EIN HANDBUCH FÜR DAS SEIN
1
Geehrter Herr Heidegger,
Experte für metaphysische Fragen,
wenn ich wie ein Geschoss durch den Raum
meiner Zeit reise, träumt mir mitunter, dass mich
am Ausgang jemand erwartet. Statt eines Ausweises
verlangt er meine Seele und verweist mich ins
Obergeschoss, wo man Sternenstaub serviert.
Lieber Herr, misst man in Todtnauberg die Zeit anders?
Gar mit Sonnenzeigern auf dem unendlichen
Ziffernblatt einer Wiese? Lauert dort im Spiegel nicht ein
Gesicht, das einem keck in die Augen blickt und flüstert:
„Sag mir nichts!“ Wir wissen doch von der Not, vergraben am
Grunde des Grußes: „Wie geht’s?“
Mitten im Blick passieren wir einander wie zwei
Güterzüge auf transkontinentaler Strecke,
Container voller Konterbande.
2
Verehrter Martin, ich darf Sie doch so nennen?
Weniger feierlich, freundschaftlich? Heutzutage sind
Nachnamen ziemlich passé. Wahre Zelebritäten
nennt man, wie Marken in der Waschmittelwerbung,
nur beim Vornamen, und Sie sind berühmt,
Sie kennt man. Sie sind beliebt, ein bekanntes Immergrün,
das sich in die Seinshöhle bohrt.
Wenn Sie bei Ihren Todtnauberger Spaziergängen
Atem und Schritt des Gesprächspartners maßen,
zogen da dunkle Gesprächswolken auf, wenn
das Schwert mitten in den Satz fiel? Ins Tal gellt nur
noch das schwarze Rabengezänk über den Köpfen.
Rätselraten über Arnika, über Augentrost, über den Brunnen:
schafft es das Wort bis in die Mitte des Herzens?
3
Wenn ich, eine strebende Kapsel, durch andere
Gewebe rase, das eigene Wesen meine einzige Sorge,
sammeln sich die Jahre im Vorbeiflug zum Strauß,
den wir einander wie radioaktive Materie reichen,
gebunden mit einem höflichen „hältst dich gut“.
In den Fitnessstudios rudern wir uns in eine jüngere Form,
aber das Alter befummelt die Zellen; angestoßen sind sie
wie ein von der Finsternis aufgesammelter Fallapfel.
Lieber Herr, nur einen Moment, eine Minute oder zwei.
Fassen Sie bitte zusammen, vielleicht in übersichtlichen
Listen, mit wenigen Worten, anfängerfreundlich,
gern auch mit handlichen Anweisungen,
die wir uns an den Kühlschrank heften, oder mit Losungen,
die wir einander zuflüstern können,
wenn uns der Zweifel beutelt,
wie wir zu sein haben in der begrenzten Zeit.
umspielt Cvetka Lipuš mit unverzagtem Humor und Selbstironie Themen der individuellen menschlichen Existenz, deren hoher Anspruch an sich selbst von fragiler Körperlichkeit und allwaltender Schwerkraft konterkariert wird. Die Grundbestandteile des menschlichen Körpers, ihre feste Verbindung, ihre irdische Verankerung lassen die Sehnsucht nach einem Aufschwingen, nach einer Sphäre außerhalb von Raum und Zeit, als schier unerfüllbar erscheinen. Und doch gilt es, der Zerfallssucht kantisch entschlossen entgegenzutreten, sich aufzurichten und sehnsuchtsvoll Frau Luna zu bitten, ihren Zopf herabzulassen…
Otto Müller Verlag, Klappentext, 2010
„Der Körper zittert, wünscht sich Aufbruch, egal wohin“, so heißt es an einer Stelle in Cvetka Lipuš’ neuem Gedichtband, in dem Knochen und Sehnen, Bilder der Erstarrung und der Unruhe das poetische Skelett bilden. Ausgangspunkt ist eine Verletzung: Die „hartnäckige Sehnsucht“ liegt „in den letzten Zügen“. Durch „vorsichtiges Atemholen“ soll die Wunde geschont werden. Doch spürt man in sich hinein, ist da ein Raunen in den Zellen, in denen statt Leben „temperierter Schmerz eingestellt ist“, weil die „Alltagsverrichtungen“ nicht überzeugend genug das Dunkel vertreiben. Lieber hält sich der ängstliche Leib in seinem melancholischen Zustand mit „Wortekleingeld“ und mit plüschigen Haustieren über Wasser, während im Treppenhaus das Licht an- und ausgeht wie auf einem Schiff in Seenot.
So arrangiert, wird alles aufgeschoben in dieser „Zeit der Zauberer und Magier“, mit ihrem „morgen ja morgen“. Die Krisen jedoch sind handfest und real. Die Autorin beschreibt in unaufgeregter Sprache, wie Menschen in Trägheit verharren: Rituale und Talismane, Gemüserezepte und Gespräche über Naturkatastrophen. Durch Verschiebungen des Blickwinkels unternehmen die Prosagedichte den Versuch, Bewegung in alte Knochen zu bringen und Glück in der Finsternis zu finden. Doch sie finden wenig mehr als den Mond als Sinnbild der Sehnsucht, der die Fesseln der Schwerkraft überwunden hat, und das Mantra „zieh dir die Lippen nach und beginne von neuem“, auch wenn „die Geschichte / kein glückliches Ende nimmt“.
Der sechste auf Deutsch erschienene Gedichtband von Cvetka Lipuš erkundet leicht und humorvoll Wege zum Aufbruch. Bleibt der Erfolg letzthin auch im Vagen, ein Trost findet sich: Die Gedichte selbst, als „Knochen zu Atem genäht“, fügen sich in diesem Band „zu einem neuen, helleren Körper“.
Cvetka Lipuš und Lado Jakša im Literaturhaus Trubarjeva am 31.5.2018.
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