Cyrus Atabay: An diesem Tage lasen wir keine Zeile mehr

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Cyrus Atabay: An diesem Tage lasen wir keine Zeile mehr

Atabay-An diesem Tage lasen wir keine Zeile mehr

TRABANT

Eingefangen
von diesem Schwerefeld,
bestimmt,
es zu umkreisen,
vielleicht aus dem gleichen
Ausgangsmaterial,
aber in Prüfungen
anders wahr geworden.
Gestein,
von deiner Gegenwart
aus der Erstarrung erweckt:
beständiger Sonnengefährte,
unerbittlicher Sonnenwind.

 

 

 

„Die moderne europäische Lyrik

hat an Kühnheit der Bildlichkeit den Orient eingeholt, hat sich ihm genähert. In unseren Dichtersprachen ist die Möglichkeit erobert worden, das Nächste und das Fernste, Geschautes und Gehörtes, Gedachtes und Empfundenes neu zusammenzubringen. Das wird Cyrus Atabay, dem persischen Prinzen, den Zugang in die geheimeren Gemächer unserer Sprache, in der er vom siebenten Jahr an aufwuchs, eröffnet haben, so daß er ein deutscher Poet wurde. Altes Persisches und modern Westliches begegnen und verbinden sich in ihm.“ so schrieb Max Rychner in seinem Nachwort zum ersten Gedichtband von Cyrus Atabay Einige Schatten (1956). Immer nur Gast unseres Landes, ist Atabay in unserer Sprache längst heimisch geworden. Dem ersten Band folgten andere Gedichtbände; auch Übertragungen persischer Dichtung. So hielt er sich Orient und Okzident in der Schwebe. Die geographische Ruhelosigkeit, die sein Leben mit immer anderen Aufenthalten ausmacht, findet sich – in anderer Form – in seinen Gedichten wieder. Die reine Anmut seiner ersten Verse ist gebrochen, ein Sprung teilt in zwei Hälften. Hier der Ton der Überzeugung, dort Zweifel; hier ein erreichtes Ziel, dort die Suche danach; Gefundenes, das unauffindbar ist; Erinnerung an etwas Nichtgewesenes; der Ausdruck der Ruhe verrät sich als Traum, als die Möglichkeit, Ruhe zu finden. So auch – im Widerspruch – verhält sich die Sprache, von der trotzigen prosaischen Notiz reicht sie bis hin zum sich abwendenden Gedicht und weiter zur Prosa als lyrische Form.

Insel Verlag, Klappentext, 1974

 

Regeneration des Gedichts

(…)

Mehr als Hermann Kesten, mehr als Harald Hartung ist der 1929 in Teheran geborene Cyrus Atabay genuiner Poet. Seit 1956, eingeführt von Max Rychner, sind von ihm fünf Gedichtsammlungen und Übersetzungen iranischer Lyrik und persischer Mystik erschienen und nun der Gedichtband An diesem Tage lasen wir keine Zeile mehr (Insel Verlag 1974).
Der Lyriker Cyrus Atabay sieht, hört, schmeckt, empfindet, erfährt und erfaßt die Welt dichterisch, ohne Umweg als eigene sinnlich-sprachliche Qualität, als „vollkommen sinnliche Rede“. Überspitzt gesagt, er gebraucht seine Verse nicht instrumental, um etwas von außerhalb mitzuteilen, sondern seine Verse sind seine „Botschaft“.

Weißt du,
es müßte aus den Händen
des Schnees sein.
Aus den Stimmen
selbstvergessener Blumen.
Unsere Sprache,
die Sprache
des strömenden Wassers.

„Die Sprache ist meine Heimat“, schrieb Cyrus Atabay einmal. Es ist die deutsche Sprache, die der etliche Jahre in London, zeitweise in Teheran lebende Pendler zwischen Europa und Persien seit seiner Kindheit und nach längeren Aufenthalten in Berlin, in der Schweiz und in München spricht. Etwas von der geographischen Ruhelosigkeit zieht durch seine Gedichte, „in nichts verankert“, „nicht seßhaft“, „keine Begrenzungen“ hinnehmend. Was allein zählt und Halt gibt, ist das „beständig Zarte“, der „Zaunkönigsraum“ – „dieser kleine Weltausschnitt, / den ich mit Worten abstecke, / umgestalte und verwandle“.
Die Gedichte sind äußerst geschmeidig, melodisch, durchsetzt von orientalischer Bildlichkeit und Anmut, ohne dabei zum bloßen kalligraphischen Muster zu gerinnen. Manches in den frühen Gedichten Störende, der gelegentliche Narzißmus oder die allzu behende Flucht in den Traum, wurde nun von einer selbstsicher gehandhabten poetischen Ökonomie eingeholt. Das zeigt eines der schönsten neuen Gedichte mit dem Titel „Schutzfarben“.

Da habe ich mich verstellt,
um meine Verfolger zu täuschen,

da habe ich mich totgestellt,
um dem Henker zu entkommen,

da habe ich mir die Gedanken
meiner Häscher geborgt:

und doch war in all der Zeit
der Traum, den ich träumte, unversehrt,

in all der Zeit,
in der ich die Schäden litt,

so weit, daß ich mir selbst
unkenntlich wurde,

indes mein Traum
mich erkannte.

Das Gedicht bringt Fluchtversuche und Irritationen bis zum „mir selbst unkenntlich“ ins Spiel und wird aufgefangen von dem, was „unversehrt“ blieb, was der Lyriker „mein Traum“ nennt. Wiederholt nimmt Cyrus Atabay in seinen Gedichten dieses Grundthema auf, das Ausgeliefertsein, das von Zweifeln bedrängte Fragen nach dem eigenen Stand und das Sicherkennen in der schwebenden Gewißheit des Traums, „der nicht Raum läßt / für eine andere Welt“. Im antipodischen Verhältnis zur „anderen Welt“ greift Cyrus Atabay das Thema der Zeitgenossenschaft an seiner verwundbarsten Stelle auf. Man wird heute nur wenige Lyriker finden, die ihre Gedichte so konsequent dem Verletzbaren, „beständig Zarten“ und „Spurlosesten“ zuwenden, die aus solchem Antrieb ihr Gedichtschreiben begreifen und rechtfertigen.

Eberhard Horst, Neue Rundschau, Heft 3, 1974

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Jürgen P. Wallmann.: Cyrus Atabay: An diesem Tage lasen wir keine Zeile mehr
Die Tat, Zürich, 31.8.1974

 

Begegnung mit einem persischen Dichter deutscher Sprache

Meine Bekanntschaft mit Cyrus Atabay fällt in das Jahr 1986. An einem Sonntagnachmittag Ende Oktober, bei dem Botschaftsrat a.D. Dr. Erich Sommer in München, sah ich ihn, eher zufällig, zum ersten Mal, kannte ihn aber vom Hörensagen. Ich kam mit etwas Verspätung – der russische Tee wurde bereits gereicht – und konnte den Anwesenden nicht vorgestellt werden, deren Geplauder allmählich verstummte. Prinz Atabay, wie er von manchen später auch genannt wurde, begann mit leiser und melodischer Stimme in der für ihn charakteristischen höheren Tonlage eigene Gedichte vorzutragen.
In einer Art sanften Fließens gab er Schilderungen von Impressionen und Naturerlebnissen im Herbst – der Zeit, in der wir uns gerade befanden – über den aufsteigenden, herben Duft aus regennassem Boden oder das Verfärben und Verwelken von Blättern, ihr Abfallen von den Bäumen, wo „das dämmernde Laub schwebend und schwirrend sein fliegendes Gewürz ausstreut“, wie er es stimmungsvoll in einer Verszeile ausdrückte. Der unmittelbar verständliche Stil dieser Gedichte, mit der eigentümlich persönlichen Mischung aus Empfindsamkeit und übersichtlicher Form, fiel mir angenehm auf, denn ich bemerkte keine Anklänge an „absolute Poesie“ und deren Spiel mit dem bloßen Eigenwert von Worten. Atabay berührte mit sensibler und reiner Kunstsprache das Geheimnis von Vergänglichkeit und Tod in einem ihm eigenen Klang von schwebender Wehmut, der mir seitdem in Erinnerung geblieben ist. „Dies ist die Entdeckung, daß die Wahrheit mit der Gewißheit des Herzens beginnt“, so hieß es in einem Gedicht.
Atabays mitunter symbolhaft verschlüsselte und stets aller Alltäglichkeit entrückte Sprache empfand ich als persönliche, existentielle Beschwörung, gar als kompromißlose Bloßlegung seines Ich. Diese Einsicht vermittelten mir Zeilen aus dem ein Jahr vorher erschienenen Prosperos Tagebuch, die er auch an diesem Spätnachmittag vorlas:

Ja unser Sinn ist auf den Traum gerichtet
wir sind Bürger der Freiheit
auf einem Geisterarchipel
(…)
Doch unaufhaltsam geschieht uns
was der Welt geschieht
ihre Emanationen dringen in unsere Fibern
indes die Instrumente darauf hindeuten
daß unsere Zerstörung schon beschlossen ist

Damit schlug er einen dunklen und tragischen Ton an, mit Erfahrungen einer ständigen inneren Bedrohung. Seinen Wort-Bild-Kombinationen über eine illusionäre Freiheit auf einem Geisterarchipel, die er in Verbindung zur Fatalität einer beschlossenen Zerstörung setzte, haftete etwas Intimes und Schicksalhaftes an, das mich betroffen machte. Beim Zuhören bemerkte ich, daß Prinz Atabay sehr einfach gekleidet war, geradezu dezidiert unattraktiv bescheiden, fernab jeder modischen Eleganz, worin ich keinen besonderen Vorteil sehen mochte. Ein Gedanke, den ich mir insgeheim vorwarf und schnell beiseite legte.
Vielleicht gerade wegen dieser Unauffälligkeit seines Äußeren erhielt seine leicht kauzige und lässig zusammengekauerte Körperlichkeit etwas von innen her Leuchtendes, gar still Beseeltes beim Lesen seiner Lyrik aus Trauer, Verzweiflung und, wie mir schien, chimärischer Hoffnung, wenn er sagte:

Aus ihrem ehrwürdigen Testament
fällt dir ein Kompaß zu
der dir den Weltteil anzeigt
der dir fehlt
du wirst als Schiffbrüchiger
sein Ufer erreichen…

Atabay trug seine kristallene und weltschmerzliche Poesie mit insistierender Unaufdringlichkeit vor, mit einer empfindsamen Einförmigkeit auch, die mich an klagende orientalische Tonreihen erinnerte. Beim Lauschen auf seine noblen Dichtungen, in denen das Esoterische und Artistische sich reflektiert und kunstvoll verbinden, fühlte ich mich in einen merkwürdigen Zwischenzustand von einfühlender Aufmerksamkeit und somnambuler Empfänglichkeit versetzt. Ein Befinden, wie es mir vom Betrachten abstrakter Bilder her bekannt war.
Seit jenem Nachmittag bei Dr. Sommer entstand zwischen Cyrus und mir eine freundschaftliche Sympathie, die von beiden Seiten mit einem nicht näher erklärbaren Abstand gepflegt wurde. Es war eine Mischung aus höflicher Zurückhaltung und – von meiner Seite – einer Rücksichtnahme auf seine Verletzbarkeit und das, was ich als seine Aura von Einsamkeit empfand. Wir hatten lange Gespräche miteinander, besuchten Galerien, Theateraufführungen, Museen und haben viel zusammen gelacht bei nächtlichen Ausflügen. Cyrus hatte reichlich Humor, vielleicht mehr in der englischen Art, gemischt mit einem Gran Snobismus. Er sprach lobend von London, wo er längere Zeit gelebt hatte. Doch wollte er als Dichter deutscher Sprache in Deutschland leben, was nicht frei von Unwohlgefühlen geschah. Er war ein Kosmopolit, der nirgendwo zu Hause war – der Urtyp des Wanderers.
Mir gefiel seine stark ausgebildete Sensibilität, dann seine engagierte Art, auf Kunst zu reagieren – wiewohl er da betont subjektiv sein konnte –, auch sein Mut, Dummheit, Heuchelei und Konformismus von Leuten die Stirn zu bieten. Er war ein Mensch des Widerspruchs und darin ein Schüler Nietzsches, den er sehr verehrte. Obschon Cyrus Atabay durch Herkunft und Erziehung ein privilegiertes Leben führte und den Aufgaben des Alltags oft hilflos gegenüberstand, besaß er ein erstaunlich schnelles und sicheres Urteil über Menschen und Dinge, über die er sich witzig und sarkastisch bis vernichtend äußern konnte, wenn sie seinem elitären Standpunkt nicht entsprachen. Sein Dichtertum absorbierte ihn, und er lebte ganz in seinen eigenen Vorstellungen. Doch war er im Leben gewappnet gegen schädigende Träumereien und Illusionen, womit nicht gesagt sei, daß er ein Wirklichkeitsmensch war.
Er wohnte in einem mit Jugendstilelementen verzierten Altbau in der Schwabinger Herzogstraße. Dorthin lud Cyrus mich manchmal zum Tee ein. Die Räume mit den alten englischen Möbeln im Victorian Style, den persischen Wandbehängen aus Seide, den orientalischen Teppichen und Kunstgegenständen atmeten noble Behaglichkeit und Wohlhabenheit. Die umfangreiche Bibliothek in den Regalen stellte der Gastgeber als seine unabdingbare Lebensbegleitung vor und bedauerte, daß noch Mengen von Büchern in Kisten verpackt seien, was seinem Lebensstil etwas Provisorisches gab, so, als ob er jederzeit wieder ausziehen wollte. Das Improvisierte und Bohemeartige dieses Zustands empfand ich als sympathisch bei einem Prinzen, der zum engsten Kreis der persischen Kaiserfamilie gehörte und in direkter Linie von Schah Reza Pahlewi abstammte, einem morgenländischen Feudalherrscher, der einen Mullah mit der Peitsche geschlagen hatte, weil dieser sich seiner zweiten Heirat widersetzt hatte, wie Cyrus mir beim Eingießen des Tees erzählte. Der Vater war Arzt, hatte in Berlin bei Professor Sauerbruch Medizin studiert und stand, als Direktor eines Teheraner Militärhospitals, im Rang eines Generals. Cyrus’ Beziehung zu beiden Elternteilen war höchst problematisch, seit früher Kindheit. Besonders schlecht schien die zu seiner Mutter gewesen zu sein, einer Halbschwester des letzten Schah Mohammed Reza Pahlewi. Zur Kaiserin Farah Diba in New York – die ihn wohl schätzte und auch unterstützte – unterhielt er ein gutes verwandtschaftliches Verhältnis und sprach von ihr mit Sympathie. Zur politischen und historischen Bedeutung der Pahlewis hat er sich nie geäußert. Wie schreibt Prospero in seinem Tagebuch?

Durchkreuze den blinden Plan
geh fort aus dem Land
aus der Betrübnis
die du selbst
und deine Vorfahren dir angetan

Häufig kam er zu mir – auch unangemeldet mit dem Fahrrad –, denn er mochte meine mit modernen Bildern und alten Möbeln vollgestopfte Wohnung gern, draußen im Grünen, an der Grenze von Bogenhausen. Ich wunderte mich immer wieder über seine einfache Kleidung und sagte ihm einmal: „Du machst so gar nichts aus Dir, Cyrus“, worauf er mich erstaunt mit seinen dunklen, orientalischen Augen ansah und entgegnete:

Meinst Du? An so etwas habe ich nie gedacht.

Er war überhaupt ein ganz unmaterialistischer Mensch, in seiner Ausdrucksweise und Lebensführung von klassischer Einfachheit, die etwas Zeitloses hatte. Cyrus war im Essen und Trinken mäßig, doch mußten die Speisen und Getränke von bester Qualität sein. Die Feinkostgeschäfte Käfer und Dallmayr waren ihm bestens vertraut.
Einmal durchbrach er – vielleicht in einem Anflug von Melancholie – die zwischen uns beiden unausgesprochen vorhandene Linie der Distanz und sagte emphatisch:

Du bist glücklich, aber ich bin unglücklich.

Diese Äußerung seiner Tragik erschütterte mich tief. Ich spürte eine unheilbare Gefährdung und Einsamkeit, die – so meine ich rückblickend – unabdingbar verbunden mit seiner Berufung als Dichter zu sehen sind, und ich bemühte mich, die Vorstellung von Glück, die er von mir hatte, sogleich herunterzuspielen.
Wir trafen uns zuletzt Mitte Dezember 1995, am Abend der Eröffnung, zur Ausstellung des Malers Zoran Music – eines gemeinsamen Freundes – in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Beim Rundgang blieb Cyrus wie gebannt vor den Dachauer KZ-Bildern stehen, mit den nackten Leichen und Leichenbergen in halluzinativem Licht, Musics Zeugnissen des Schreckens, der Hölle. Ich sah Cyrus von der Seite an. Er betrachtete fasziniert diese Todesikonen, schweigend, und, wie mir schien, verstört, mit schmerzlichem Gesicht, wie ich es nie bei ihm bemerkt hatte – vielleicht unter der Vorahnung seines eigenen Todes stehend, der, unerwartet für seine Freunde, vier Wochen später nach langem Koma eintrat.
Er verabschiedete sich schnell von Music und mir und verschwand. Ich habe den Prinzen Atabay nie wieder gesehen.

Wolfgang Sauré, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagant. Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

 

 

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