9. Januar

Am Thema vorbei oder vom Thema weg zu schreiben, darin besteht Paul Valérys essayistischer Kunstgriff. Wenn er sich (was meistens der Fall ist) ein Thema vorgeben lässt, dann nicht, um darüber zu schreiben und es solcherart abzuarbeiten, sondern um einen Ansatzpunkt zu haben, einen »Aufhänger«, von dem aus ein womöglich ganz anderes thematisches Feld erschlossen werden kann. Das Thema ist hier also nicht Gegenstand, sondern Anlass des Schreibens. – Schon bei Homer (in der ›Ilias‹) und noch bei Marcel Proust (›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹) ist klar auszumachen, dass die Aufzählung von Orten, Protagonisten, Taten, Gegenständen primär als Klangereignis, und nicht als bloßes Inventar angelegt ist. Da solche Aufzählungen in aller Regel zahlreiche Namen enthalten, bleibt diese poetische Qualität naturgemäß auch in den Übersetzungen entsprechender Texte weitgehend erhalten. In epischen beziehungsweise erzählerischen Zusammenhängen nehmen sich Listen unterschiedlichster Art wie eigens integrierte selbständige Gedichte aus; hier, als Beispiel dafür, ein kurzer Auszug aus der Proust’schen ›Suche‹ (›Unterwegs zu Swann‹, 1913), in dem auch explizit auf Lautqualitäten wie »Ton«, »Accent aigu« oder »Wortausklang« verwiesen wird: »Wie hätte ich mich entscheiden können zwischen Bayeux, das in seinem edlen, rötlich schimmernden Klöppelgewand so hoch emporragte und dessen Spitze im altgoldenen Schein seiner letzten Silbe erstrahlte; Vitré, dessen Accent aigu die uralten Glasscheiben mit einem Rautenwerk aus schwarzem Holz versteifte; dem weichen Lamballe, dessen weißlicher Ton von Eierschalengelb zu Perlgrau übergeht; Coutances, normannische Kathedrale, die die golden sich rundende Fülle ihres Wortausklangs wie einen Turm aus Butter trägt; Lannion in dörflicher Stille mit dem summenden Ton der Fliege, die der Kutsche folgt; Questambert, Pontorson, komisch und naiv wie weißes Gefieder und gelbe Schnäbel auf der Landstraße zwischen diesen von Flüssen durchzogenen, poesievollen Stätten; Benodet, ein kaum verhafteter Klang, den der Fluss in sein Algengewirr hineinzuziehen versucht; Pont-Aven, weiß und rosa Flattern einer leichten Haube mit ihrem zitternden Widerschein im grünlichen Wasser eines Kanals; Quimperlé, besser befestigt und schon vom Mittelalter her zwischen den Bächen zu Haus, mit denen es sich berieselt und grau überperlt, so wie hinter den Spinnweben an einer Fensterscheibe die Sonnenstrahlen es tun, deren Aufblitzen sich im gedämpften Schein brünierten Silbers verliert.« Poetisch relevant sind Listen im Übrigen auch deshalb, weil sie erkennen lassen, was »alles« sich nicht aufzählen, nicht sagen lässt; denn jenseits einer jeden Aufzählung – im »Undsoweiter« − eröffnet sich erst eigentlich der Raum der Poesie. – Hier findet das Theatertreffen statt; im Freien sind die Holztische aufgestellt, Lichthasen hüpfen darüber hin. Viele Leute, meist junge Frauen und Männer, stehen oder gehen in Gruppen durch den schattigen Baumgarten. Eine forsche kleinwüchsige Schauspielerin mit auffallend spitzer Nase, auffallend weißer Haut, auffallend schwarzen, kurz geschnittnen Haaren erklärt mir, dass es heutzutage keine Stücke mehr brauche, ich solle doch einfach einen Essay schreiben, für die Bühne würden nur noch Essays gebraucht, aus Essays entwickelten die Regisseure ihre Stücke usf. Noch während mir die Kleine mit ihrem bedrängenden Gerede zusetzt, kommt eine andere Frau dazu, deren äußerliche Unscheinbarkeit beim zweiten Hinsehen auf seltsame Weise konterkariert wird durch eine Reihe von irregulären Einzelheiten. Die Frau hat ganz unterschiedlich geformte, auch farblich stark sich unterscheidende Augen, das eine lindengrün, das andere kastanienbraun; unterschiedlich geformt sind auch ihre starken Waden, die Hüfte steht schief, das linke Knie ist leicht nach innen eingeknickt. Über der breiten Stirn trägt sie eine ausfransende Frisur mit Pferdeschwanz, und ich denke mir … ich frage mich, wie ich nun weiterleben, was ich nun tun sollte, da es auf der Welt eben diese irreguläre Frau gibt, die niemand anderes … die nichts anderes ist als die Liebe. Leicht komme ich mit ihr ins Gespräch, doch eine gewisse Fremdheit bleibt, und die fühlbare Distanz ist nicht zu überwinden. Die souveräne Sanftheit der Frau verhindert allzu viele Fragen und lässt auch sonst keine Herausforderungen oder Übergriffe zu. Ich kann sie mir als Mutter gut vorstellen, nicht aber als Frau eines Mannes, und halbwegs gebe ich sie schon verloren, als sie unerwartet in die Hocke geht und ihren Rock über die kantigen Knien hochrutschen lässt – mit einer schönen Bewegung aus den Hüften schwingt sie sich wieder in die Vertikale hoch, wendet sich von der Welt ab, geht langsam ihres Wegs. Was bleibt, ist kein Verlust … ist nur ein leises Bedauern. Und dieses dauert nach dem Erwachen noch für eine Weile fort.

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