechen. Heute gilt es als vernünftig und erfolgversprechend, Hunderte von Zwergen anzuwerben, um den fehlenden Riesen zu ersetzen. – Nasskalte Nacht, eine schäbige Parkanlage hinter dem Museum … hinter der Universität. Ich sitze auf einer Bank aus Aluminium mit leicht geschwungener gelochter Sitzfläche; unter meinen Füßen knirscht feiner, mit Erdkrümeln durchsetzter Schotter; auf dem Schoss halte ich eine schwere junge Frau mit rosigem Gesicht unter strähnigem Schwarzhaar. Wir sind beide winterlich gekleidet, doch der Akt vollzieht sich ohne Eile und Behinderung. Die Schwere legt mir beim Reiten die Arme um den Hals, die Wange an die Wange. Ein kindliches Zwillingspaar, eng aneinander geschmiegt, schaut uns bei der Verrichtung aus lidlosen, wimpernlosen, ja eigentlich blicklosen Augen schweigend zu. Dabei stecken sie ihre kahlen Köpfe zusammen, reiben die Schläfen und Nasen aneinander, bis wir unser unaufgeregtes Spiel sein lassen, um nur nicht zu spät zur Aufführung zu kommen. Vor dem Theater – ein modernes hell erleuchtetes Gebäude von der Art des MoMA – stehn die Leute Schlange, doch irgendwie finden wir an ihnen vorbei problemlos Einlass. In der Halle erwartet uns Thea, die den bunten Zuschauerstrom geschickt zu den verschiedenen Galerien lenkt. Mich selbst schickt sie über eine ansteigende spiralförmige Rampe nach oben … nach hinten, und ich steige nun mit meiner Liebsten auf der Betonschleife immer höher, bis wir den Scheitel der Steilwand über dem Abgrund erreicht haben. Jetzt. Von hier aus … einzig von diesem Punkt aus haben wir die Übersicht über die gesamte Bühne und können sogar ein wenig hinter die Kulissen schauen. Beim Blick in die Tiefe befällt mich leichter Schwindel, doch stelle ich in diesem Moment fest, dass es sich um eine Kletterwand handelt, die besetzt ist mit vielen kleinen Halterungen, Ösen, Nischen und Nippeln, woran man sich halten könnte. Dennoch ziehe ich den Sprung vor, trete von der Rampe ins Leere und schwebe ganz allmählich, der Schwerkraft gehorchend, zur Erde, die nun als Bühne voll ausgeleuchtet ist. Gerade noch rechtzeitig, von Thea leicht geschubst, treffe ich zur Uraufführung meines Stücks im bereits verdunkelten Parkett ein. – Noch ein großer Traum heute Nacht, aber alles ist wie weggewischt – bis auf das Wort »gieb«. Ob das ein Bruchstück des »Giebels« ist? Oder hat’s mit »biegen« etwas zu tun? Ist es eine geheime Aufforderung zu »geben«? Vielleicht bloß eine »Beige« von Buchstaben! – Schon um drei Uhr nachmittags wird es dunkel; im herabsinkenden Dämmergrau schweben leichte schuppenartige Schneepartikel auf und ab … hin und her, als wären sie der Gravitation enthoben. – Evolution. Der Tanz kommt vor dem Schritt wie
aaaaader Biss vor dem Rachen. Und Pracht
aaaaain ihrer Wenigkeit ist der wärmeren
aaaaaErde zu schwer. Helle – was nie nicht
aaaaadämmert – wird zur Agonie der Nacht.
aaaaaSchnürt das Weibchen – Cheshire oder Enigma – durchs Diesseits
aaaaaist der Jäger gewarnt. Tarnt sich als Beutetier. Zeigt Fersen – seht! –
aaaaawie sie blitzen im Dickicht. Und ein bisschen höher – reglos gereckt –
aaaaader Nacken des Herrchens. Endlich breit genug für den Schuss.
– Viele … die meisten Leute möchten so sein wie die andern, jedenfalls wie jene andern, die sie als Vorbilder sehen, weil sie »angesagt« sind und einen »Promifaktor« haben. So wie die andern sein zu wollen, heißt nichts anderes, als anders sein zu wollen, wie man ist; heißt also – man sieht von dem ab, was man ist und wie man ist, um dem nachzueifern, was man nicht ist. Die weite Verbreitung solchen Eifers, dem bekanntlich auch mit Drogen, Medikamenten, Kosmetika oder sogenannter Schönheitschirurgie nachgeholfen wird, bestätigt den zunehmenden Trend zur Theatralisierung und Virtualisierung des Alltagslebens. Man lebt »als ob« – statt zu leben, überlebt man in einer eigens gewählten Rolle. Wie die andern sein zu wollen, ist das Gegenteil von anders sein. Wie die andern sein zu wollen, läuft aber auch darauf hinaus, das haben zu wollen, was andere ihr eigen nennen; und an dieser Stelle wird die Nachahmung zum Überlebenskampf.

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