WIE VIELE HERRLICHE VORSÄTZE
Wie viele herrliche Vorsätze, Spiele und Listen gab es,
Als uns, meine Freunde,
Die Wolken, die waldesrühmlichen Statuen
Und über der schmalen Straße die Johannisadler-
aaaaaEngel beschützten.
Ihr solltet verlieren und wußtet es nicht.
Ihr solltet verlieren und ich habe es gewußt,
Ohne die Mitwisserschaft, die vergebliche, euch oder mir zu bekennen.
Nun ist es vollbracht. Der Wind spielt mit Schatten von Namen,
Bis die Schneestille folgt auf die Dynastie.
Wer Verstand besaß, wählte Doktrinen,
In denen der teuflische Moder, flimmernd, geleuchtet hatte.
Wer Herz besaß, ließ sich zur Nächstenliebe verführen.
Wer Schönheit wollte, diente dem Stein auf dem Stein.
So zahlte unser Jahrhundert heim
Denen, die seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung vertrauten.
Und was hat Gewinn bedeutet? Mitten im Wort zu verstummen,
Den Schrei zu vernehmen, der Lüge zu huldigen, weil die Wahrheit gefallen war,
Kumpanei zu heucheln, an Gräbern vorbei,
Und sich zu den Auserwählten zählend,
Mit ganzem Körper die Scham
Zu empfinden.
Das Schicksal von Czesław Miłosz entbehrt nicht des Paradoxen. Seit 1951 in der Emigration lebend, vom offiziellen Polen verschwiegen oder in den Lexika mit abwertenden Bemerkungen bedacht, wurde er nach dreißig Jahren, geradezu als Symbol der im August 1980 eingeleiteten Wandlung, als „verlorener Sohn“ wiederentdeckt, empfangen und als Nationaldichter gefeiert; ein elitärer Dichter, von einem kleinen Kreis von Kennern insgeheim gelesen, fand unversehens bei einer großen Leserschaft begeisterte Aufnahme und Resonanz; die ungewöhnlich hohen Auflagen seiner Bücher waren sofort nach Auslieferung vergriffen. Im Ausland, wo er vor allem als Verfasser von Verführtes Denken und als Übersetzer der Lyrik polnischer Dichter jüngerer Generation bekannt war, begann er seine literarische Karriere, deren Krönung die Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1980 war, erst im Jahre 1973 dank den englischen Übersetzungen seiner Dichtung.
Es liegt Gesetzmäßigkeit darin, daß Miłosz von Anfang an neben Anerkennung auch Verständnislosigkeit oder nur teilweise Verständnis erntete. Die Aufmerksamkeit der Kritik erregte er bereits mit seinem ersten Buch, dem Gedicht von der erkalteten Zeit (1933). Einige Jahre später, nach der Veröffentlichung von Drei Winter (1936), wurde er zum bedeutendsten Dichter seiner Generation erklärt, wobei seine Gedichte recht einseitig interpretiert wurden: die Kritiker hoben seine Verbindung zur Dichtung der polnischen Romantik hervor, eine ähnliche Gestaltung der Satzmelodik, die Reminiszenzen der romantischen Landschaft und den romantischen Geist seiner Vision der untergehenden Welt, ließen dagegen außer acht, daß die romantische Tradition bei Miłosz nur der Katalysator für eine originale Umgestaltung der Prämissen der Avantgarde und des späten Symbolismus ist. Die junge Generation der Warschauer Dichter der Kriegszeit wiederum – Baczyński, Gajcy, Trzebiński – sah in Miłosz den „Katastrophisten“, der die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs voraussagte. Dabei ist dieses Vorgefühl bei Miłosz nur ein Teil seiner eschatologischen Weltschau, die zwar auf ein Ende, doch nicht so sehr in der geschichtlichen als vielmehr in der metaphysischen Dimension ausgerichtet ist. Nach dem Kriege galt Miłosz als Patron der klassizistischen Strömung in der polnischen Poesie – mit der Verhaltenheit seiner Metaphorik und der sprachlichen Transparenz seiner Gedichte, ihrem didaktischen und moralistischen Ton sowie der Aufwertung scheinbar längst überholter Gattungen (Ode, Traktat). Dabei übersah man den ironischen Unterton dieser Lyrik und die von klassischer Kälte und Ruhe weit entfernte, intellektuelle und emotionale Spannung. Mit einem Wort – Miłosz ist ein Dichter, der sich immer wieder einer grobschlächtigen Einordnung und landläufigen Formeln entzieht. Sein Ort ist fast immer „anderswo“, nicht dort, wo ihn die Literaturkritik oder die Leserschaft vermuten.
Bedeutet dies, daß Miłosz’ Dichtung auf der Jagd nach Neuheit in immer anderer Verkleidung auftritt? Verschiedene Stile an- und ablegt und um der Abwechslung willen auf Vorbilder, gegensätzliche Überlieferungen zurückgreift? Nein, denn sie läßt vielmehr diese Elemente in dialektischer Spannung und widerspruchsvoller Eintracht nebeneinander bestehen. Milosz’ dichterisches Universum entwickelt und bereichert sich eher in der Tiefe als in der Breite. Allem Anschein zum Trotz ist es in seiner innersten Schicht äußerst einheitlich; es ist auf den ersten Blick erkennbar an einer Reihe von immer wiederkehrenden Themen und Symbolen, ebenso an der dichterischen Kontur des Worts. Miłosz schreibt eigentlich immer ein und dasselbe, vielfältige und vielnamige Gedicht. Oder anders gesagt: er entwirft immer neue Fassungen ein und desselben Gedichts. Dabei läßt er keine Möglichkeit außer acht, als suche er in seiner poetischen Erfahrung das Wesentliche vom Kulturerbe des Mittelmeerraums nachzuvollziehen. Die Bibel trifft sich in seiner Lyrik mit der Antike, das Mittelalter mit dem Barock, die Romantik mit dem Klassizismus. Als wolle er – wohl wissend, daß das Vorhaben vermessen ist – die Summe der menschlichen Erkenntnis nachbilden.
Woher kommt dieses Streben? Welche Kraft treibt die Imagination des Dichters an? Die Quellen seiner weltanschaulichen und künstlerischen Haltung sind in der verwickelten Biographie und sozialen Genealogie zu suchen, aber auch in den Umständen, die sein Frühwerk prägten. Es kommt selten vor, daß jemand wie Miłosz die wichtigsten Erfahrungen eines ganzen Zeitalters umfaßt. Die Kindheit verbrachte der Dichter in Litauen, in enger Berührung mit einer urtümlichen Natur und geborgen in einer Gesellschaft, die vom Fortschritt der Zivilisation weitgehend unberührt geblieben war, die noch althergebrachten, nicht selten heidnischen Gebräuchen und Sittengrundsätzen folgte. Gegenwärtig lebt Miłosz in den Vereinigten Staaten, der Hochburg des modernen technischen Denkens, wo man mit jedem Schritt eine neue Ära der Zivilisation betritt. Der Dichter beobachtet, wenn er durch das Campus der Universität in Berkeley geht, einen eigenartigen Ausverkauf aller Ideologien, Moden und Verirrungen des 20. Jahrhunderts. In diese Klammer fügen sich die Erlebnisse der frühen Kindheit ein, die immer wieder mit verstecktem Grauen zum Durchbruch kommen – die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolution, die Miłosz mit eigenen Augen sah, als er den Vater auf dessen Reisen durch das Zarenreich begleitete. In die Reifejahre des Dichters fallen Entstehen und Expansion des Totalitarismus im 20. Jahrhundert und die Greuel des Zweiten Weltkriegs. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß Miłosz aus jener Region Osteuropas stammt, die von der Katastrophe des letzten Krieges besonders stark in Mitleidenschaft gezogen wurde; die baltischen Staaten, unter ihnen auch Litauen, verloren ihre Unabhängigkeit und verschwanden von der Weltkarte.
Zu bedenken ist auch, daß der Dichter seine Jugendjahre in Wilna verbrachte, am Schnittpunkt verschiedener nationaler Elemente – des polnischen, litauischen, weißruthenischen und jüdischen Einflusses. In einer Stadt, die bei aller provinziellen Zurückgezogenheit ihre kulturellen Ambitionen nicht aufgegeben hatte und sich einer hochangesehenen Universität und einer guten Bühne rühmte, einer Stadt, die einen wachen Sinn für die Gegenwart besaß und aufmerksam den Widerhall der russischen Ereignisse registrierte, zugleich aber ihre romantische Tradition pflegte. Dieser Schmelztiegel verschiedener Kulturen entwickelte in Miłosz das Verständnis für Fremdes und Andersartiges, den universalistischen Blick und die Achtung vor individuellen Werten, jedoch auch die Abneigung gegen alle Erscheinungsformen von Partikularismus, Chauvinismus, Rassismus und Gewalt. Trotzdem liegt die eigentliche, innere Heimat des Dichters nicht im Wilna der dreißig er Jahre, das von heftigen nationalen Auseinandersetzungen zerrissen und von einer steigenden Flut antisemitischer Stimmungen bedroht war, sondern in seiner Imagination, in der Vergangenheit Litauens, der Zeit des Großfürstentums im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, da landesweit religiöse und gesellschaftliche Toleranz herrschte und verschiedene Nationalitäten in vollkommener Symbiose zusammenlebten.
Die nostalgische Hinwendung zur Vergangenheit der Adelsrepublik führt uns auf die Spur der sozialen Herkunft des Dichters, der zu den letzten Vertretern einer bereits im Erlöschen begriffenen Kulturformation gehört. Als Nachkomme eines alten Geschlechts wuchs er – wie es der Roman Tal der Issa eindrücklich darstellt – in einem Herrenhaus am Ufer der Niewiaża auf, wo die Zeit stehengeblieben war und wo den Lebenslauf die Jahreszeiten und der Wechsel des liturgischen Kalenders wie in alter Zeit bestimmen. Sitten und Überlieferungen der Vorfahren waren dort unverändert geblieben, und christliche Vorstellungen verbanden sich ungestört mit althergebrachtem Aberglauben und Vorurteilen. Seinen ersten Unterricht erhielt Miłosz von seiner Mutter; später zog er nach Wilna, wo noch immer das 19. Jahrhundert dauerte. Er studierte und schrieb Gedichte im Kreis seiner Freunde, mit denen er einen Klub gründete, der unmittelbar an die Tradition des geheimen Studentenbundes der Philomathen im Zeitalter der Romantik anknüpfte, stieß ständig auf Spuren des größten Dichters der polnischen Romantik, Adam Mickiewicz, auf dessen Dichtung er im eigenen Schaffen immer wieder zurückgreifen wird. Miłosz’ Lebenslauf beginnt also ähnlich wie der Großteil der Schriftstellerbiographien des letzten Jahrhunderts und bestätigt einmal mehr die These von der adeligen Genealogie der polnischen Intelligenz. Diesen etwas archaischen Zug von Miłosz’ Persönlichkeit hat Witold Gombrowicz einmal scherzhaft, aber durchaus treffend, umschrieben: „Ich stelle mir dich vor als litauischen Edelmann, der irgendwo in den Sümpfen sitzt, zwanzig Meilen abseits von der nächsten Kreisstadt, wie er Fliegen totschlägt und sich darüber Gedanken macht, daß ihm seine Gattin vor zwanzig Jahren Pflaumenpiroggen anstelle von Sauerkirschpiroggen vorsetzte und was das zu bedeuten hat.“ Zweifellos bewahrte Miłosz in seiner Haltung viel vom Ethos des Adels. Dazu gehört die tiefe Verbundenheit mit Familiensitz und Familiengeschichte; die Überzeugung, daß wahre Werte nur in der kleinsten gesellschaftlichen Gruppe entstehen und überleben können, im Kreis der Familie, der Freunde, der Nachbarn; die besonders innige Beziehung zur Natur und damit zum ganzen Kosmos; die innere Freiheit, welche die Mitmenschen mit nachsichtiger, ironischer Distanz sehen läßt und bewirkt, daß der Dichter sich als Bürger sowohl seines heimatlichen Winkels als auch der ganzen Welt empfindet; der Sinn für Humor, der Stolz und die Beharrung auf individuellen Freiheitsrechten; schließlich der Glaube an eine metaphysische Ordnung des Seins. Viele dieser Überzeugungen werden sich natürlich unter dem Druck der Erfahrungen der heutigen Zeit wandeln, doch ihr Kern wird unberührt bleiben. In mancherlei Hinsicht erinnert Milosz an einen Vertreter der Adelsgesellschaft, der sich in unser Jahrhundert verirrt hat und mit wachsendem Grauen dessen Wahnwitz beobachtet.
Rückzug und Abstandnahme kennzeichnen Miłosz’ literarische Anfänge, die in eigenwilliger Weise Marxismus und Katholizismus, Traditionalismus und Avantgardismus verbinden. Die ideologische und sozialkritische Publizistik Miłosz’ zählt nicht zu seinen künstlerischen Höchstleistungen und wird vom Dichter in den Sammlungen seiner Werke mit Stillschweigen übergangen. Danach griff er sehr bald wieder auf die romantische Tradition zurück oder experimentierte mit modernen poetischen Formen.
So ist seine erste Schaffensphase ein eigenartiges Konglomerat verschiedener Poetiken vom Futurismus über den Expressionismus und die Avantgarde bis zum Spätsymbolismus. Das Sprechen „mit fremder Stimme“ wird für Miłosz seitdem zu einem Hauptmittel seiner schriftstellerischen Strategie. Eine Wende bedeutete zweifellos der Aufenthalt in Paris in den Jahren 1934-1935 und die Bekanntschaft mit Oscar de Milosz. Er war es, der die Weltanschauung seines entfernten Verwandten aus Polen entscheidend prägte und dessen dichterische Vorstellungskraft anregte. Zeugnis dieser Wende ist der Gedichtband Drei Winter mit seiner an Oscar de Milosz erinnernden Technik des plastischen Bildaufbaus, der schwerdeutbaren symbolischen Dichte der Bedeutungsbezüge und der Faszination von Vergänglichkeit und Tod.
Miłosz ist immer „anderswo“, nicht nur für seine Leser, sondern auch in seinem Innern, in seinen wesenhaften Bindungen. Sein „Ort“ liegt in den Bildern der versunkenen Vergangenheit seiner Heimat, im unwiederbringlichen Land der Kindheit, in der verschütteten literarischen Tradition. Das bedeutet freilich nicht, daß er einer Spielart des modischen Eskapismus huldigt, vor der Wirklichkeit in den Traum oder in den Bereich der selbstgenügsamen Inspiration flieht. Im Gegenteil, er ist dem Leben und der Schönheit der Welt innig verbunden und erlebt die Tatsache seines biologischen Daseins allein höchst intensiv. Er scheint seine Umgebung stets in perspektivischer Verkürzung wahrzunehmen. Das ist gewiß der Grund dafür, daß er in Polen seine litauische Abstammung hervorhob, in Frankreich sich als Slawe fühlte und Amerika mit den Augen eines Osteuropäers betrachtet. Diese Distanz verleiht ihm einen außerordentlichen Scharfblick für die Deutung verschiedener Kulturformen, allerdings für den Preis der empfundenen Unbehaustheit, Fremdheit und Vereinsamung. Das ist der auffälligste Zug von Miłosz’ ganzem dichterischen Schaffen, das schmerzliche Bewußtsein der Enterbung, nicht nur in der existentiellen Einsamkeit des einzelnen, sondern in der ganzen zeitgenössischen Zivilisation, die sich von ihrer christlichen Grundlage losgerissen hat. Darin sieht der Dichter das Grundphänomen des 20. Jahrhunderts; seinen geistigen Lehrmeistern folgend – Swedenborg, Blake und Oscar de Milosz – erscheinen ihm die Ursprünge der Katastrophe in der mit Newtons Entdeckungen einsetzenden mechanistischen Auffassung der Wissenschaft und in dem übertriebenen Fortschrittskult. Das wissenschaftliche Denken im Zerwürfnis mit Glauben und Einbildungskraft, der Intellekt, der nicht im geringsten an seinen Möglichkeiten der Naturbeherrschung zweifelt, aber in einem von ethischen Werten entleerten Raum wirkt – das seien die wahren Ursachen der heutigen Bedrohung der Welt. Die Vergöttlichung der Wissenschaft, die durch ihre Entdeckungen paradoxerweise den Menschen seiner privilegierten Stellung im Kosmos beraubte, berge die Gefahr eines Bruchs in der Kontinuität der humanistischen Tradition in sich, die Gefahr der Zerstörung der natürlichen Umwelt und sogar der Vernichtung des Menschengeschlechts schlechthin. Miłosz ist freilich weit davon entfernt, das Aufgeben der Zivilisation und die Rückkehr in den Schoß der heilen Natur zu fordern. Er vergißt nämlich nicht – und hier klingt sein Interesse für den Manichäismus an −, daß die Natur trotz ihrer äußeren Schönheit nicht schuldlos ist, da in ihr Schmerz und Tod der sich gegenseitig verschlingenden Geschöpfe walten. Das Zivilisationserbe hingegen schätzt er so hoch, daß er davon überzeugt ist, allein die Wissenschaft könne ein wirksames Heilmittel gegen die Krankheiten unseres Jahrhunderts finden.
Das Drama des menschlichen Enterbtseins wechselt nur wie Miłosz meint – seine geschichtlichen Erscheinungsformen, eigentlich aber sei es ewig, die biblische Vertreibung aus dem Paradies ist seine symbolische Aufzeichnung. Das Bild vom Garten Eden wird in Miłosz’ Dichtung überlagert von der mit Heimweh gezeichneten litauischen Landschaft und von der kindlichen Bezauberung durch die Farbenpracht der Natur. Und doch ist dieses Paradies nicht eine Idylle erfüllter Träume – von naiver, weil ungefährdeter Unschuld, von sanfter Einfalt und inniger Verbindung mit der Allnatur. Von Anfang an wird es heimgesucht vom menschlichen Bösen, von Sünde, von Versuchung und von Dämonen. So steht denn auch der heiteren Kindheitsvision des Zyklus „Die Welt“, des eigentlichen Schlüssels zu Miłosz’ gesamter Poesie, in Tal der Issa das Drama der kindlichen Welterkenntnis gegenüber. Das Bild einer geordneten, harmonischen und sinnvollen, weil auf metaphysischem Grund ruhenden Wirklichkeit, wird durch die Entdeckung der brutalen Gesetze der Fortpflanzung und des Kampfes ums Dasein in Frage gestellt. Als immer noch bedeutsamen und schmerzlichen Widerspruch empfindet Miłosz die Tatsache, daß der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde, anders gesagt, daß er seine Verlassenheit und Fremdheit in der Natur entdeckte, als er sich über die Tierwelt erhöhte und seine Abhängigkeit von den Gesetzen der Biologie, vor allem vom Geschlechtstrieb, und schließlich die Unabwendbarkeit des Todes einsah. Diese Überlegungen kehren immer wieder, wie in den Gedichten „Wissenschaften“ und „Ode an einen Vogel“. Der einzelne empfindet seine Isolation und Ratlosigkeit nicht nur gegenüber der Natur, sondern auch gegenüber der Geschichte, die in Miłosz’ Gedichten die Gestalt eines blinden, zerstörerischen Elements annimmt, das ohne Unterschied Menschen, Völker, Staaten und Zivilisationen zerstört. Nicht von ungefähr wiederholen sich in dieser Dichtung – vor allem der Vorkriegszeit die symbolischen Namen BabyIon, Troja, Ninive, Pompeji. Ein Bewohner Osteuropas kann schwerlich vergessen, daß die zur Abstraktion gewordenen und zur starren Doktrin erhobenen Gesetze des historischen Fortschritts gegenwärtig als Instrument der Knechtung einzelner und ganzer Völker dienen, die zugleich in Schrecken gehalten und mit dem Trugbild einer strahlenden Zukunft verführt werden, welche alle für sie gebrachten Opfer und verübten Verbrechen rechtfertige.
Kann sich der Mensch gegen diese zweifache Enterbung zur Wehr setzen? Miłosz sagt ja und verweist auf das Elementarste und Schwierigste, was einer Sublimation der blinden Triebe und einer täglichen Vermehrung der Grundwerte der menschlichen Kultur gleichkommt. Die Begierde kann ja verhaltenere Formen annehmen und sich in Liebe ausdrücken oder künstlerische Schaffenskraft werden. Der Auffassung von der Geschichte als einem seelenlosen Prozeß stellt sich die Vorstellung von einer Geschichtlichkeit entgegen, die das stets verfügbare Erbe von Generationen unablässig bereichert. In seinem Essayband Das Land Ulro schreibt Miłosz: „Gesellschaft und Zivilisation überleben, davon bin ich überzeugt, dank den verschwindend kleinen Teilchen von Tugend, die einzelnen Menschen innewohnen und die kraft eines vielfach verschlungenen Prozesses der Vermehrung jedes derartigen Samenkorns durch andere Körnchen beträchtliche Folgen zeitigen…“ Ähnliche Gedankengänge kommen in den Anweisungen des Moralischen Traktats und des Poetischen Traktats zum Ausdruck.
Neben der Geschichtlichkeit, der „Muse des grauen Vaters, Herodots“ (Poetischer Traktat) ist es die Eschatologie, auf die der Dichter seine Weltanschauung gründet. Die immer wieder sich aufdrängenden Bilder einer kosmischen Katastrophe und eines Weltbrands, die unmittelbar an die Apokalypse des Johannes anknüpfen, zeugen eindringlich von der pessimistischen Voraussicht des Untergangs unserer Zivilisation. Aber in der düsteren Ankündigung des unentrinnbaren Endes verbirgt sich auch die Hoffnung, das Seiende könne in der Rückkehr zu seiner ursprünglichen, idealen Gestalt Sinn und Bedeutung wiedererlangen. Diese tröstliche Möglichkeit, zu einem guten Teil durch die Gnosis inspiriert, zeichnet sich am Schluß des Zyklus „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“ ab. Aber Miłosz ist nicht ein Dichter des leichtfertigen Trostes und der naiven Illusion. Sein Schaffen ist aus dem existentiellen Schmerz, aus dem Schrecken vor dem Tod, aus der Angst vor der Vernichtung geboren, verborgen allerdings unter der Maske der Ironie und der skeptischen Distanz. Diese sind die Konstanten der Erzählung von der großen Enterbung, einer Geschichte, die ebenso persönlich wie universal gemeint ist. Miłosz stellt sie in seiner Poesie dar, indem er sich in Gestalten, die aus der literarischen Tradition bekannt sind, verkörpert, ohne sich jedoch restlos mit ihnen zu identifizieren: in der Gestalt des Verbannten, des Zeugen, des Pilgers. Seinem im Exil lebenden Helden ist die Rückkehr verwehrt, denn das Litauen, von wo er zu seiner Wanderung aufgebrochen ist, existiert nicht mehr, ist von der Erdoberfläche ausgelöscht worden und nur noch in der Erinnerung seiner ehemaligen Bewohner vorhanden. So entsteht das Bedürfnis, von diesen Erinnerungen so viel wie möglich zu bewahren: Was aber, wenn das Gedächtnis nachläßt und die in ihm aufgezeichneten Bilder verblassen und schwinden?
Dann ist es weder so, wie es einst dir schien, gewesen,
Noch so, wie du jetzt es zu einer Erzählung fügst.
(„Die Sprache wandelte sich“)
Dieser Held will getreuer Zeuge der Geschichte seines Volkes sein. Er nimmt die sozialen und politischen Konflikte der dreißiger Jahre wahr, stellt die Niederlage vom August 1939 in vielseitiger Beleuchtung dar, ebenso die Finsternis der Okkupationszeit und das Drama der Nachkriegsjahre. In dieser Hinsicht ist Miłosz’ Dichtung ein einzigartiges historisches Dokument, eine wirklichkeitsgetreue Aufzeichnung der persönlichen Erlebnisse auf dem Hintergrund der entscheidenden Ereignisse der heutigen Zeit. Der Dichter beschränkt sich dabei nicht auf trockene Aufzeichnung der Fakten; ihn interessieren Bewußtseinszustände und Temperaturen des sozialen Lebens. Er hält auch mit dem eigenen moralistischen und geschichtsphilosophischen Kommentar nicht zurück. Den Zweiten Weltkrieg betrachtet er als Ausdruck des Totalitarismus und Nihilismus des 20. Jahrhunderts, deren bedenklichste Auswirkungen die Loslösung der Lebenspraxis vom moralischen Sinn und die Verdinglichung des Menschen sind, seine Behandlung als bloße Ziffer und die Gleichgültigkeit angesichts der ihm zugefügten Leiden; die Rechtfertigung von Lüge und Verbrechen durch politische Motivation. So schreibt Miłosz im Moralischen Traktat ironisch:
Ich glaube an das finis terrae
Nicht, weil es unvermeidlich wäre,
Da man die A-Bombe ersann −
Nein: weil ein katatoner Mann
Sich als sozialer Held aufspielte
Und sich als Mann des Fortschritts fühlte.
[…]
Drück einem rasch die Gurgel zu,
Lies Dante dann in aller Ruh,
Laß ein Quartett dein Ohr erquicken…
Das Schöne hat sich vom Guten gelöst, weil unserer Kultur mehr und mehr das beständige, metaphysisch beglaubigte System universaler Werte fehlt. Dieses Phänomen beobachtet der Augenzeuge Miłosz, der vergangene Epochen und fremde Zivilisationen besichtigt und Vergleiche anstellt, welche die pessimistische Diagnose, die er seinem eigenen Jahrhundert ausstellt, nur bestätigen. Und Miłosz ist auch der Pilger, dessen Leben mit seinen Wechselfällen das Schicksal der polnischen Romantiker nachvollzieht. Er strebt allerdings nicht der Heimat als dem gelobten Land zu, sondern sieht das Endziel seiner Wanderung in der Bejahung der eigenen existentiellen Situation. Einmal fühlt er sich als Weltbürger, dann wieder als ein Schiffbrüchiger, allen Hab und Guts beraubt. Bald ist er im Universum heimisch, bald an der Grenze zweier Wirklichkeiten ausgesetzt – der Realität, die er verlassen hat, und jener anderen, nach der er strebt. Innerlich zerrissen, seines Platzes auf Erden ungewiß, verliert dieser Pilger schließlich die Richtung, womit er sich grundsätzlich von den romantischen Pilgern unterscheidet, die, wie sehr sie sich auch in Sehnsucht nach der Vergangenheit verzehrten, doch immer wußten, wo ihr Ziel in der Zukunft lag, und sich verzweifelt an diesen Gedanken klammerten.
Der ungestillte Drang, sein Schicksal in einer anderen Verkörperung, in einer noch nicht genutzten Variante zu erleben, führt Miłosz zur Umwertung der Vorbilder der literarischen Tradition. Aus der Konfrontation früherer Haltungen mit der heutigen Erfahrung ergibt sich – vor allem in Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang – eine entscheidende Akzentverschiebung: der Verbannte hat keine Heimat mehr, in die er zurückkehren könnte, den Zeugen befällt Zweifel an seiner Erkenntnisfähigkeit und an der Glaubwürdigkeit der eigenen Erfahrung, der Pilger wandert weiter ohne erkennbaren Sinn und Zweck. Immer stärker tritt das Motiv der Geworfenheit und Verworfenheit, der Enterbung, der Einsamkeit zutage; die Fremdheit in der geschichtlichen Zeit, unter Menschen, im Kosmos. Welche Rolle fällt unter diesen Umständen dem Dichter zu? Die zerrissenen Fäden zu verbinden und die für das 20. Jahrhundert so bedrohliche Grenze der alles zunichtemachenden Gleichgültigkeit gegenüber der Tradition zu überschreiten; In seiner Nobelpreis-Rede bezeichnet Miłosz die „Gedächtnisverweigerung“ als die größte Gefährdung der zeitgenössischen Zivilisation. Seine Dichtung sucht daher zwei Ziele zugleich zu erreichen: soviel wie möglich von der flüchtigen Schönheit der Welt festzuhalten und die Verbindung mit der Vergangenheit zu bewahren. In seiner Poetik entspricht dem ersten Ziel die metonymische Beschreibung der Realität, die Sensibilisierung für das Detail, den Augenblick, die individuelle Wahrnehmung der Dinge; dem zweiten Teil dient die große Metapher, die über Zeitentfernungen hinweg gleiche menschliche Erfahrungen und vielfältige Aussagen miteinander in Beziehung bringt und neu beleuchtet. Daher die Vielzahl von Symbolen, Gestalten und Ereignissen, die aus der Vergangenheit stammen, daher die Fülle von Anspielungen, Zitaten, Paraphrasen und kunstvollen Stilisierungen, die in die Zukunft weisen. Diese Poesie ist – ähnlich wie die von Eliot und Auden – „Kulturpoesie“; sie läßt sich als Konnotation der Symbolsprache der gesamten Kultur des Mittelmeerraums deuten. Doch sie entspringt – und darin liegt ihr Unterschied – aus der spezifisch polnischen Tradition und ist ohne deren Kenntnis kaum zu verstehen. Das gilt insbesondere für den Poetischen Traktat, der eine eigenartige Deutung der polnischen Literaturgeschichte, der polnischen Geschichte überhaupt ist – von der Jahrhundertwende bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ähnlich unübersetzbar sind weite Strecken des Zyklus Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Neben dem für den Ausländer kaum zugänglichen Dickicht von geschichtlichen Anspielungen bildet das Sprachmaterial ein weiteres Hindernis, weil es zu einem Geflecht von chiffrierten Bezügen, von Stilisierungen nach litauischen und weißrussischen Vorbildern gefügt ist.
Vergessene Zeichen, vergangene und gegenwärtige Vorbilder, Embleme, Legenden- und Märchenfiguren, historische Gestalten, verschiedene Redeweisen – die dichterische Vorstellungskraft beschwört sie, läßt sie zusammenwirken, sich im Spielfeld vielfältiger Kräfte menschlicher Erkenntnis bewegen. Daraus erklärt sich die Bedeutung des individuellen und kollektiven Gedächtnisses, das die Kultur als ein Universum darstellt, welches, zwar ständigem Wandel unterworfen, zugleich in synchroner Gegenwärtigkeit vorhanden ist. Diese „Erinnerung, größer als mein Leben“ (Poetischer Traktat) erlaubt es dem Dichter, versunkene Zivilisationen und vergangene Epochen aufzusuchen, Masken und Verkleidungen zu wechseln. Er ist König, griechischer Händler, Hofdame, Fliege oder Adeliger aus dem 17. Jahrhundert und das sind nur einige von seinen Rollen. Allmächtig walten im Gedicht Anachronismen, Wunder und Phantastereien, die starre Schranken durchbrechen, wenn auch nicht ohne Grenze, die ihnen die antike und die christliche Tradition gebieten; über diese Sphäre geht Miłosz grundsätzlich nicht hinaus. Doch oszillieren seine Werke ständig zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen Naheliegendem und Fernem, zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Geschichtlichem und Metaphysischem, zwischen Persönlichem und Gesellschaftlichem. Die Wahrheit hat im Endergebnis den Status des Hypothetischen, Partiellen und Einmaligen, da sie sich aus einer Konstellation bisweilen widersprüchlicher Blickpunkte ergibt; sie wird aber zugleich durch die moralische Haltung des Dichters ethisch aufgewertet. Das Schöne wiederum liegt in der plastischen Anschaulichkeit der bruchstückhaften Beschreibung und in der herausfordernden Möglichkeit der multiperspektivischen Beschreibung der Phänomene. Nahezu jedes Element wird in einer Weise eingesetzt, die seiner traditionellen Funktion zuwiderläuft: der Stil „wundert sich“ über den Versbau, die Bildsprache paßt nicht zur weltanschaulichen Aussage, Gattungsmerkmale werden durch die zu ihnen im Widerspruch stehende Intention umgewertet. Ethische Anweisungen gibt Miłosz in ironischem Ton (Moralischer Traktat), Betrachtungen über den metaphysischen Sinn des Daseins kleidet er in eine Kindergeschichte (Die Welt), das Erzählgedicht Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang durchbricht er in dessen Fluß mit Zitaten aus Chroniken und Enzyklopädien und reißt stets Mauern ein, welche die Sprache der Poesie von der Sprache der Prosa und von anderen literarischen Gattungen gewohnterweise trennen, zum Beispiel vom religiösen Diskurs, der philosophischen Fabel, dem Essay oder dem sozialpsychologischen Traktat. Indem Miłosz unermüdlich eine „neue Diktion“ sucht (Poetischer Traktat), schafft er eine eigene, in der polnischen Literatur präzedenzlose Art der poetischen Aussage, an die Vertreter der sogenannten intellektuellen Strömung der zeitgenössischen Lyrik in Polen – Jaroslaw Marek Rymkiewicz, Wisława Szymborska und Zbigniew Herbert – unmittelbar anknüpfen. Sie entwickeln und modifizieren jeder auf seine Weise die grundlegenden Eigenheiten der Poetik von Miłosz wie die thematische und formale Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit.
Diese Eigentümlichkeiten von Miłosz’ Dichtung lenken zwangsweise die Aufmerksamkeit auf seine Sprache. Ihr liegt die Absicht zugrunde, daß sie Zeugnis der Vergangenheit zu sein habe. Das gesprochene Wort schafft aber auch durch seine Bestimmtheit durch die jeweilige Situation, in der es entsteht, und durch die unmittelbare Beziehung zum Redenden ein vieldeutiges, letztlich nicht restlos ausdeutbares Bild der Welt. Ein Beispiel: anders als heute drückte man die Angst vor dem Tod im Mittelalter oder im Barock aus, anders sprachen darüber der Einfältige oder der Gelehrte. In jedem Fall bediente man sich unterschiedlich geprägter Denkkategorien, die sich nicht von der Art und Weise ihrer Äußerung lösen lassen. Zugleich kann die Rekonstruktion von Aussagen der Vergangenheit heute nicht umhin, diese von einer anderen Bewußtseinslage aus zu betrachten und zu deuten.
Die erwähnten Merkmale erklären, weshalb der Dialog bei Miłosz eine so bedeutende Funktion erfüllt. In ihm, dem Dialog, werden Stimmen der Vergangenheit denen der Gegenwart gegenübergestellt; in der Konfrontation mit dem fremden Stil sucht der Dichter seinen eigenen. Miłosz stellt den Dialog nicht nur dar oder her, er nimmt auch lebhaft daran teil. In seiner jüngsten Schaffensperiode führt er immer häufiger Zwiegespräche mit einem imaginären Publikum, die an die Selbstgespräche des heiligen Augustinus erinnern. Bei dieser Art des Dialogs – als Beispiele können „Insel“, „Zur Ordnung gerufen“ gelten – verwischt sich die Grenze zwischen Ästhetischem und Philosophischem, Intimem und Allgemeinem; die Poesie wird Meditation. Zugleich verleiht ihr die Form des Dialogs größere Transparenz und Kohärenz, als das beim inneren Monolog oder Zwiegespräch möglich wäre; der Leser kann, er muß es jedoch nicht, sich mit dem im Gedicht Angesprochenen identifizieren, mit jenem „Du“, das manchmal Spötter, manchmal des Autors advocatus diaboli ist.
Der innere Dialog läßt – kraft der von der Einbildungskraft gestützten Erinnerung – einen ganzen Kulturraum neu aufleben; der Dichter hört zuweilen „Stimmen, ohne die Schreie, Gebete, Lästerungen, Hymnen, die ihn zu ihrem Medium gemacht haben, zu verstehen. Er möchte einer [er selbst] sein, aber er ist eine in sich selbst widersprüchliche Vielheit, die ihn nur zum Teil tröstet, mehr aber beschämt“ – schreibt Miłosz im Sonderheft Der Stern Wermut. Diese Konzeption stammt aus der Antike, in welcher der Seher, vates, nur passives Werkzeug der Gottheit war, die durch ihn seine Urteilssprüche und Prophezeiungen kundtat. Auf diese Vorstellung vom Dichter hatte die polnische Romantik zurückgegriffen. Einer ihrer bedeutenden Vertreter, Zygmunt Krasiṅski, schrieb: „Der Strom des Schönen fließt durch dich, doch du selbst bist die Schönheit nicht.“ Diese Kluft zwischen dem verkündeten Inhalt und dem Künder hat Miłosz durch Aktualisierung stärker deutlich gemacht. Aus dem Dichter spricht nicht Gott, sondern das dunkle, nicht restlos deutbare kollektive Bewußtsein, welches das Einzelbewußtsein sowohl bereichert als auch gefährdet. Daraus ergibt sich ein Gefühl des Ungenügens, der Zweifel an der Kompetenz des Dichters, das Eingeständnis der Ohnmacht vor dem Unsagbaren. Der Maximalismus des Wollens enthüllt den Minimalismus des Könnens. „Ich habe so wenig gesagt“ – beklagt sich der Dichter in einem seiner neueren Gedichte („So wenig“), aber er läßt in dem Bemühen nicht nach, die Grenzen der Sagbarkeit zu weiten, danach zu suchen, was Hilfe und Rettung dem Menschen und der Gesellschaft bedeuten könnte, zu suchen und zum Ausdruck zu bringen. Dieses Motiv wird in den Gedichten mit großer Hartnäckigkeit wiederholt:
[Ich] Griff in das Herz des Metalls,
in den Geist der Erde, des Feuers und Wassers,
Und Unbekanntes enthüllte mir sein Gesicht.
(„Das Lied des Bürgers“)
Ich habe viele Jahre durchlebt und gefühlt wie in diesem
Traum, daß ich an die bewegliche Grenze rühre,
Hinter der Farbe und Klang sich erfüllen
Und wo dieser Erde Dinge zueinander finden.
(„Mittelbergheim“)
Unmöglich, daß ich sterbe, bevor ich es schaffe.
(„Gustl, der Verzauberte“)
Der dichterische Akt, der den Aufschwung der Einbildungskraft und des Erinnerungsvermögens mit magischer Kraft unterstützt, scheint den Augenblick der Offenbarung zu ahnen: Dichtung ist hier gleichsam Voraus-Offenbarung. Man kann Miłosz’ Werk schließlich insgesamt als ein gewaltiges Palimpsest betrachten, in dem unter verschiedenen Stilen, unter vielfältig wechselnden Masken und Symbolen die Grundrisse eines Urbildes zutage treten: der abhandengekommenen Einheit von Objekt und Sprache. Es ist die Präfiguration einer Welt, deren Riß zwischen Ich und Ding, zwischen Zeichen und Gegenstand Gott einmal schließen wird, damit das enterbte Menschengeschlecht in seine paradiesische Heimat zurückkehren kann. Milosz’ Dichtung bringt uns diesen Augenblick näher, indem er ihn bildlich denkbar macht.
Aleksander Fiut, Nachwort
Fritz J. Raddatz: Sie sind bekanntlich kein besonderer Brecht-Verehrer, es gibt eher distanzierende Bemerkungen von Ihnen gegenüber der Person und dem Werk Bertolt Brechts. Trotzdem fand ich in einem Ihrer Gedichte Zeilen, die fast wörtlich an Brechts Dictum von den Zeiten erinnern, da es nahezu ein Verbrechen sei, an Bäume zu denken.
Czesław Miłosz: In einem Gedicht von mir findet sich das?
Raddatz: Ja, es heißt „Armer Poet“, und die Zeilen lauten:
Und der Geruch dieses Baumes ist schamlos, denn dort, auf realer Erde,
Wachsen nicht solche Bäume, und der Geruch dieses Baumes
ist, als würde man leidende Menschen mißachten.
Warum ich das zitiere: Ich möchte Sie fragen, ob diese Sätze lediglich die Situation des Entstehungsjahres 1943 umreißen, oder ob sie, pars pro toto, als Ihr poetisches Konzept zu verstehen sind.
Miłosz: Beides. Solche Zeilen definieren einen historischen Augenblick – und sind damit ähnlich den Arbeiten vieler polnischer Autoren, denken Sie etwa an Borowski, aber sie führen auch ein poetisches Bekenntnis vor; ich fühlte und fühle mich überwältigt von der Geschichte. Solche Sätze drücken meine moralische Teilhabe aus und meinen Zorn; Dichter sollten mit Geschichte nicht auf diese Weise konfrontiert werden.
Raddatz: Ein wichtiges Wort: moralische Teilhabe. Soweit ich Ihr lyrisches Œuvre kenne, ist es von ihr getragen; und von diesem Gedanken: So sollte die Welt nicht sein. Man sollte sie ändern. Sind Sie das, was man einen „engagierten Schriftsteller“ nennt?
Miłosz: Hm. Im Grunde bin ich strikt gegen programmatisches Engagement, besonders etwa der sogenannten „neuen Linken“, Sie sprechen zwar zu Recht von diesem moralistischen Element in meiner Lyrik – aber das ist entstanden unter Druck; es ist meiner Natur zuwider, ich fühle mich da eher gezwungen, vergewaltigt. Würde man das als meinen „Entwurf“ verstehen, das wäre entsetzlich. Es gibt solche Gedichte, aber sie sind nur Zeugnis von Irrläufen der Geschichte, in die der Poet eingesperrt war.
Raddatz: Darf ich Ihnen noch einmal eines Ihrer Gedichte entgegenhalten? Es heißt „Vorwort“ und enthält diese Zeilen:
Was ist eine Poesie, die weder Völker
noch Menschen errettet?
Eine Genossenschaft amtlicher Lügen,
ein Singsang von Säufern, denen bald jemand die Kehle durchschneiden wird,
Ein Lesestückchen aus einer Gartenlaube.
Das sind nicht nur deutliche, sondern starke, gar denunziatorische Worte, „Genossenschaft“, „Gartenlaube“. Ins Banale übersetzt steht da: Literatur, die sich nicht auf kritische Auseinandersetzung mit Zeit und Realität einläßt, ist trivial, Kitsch.
Miłosz: Ich werde oft, auch von polnischen Lesern, gerade auf dieses Gedicht angesprochen. Aber ich möchte es nicht „ins Banale übersetzt“ haben. Die Sache ist komplizierter. Sie müssen diese Zeilen verstehen als das Bejahen einer großen polnischen Tradition der Lyrik, die sich immer der Welt ausgesetzt hat; Poesie kann Länder und Völker erretten, erlösen. Sie dürfen es nicht mißverstehen als Vorschlag zur Lösung politischer Konflikte.
Darf ich noch etwas hinzufügen. Dieser Nobelpreis und die damit verbundene Publizität zementieren viele Irrtümer: Der Großteil meines lyrischen Œuvre ist ja gar nicht übersetzt – in keine Sprache. Jetzt werden hurtig überall, ob in Frankreich oder Deutschland, Prosabände von mir auf den Markt geworden – aber die sind gar nicht repräsentativ für den Autor Miłosz.
Raddatz: Verführtes Denken scheint mir aber sehr repräsentativ…
Miłosz: In gewisser Weise. Aber doch auch ein Nebenprodukt.
Raddatz: Wenn selbst dieser brisante Essay ein Nebenprodukt ist – was darf dann Hauptwerk genannt werden?
Miłosz: Erstens birgt sich das ganze Verführte Denken auch schon in einem Gedicht. Zweitens ist mir mein in Deutschland nicht erschienener Essayband Das Land Ulro viel wichtiger; oder mein Aufsatz über den jung verstorbenen polnischen Philosophen Stanislaw Brzozowski, dessen Entwicklung von Nietzsche zu Marx.
Raddatz: Hat der Marxismus für Sie eine Rolle gespielt?
Miłosz: Ich wollte darauf schon eingehen, als Sie Brecht nannten. Natürlich kann niemand in seiner Jugend am Marxismus vorübergehen. Sie kennen ja offenbar mein Buch West- und östliches Gelände und wissen also, daß es eher Hegel war, der Einfluß auf mich hatte. Wie mich überhaupt das 19. und auch das 18. Jahrhundert mehr interessieren – da liegen die Wurzeln für die Jetztzeit, im positiven wie im Negativen. Meine „Weltanschauung“ ist von dort geprägt.
Raddatz: Ist es richtig, wenn man die sehr nahe Leszek Kolakowskis Konzept sieht?
Miłosz: Ja. Allerdings hätte ich nie meine Arbeitskraft an ein dreibändiges Werk Hauptströmungen des Marxismus verschwendet. Aber wir sind gute Freunde, stehen uns nahe.
Raddatz: Wenn man Kolakowskis Philosophie in seiner Absage an die Glücksmöglichkeit des Menschen zusammenfaßt, sie als eine Art Christentum ohne Hoffnung, Geschichtsentwurf ohne Utopie begreift – kann man dann die gewisse Rigorosität, Bitterkeit Ihrer Lyrik dem zur Seite stellen?
Miłosz: Ja. Nur: Dichtung hält immer die Balance zwischen beidem, entsteht immer aus dem Widerspruch – Bitterkeit und Ekstase, Verzweiflung und Emphase. Diesem scheinbar unvereinbaren Gegensatz entspringt sogar der schöpferische Akt. Ich halte gerade eine Vorlesung über Dostojewski. Dostojewski der Publizist und Dostojewski der Romancier – zwei völlig verschiedene Autoren. Wohlbefinden und Endzeitgefühle: das schließt sich nicht aus.
Raddatz: Sie haben auch einen großen Aufsatz über Simone Weil geschrieben, die offenbar Ihre Weltsicht beeinflußte, deren Denken aber ohne Kategorien des Christlichen nicht zu verstehen ist. In Ihrem Werk finde ich keine Spuren christlicher Denkweisen.
Miłosz: Wieder ein Irrtum, der nur entstehen kann, weil so viele meiner Arbeiten nicht übersetzt sind. Nicht nur mein Schreiben ist von früh an aufs Intensivste vom Alten und Neuen Testament bestimmt; auch mein Denken stand schon früh – da meine erste Fremdsprache Französisch ist – unter dem Einfluß französischer theologischer Schriftsteller wie Jacques Maritain. Polen ist ein katholisches Land, vergessen Sie das nicht.
Raddatz: Ich habe davon gehört. Aber ich meine etwas anderes: In allem, was ich von Ihnen gelesen habe, auch in den Romanen, ist das Individuum vereinzelt, einsam, auf sich selber zurückgeworfen – bindungslos und einzig auf die eigene Entscheidung angewiesen. Da hilft kein Gott und kein Mensch. So sagten Sie 1967 in einer Rede: „Es ist fast unmöglich, heute von einem Dichter zu reden und nicht die Verbannung zu erwähnen. Die Verbannung ist für einen Dichter von heute Schicksal, unabhängig davon, ob er in seinem Heimatland lebt oder im Ausland; fast immer ist er herausgerissen aus dem heimischen Zusammenhang der Gebräuche und Vorstellungen, die er in der Kindheit kannte. Die Verbannung an sich ist weder schlecht noch gut, die romantischen und pathetischen Gesten tragen hier nichts, sie führen zur Fälschung. Die Verbannung muß man hinnehmen, und alles hängt davon ab, welchen Nutzen man daraus zieht.“ Das hört sich nicht danach an, als fühlten Sie sich von irgendeiner Gemeinschaft – „Gemeinde“? – getragen.
Miłosz: Sie haben recht. Ich habe kürzlich in der Einleitung zu einem meiner Gedichtbände, den ein katholischer Verlag in Krakau herausbrachte, noch genauer darüber geschrieben: Niemand nimmt Einsamkeit freudig hin – aber zurückblickend ist man dankbar für jeden Moment der Einsamkeit; nur wer Einsamkeit und Niederlage akzeptiert – und für den Poeten ist vollständige Einsamkeit, ist Exil Niederlage −, kann die Wahrheit schreiben. Nur, wer nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren hat, wer nichts zu „bedenken“ hat, kann Wahrheit produzieren. Also zurück zu Ihrer Frage: Einsamkeit ja. Hoffnungslosigkeit nein. Sie werden es nicht glauben, aber meine Gedichte säen in der jungen Generation Polens Hoffnung. Verwechseln Sie mich bitte nicht mit Beckett – ich mag ihn nicht, habe gegen ihn geschrieben.
Raddatz: Verzeihen Sie, wenn ich noch einmal Miłosz kontra Miłosz ins Feld führe.
Miłosz: Sie müssen sich nicht entschuldigen, ich finde Ihre Hartnäckigkeit sehr erfreulich.
Raddatz: Also Ihr Gedicht „Abschied“; es endet:
Mein Sohn, glaube mir, es bleibt bei nichts,
Nur die Mühe des männlichen Alters,
Die Schicksalsfurche in der Hand.
Nur die Mühe,
Sonst nichts.
Ich kann darin nicht so schrecklich viel Elan oder Hoffnung finden.
Miłosz: Sie wissen, ich gehörte schon als junger Mann der Gruppe der Katastrophisten an – und dennoch findet sich in allem, was ich je schrieb, die Spur des Eschatologischen; da sind wir wieder bei Ihrer Frage: Denn Eschatologie heißt ja auch Glaube an Veränderung.
Raddatz: Nur: nicht mehr in dieser Welt. Hoffnung also als etwas Jenseitiges?
Miłosz: Ich weiß nicht, vielleicht. Menschen – zu denen ich mich zähle −, die zu derlei eschatologischen Konzepten neigen, konnten stets sehr schwer zwischen dem aktuellen Lauf der Geschichte und ihrem Mahlstrom unterscheiden; die Grenze ist hauchdünn. Wogegen ich mich entschieden sträube, ist die reinliche Trennung zwischen optimistischer Aktivität hier und pessimistischer Resignation dort. Wobei mir allerdings die optimistische Aktivität gewisser westeuropäischer Intellektueller zutiefst zuwider, ja verdächtig ist.
Raddatz: Sie sprechen, wenn ich da ins Konkrete ausweichen darf, vom Typ Sartre.
Miłosz: Nicht vom Typ, sondern von dem Mann, dem Schriftsteller Jean-Paul Sartre. Er und Simone de Beauvoir sind für mich Symbolfiguren für die Dummheit vieler westlicher Intellektueller – verabscheuungswürdig. Ob sein Kampf gegen Camus oder anderes. Sartre war ein Dummkopf. Wenn ein Mann mit seinem Gehirn sich schon so hinreißen, ja verführen läßt – etwa zur Stalin-Zeit −, was soll man von weniger Begabten erhoffen.
Raddatz: Sie erwarten gewiß keine Zustimmung. Ich glaube vielmehr, daß Sartre sehr Wesentliches, sehr Ehrliches zu den Grundfragen unserer Zeit gesagt, sich ihnen ausgesetzt hat. Er war ganz gewiß kein törichter kleiner fellowtraveller. Sie haben doch vorhin selber das Recht, ja die Notwendigkeit des Denkens in Gegensätzen proklamiert?
Miłosz: Sie mißverstehen mich – oder wollen mich nicht verstehen. Ich sprach von Gegensätzen – nicht von taktischem Zickzack. Das alles hat auch etwas Verlogenes, erinnert mich an Pablo Neruda – den ich ins Polnische übersetzt habe −, der mich nach meinem Bruch mit Warschau öffentlich schmähte und sich später, als wir uns auf einem Kongreß trafen, privat dafür entschuldigte. Unanständig und töricht. Ich halte Sartre nicht vor, daß er Irrtümer beging, sondern daß er vielleicht voller edler Motive, aber dumm war. Etwas mißlich für einen Philosophen.
Raddatz: Würden Sie ähnliches auch über deutsche Intellektuelle sagen?
Miłosz: Tja, schwer zu beantworten. Ich bin kein guter Kenner Deutschlands. Ich spüre eine Atmosphäre, die mir nicht behagt. Ich habe Kontakte zu einigen jungen linksstehenden Deutschen, bei denen ich einen Hang zu Gewalt und Brutalität wahrnehme. Sie erinnern mich an Nazis.
Raddatz: Intellektuelle, Studenten oder Schriftsteller?
Miłosz: Schriftsteller und Intellektuelle.
Raddatz: Sie möchten dieses krasse Verdikt nicht durch das Nennen von ein paar Namen erhärten?
Miłosz: Nein.
Raddatz: Da wir schon dabei sind, Europa von Berkeley aus zu verurteilen – sehen Sie eine Chance, je wieder nach Polen zurückzukehren?
Miłosz: Eine Frage, die ich bisher vermieden habe, mir selber zu stellen.
Raddatz: Nun stellt sie ein Fremder. Was wären die Voraussetzungen für eine Rückkehr? Glauben Sie an eine Umwälzung in Polen, die Ihnen das Leben dort ermöglichte?
Miłosz: Nein. Vielleicht wird es Veränderungen geben, aber gewiß keine so grundsätzlichen. Hinzu kommen zwei sehr persönliche Gründe: Meine Frau ist seit Jahren sehr krank; und ich lebe gern in Amerika, das mir bis hin zu der an meine Heimat Litauen erinnernden Landschaft Heimat geworden ist.
Raddatz: Aber Sie sind doch ein durch und durch europäischer Intellektueller…
Miłosz: O ja, und wie.
Raddatz: Wenn ich da zum Beispiel an die deutschen Emigranten und ihr Warten auf die Rückkehr, ihr Verloren-sein gerade unter dem ewig blauen kalifornischen Himmel denke – wo haben Sie hier intellektuellen Dialog?
Miłosz: Habe ich nicht, brauche ich nicht. Ich erinnere mich, wie St. John Perse mir einmal, als er lange in Washington lebte, auf meine Frage, ob das für ihn nicht wie ein Exil sei, antwortete: Ja, aber ein glückliches; denn für einen Poeten ist die abstrakteste, fremdeste Umgebung die beste. So funktioniert das auch bei mir.
Raddatz: Obwohl Sie noch immer polnisch schreiben?
Miłosz: Ja. Alles. Im Moment übersetze ich die Bibel. Teile wie „Das Buch Jeremia“, „Das Hohelied“, „Die Weisheit Salomos“ sind fertig.
Raddatz: Eine Arbeit, die man schließlich auch in Polen leisten könnte. Sie sind jetzt – über Nacht – weltberühmt, wohlhabend, unabhängig, auf die Professur nicht mehr angewiesen. Hat das gar nichts verändert an Ihrem Leben, das ja auch aus äußeren Gründen an Berkeley gebunden war? Oder ist Ihre Irritation über den Nobelpreis – Sie sprachen davon, als wir telephonierten – so groß, daß Sie daran dachten, ihn eventuell wie Sartre abzulehnen?
Miłosz: Nein. Ich fand das eine indezente, unbescheidene Geste. Wissen Sie, als der erste Journalist mich sofort in der Nacht anrief, als die Preisverleihung bekanntgegeben wurde, und, typisch amerikanisch, fragte: „Wie fühlen Sie sich?“, da sagte ich: „Nachdenklich“. Er war entsetzt, und meine Antwort wurde natürlich nicht gedruckt – ein Nobelpreisträger muß natürlich erhabene, erhobene Gefühle haben. Wieso kann er nachdenklich sein? Aber alles, was der ganze Wirbel in mir ausgelöst hat, ist: in mich hineinhorchen.
Es steht außer Zweifel, dass Karl Dedecius – neben Persönlichkeiten des literarischen Lebens wie Konstanty Jeleński oder Jerzy Giedroyc – in hohem Maße zur Präsenz Czesław Miłosz’ in der literarischen Welt Westeuropas beitrug. Auch dazu, dass der polnische Emigrant 1980 den Literatur-Nobelpreis erhielt. Vor dem Nobelpreis erschienen in der Bundesrepublik Deutschland dank des unermüdlichen Engagements des Übersetzers zwei Gedichtbände des Dichters; in Dedecius’ Anthologien zur polnischen Lyrik und Prosa veröffentlichte er seit den späten 1950er Jahren systematisch Einzeltexte des Autors. Dennoch war Karl Dedecius in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten weder der erste noch der einzige Nachdichter dieser Lyrik, wie manche Forscher angeben und noch heute glauben machen möchten.
Miłosz’ erster Text in einer Dedecius-Nachdichtung war das im französischen Montgeron verfasste poetologische Werk „Nic więcej“, das der Dichter später im Gedichtband Król Popiel i inne wiersze (Paris 1962) veröffentlichte. Die Übersetzung erschien bereits 1959 in der Anthologie Lektion der Stille, die in Westdeutschland auf ein begeistertes Echo stieß. Übersetzungen heute als kanonisch geltender Gedichte Czesław Miłosz’ wie „Campo di Fiori“ oder „Biedny chrześcijanin patrzy na getto“ gingen in Dedecius’ erste literarhistorische Anthologie Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts ein. Der ersten deutschsprachigen Gedichtauswahl des polnischen Emigranten Lied vom Weltende (Köln 1966) bahnten Vorabveröffentlichungen in der Kulturzeitschrift Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken den Weg. Das belegen die dort erschienenen Nachdichtungen und die erhaltene Korrespondenz des Übersetzers mit dem Chefredakteur Hans Paeschke. Erwähnenswert ist hierbei, dass der Gedichtband Lied vom Weltende bereits sieben Jahre vor dem Erscheinen von Miłosz’ englischsprachiger Gedichtauswahl Selected Poems (New York 1973) veröffentlicht wurde.
1958 hatte der Übersetzer brieflich Bekanntschaft mit dem Autor geschlossen und so den Anfang eines fast vierzig Jahre währenden Briefwechsels gesetzt. Man sollte hierbei erwähnen, dass die Kontakte zu Miłosz nicht zu den leichtesten zählten. Trotzdem zeigen die Korrespondenz mit dem Dichter und die zahlreichen Briefe, die Dedecius an renommierte westdeutsche Verlagshäuser wie Kiepenheuer & Witsch, Suhrkamp oder Piper richtete, den Übersetzer als zutiefst mit der literarischen Welt wie auch der Sphäre der Verlags- und Kulturpolitik vertraut und als Fürsprecher einer dauerhaften Aufnahme Miłosz’ in den deutschen Literaturkosmos.
Trotz der unstrittigen Verdienste, die Dedecius hierbei vorzuweisen hat, fällt der Name des deutschen Übersetzers in der bislang umfassendsten, fast tausendseitigen Darstellung von Leben und Werk des Nobelpreisträgers aus der Feder von Andrzej Franaszek Miłosz. Biografia (Kraków 2011) nur ein einziges Mal. Franaszek vermerkt ihn, als er über den Dichterkongress schreibt, den Konstanty Jeleński im März 1967 in Paris veranstaltete. An diesem Kongress über das Übersetzen polnischer Lyrik nahm auch der westdeutsche Übersetzer teil. Das Beispiel des Krakauer Forschers ist beredter Beleg dafür, wie wenig wir bislang noch über die verschlungenen Wege der Miłosz-Rezeption in Deutschland wissen, über sein Verhältnis zur deutschen Kultur und Geschichte wie auch die Erfolge und Niederlagen bei der Popularisierung seines Werks und dessen Einflechtung in den deutschsprachigen Kulturkontext. Beim Formulieren der Hauptthese dieses Beitrags muss daher unterstrichen werden, dass bis zum Augenblick der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Czesław Miłosz Karl Dedecius 20 Jahre lang der einzige deutschsprachige Übersetzer war, der dessen lyrisches Œuvre systematisch und kontinuierlich popularisierte.
In diesem Zeitraum korrespondierte der Übersetzer mit dem Schriftsteller über die Nachdichtungen von dessen Lyrik, die Auswahl entsprechender Texte und Dedecius’ zentrale Verlagsprojekte, d.h. seine Anthologien zur polnischen Prosa und Poesie des 20. Jahrhunderts, die das Lesepublikum am Rhein unter anderem mit Texten von Autoren vertraut machen sollten, die noch nie zuvor ins Deutsche übertragen worden waren. Die folgenden Betrachtungen, die sich auf translatorische Fragen aus der Jugend und der folgenden Lebensphase Czesław Miłosz’ konzentrieren (bis Mitte der 1960er Jahre), basieren auf der These, dass diese Gedichte eine besondere Herausforderung für einen Übersetzer darstellen. Das resultiert aus der Prosodie eines großen Teils dieser Lyrik, insbesondere der Verwendung klassischer Reime, der rhythmischen Form wie auch der angewandten Stilisierungen und der offenen wie auch verborgenen Anspielungen auf Begebenheiten der Geschichte Polens, seine Landschaften, Orte, Menschen wie auch aus den intertextuellen Bezügen auf althergebrachte und zeitgenössische literarische Traditionen.
*
Die erste Frage, die sich Dedecius stellte, als er Ende der 1950er Jahre die Arbeit an einer Anthologie zur polnischen Poesie des 20. Jahrhunderts aufnahm, betraf die repräsentative Auswahl von Gedichten, die die Poetik und Themenwahl der von ihm übersetzten Autoren charakterisierten. So war es auch im Falle des Œuvres Czesław Miłosz’. Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre resultierten die Schwierigkeiten des Übersetzers primär aus der banalen Ursache der mangelnden Erreichbarkeit der Gedichtbände des polnischen Emigranten in der Bundesrepublik Deutschland. Dedecius kannte damals Miłosz’ Lyrik lediglich aus den wenigen Texten, die in der Pariser Exilzeitschrift Kultura erschienen waren. (Wie bereits erwähnt erschien in Lektion der Stille nur ein einziges neueres Gedicht Miłosz’). Die Lage änderte sich durch die intensive Korrespondenz zwischen Dichter und Übersetzer. Möglich wurde das dank der Vermittlung Zbigniew Herberts, der sich 1959 in Frankreich aufhielt, die Rolle des Mittlers übernahm und Miłosz dazu ermutigte, Dedecius Gedichte für das damals in Planung befindliche „Panorama der polnischen Poesie“ zu schicken. Interessant erscheint hierbei die Tatsache, dass wenige Jahre später Herbert Dedecius dazu ermuntern musste, den Verfasser von „Trzy zimy“ weiterhin zu übersetzen, da Herbert ihn hochschätzte und als sein literarisches Vorbild betrachtete.
Aus seinen Briefen an Zbigniew Herbert wissen wir, dass Dedecius Übersetzungen bestimmter Gedichte Miłosz’ plante, um sie in seiner ersten literarhistorischen Anthologie zur polnischen Poesie zu publizieren. Es handelte sich um Gedichte wie „Miasto“, „Piosenka o końcu świata“, „Przedmieście“ und ein Fragment des „Traktat poetycki“, die dem Übersetzer von Kennern des Werks empfohlen worden waren, unter anderem von dem mit Miłosz befreundeten Kazimierz Wyka. Für Dedecius entschieden andere Faktoren über die Auswahl der lyrischen Texte. Hier sollen in aller Kürze die wichtigsten aufgeführt werden. Zweifellos standen in der ersten Arbeitsphase die Gedichte im Vordergrund, die der Dichter selbst nannte.
Im Falle des Fehlens einer Auswahl seitens des Autors haben Stimmen von Experten und anerkannten Autoritäten wie Kazimierz Wyka, Julian Przyboś oder Jerzy Kwiatkowski maßgeblich über die Frage der Repräsentativität der Gedichte entschieden. Die Textauswahl wurde auch durch Art und Konzeption der Anthologie selbst bestimmt, die semantische Transparenz eines Werks, sein Thema und seine ,Kommunikativität‘ im Kontext des Rezeptions- und Erwartungshorizonts des deutschen Lesepublikums. In der Schlussphase stand bei der Ablehnung oder Aufnahme eines Textes das Ergebnis des Übersetzungsprozesses im Vordergrund, d.h. die ästhetische Tragkraft der Nachdichtung – ihre Natürlichkeit, poetische Kraft und ihr Klang.
Zur ,Anthologisierung‘ lyrischer Texte hatte sich Miłosz als aktiver Übersetzer französischer und englischer Literatur bereits selbst eine eigene Meinung gebildet, die er Dedecius auch rundheraus mitteilte und ihm dabei höflich die Zusendung einer Gedichtauswahl abschlug. Miłosz’ Ansichten zur Textauswahl für eine Anthologie, die darauf abzielte, Gedichte in das literarische Gefüge einer anderen Sprache einzuführen, unterschieden sich nicht von dem, was Dedecius selbst von Anfang seines übersetzerischen Wirkens an gewusst haben muss. Die Rede ist von drei Grundprinzipien: Erstens sollte der Übersetzer, der die Anthologie erstellt, bei der Textauswahl freie Hand haben. Das ergibt sich schon allein aus der Tatsache, dass nicht jedes Gedicht übersetzbar ist. Zweitens ist der entscheidende Faktor für die Auswahl eines Anthologietextes dessen potenzielle Rezeption. Drittens hängt die Rezeption eines Textes von der ,Atmosphäre‘ der Literatur ab, in deren Sprache übersetzt wird, wie auch von den Interessen des jeweiligen Lesepublikums. Gegen Ende der 1950er Jahre stand (der schon fast fünfzigjährige) Miłosz im Bewusstsein des künstlerischen Rangs seiner Poesie und auf ihre adäquate Nachdichtung (in das ihm fremde Deutsch) bedacht der Zusendung seiner Gedichte an den ihm damals unbekannten, jüngeren Übersetzer ablehnend gegenüber. In einem Brief, den er am 22. Juni 1958 im französischen Montgeron verfasste, antwortete der Dichter auf Dedecius’ Bitte, indem er ihm seine Prinzipien der Textauswahl offenlegte:
Eine Auswahl von Gedichten für Ihre Anthologie fällt mir sehr schwer, aus mehreren Gründen. Aus Erfahrung weiß ich (da ich selbst viel übersetzt habe, vor allem aus dem Englischen und dem Französischen), dass der Übersetzer die Freiheit der Wahl haben sollte, denn nicht jedes Gedicht lässt sich in eine Fremdsprache übertragen. Außerdem hängt die Rezeption eines Gedichts in einer Fremdsprache von einer ganzen Reihe von Umständen ab, von der ,Atmosphäre‘ in der deutschen Literatur, und da ich darüber nicht im Bilde bin, kann ich nicht sagen, welche meiner Gedichte für den deutschen Leser am interessantesten wären. Schließlich durchlief meine dichterische Entwicklung verschiedene Phasen, ich habe Gedichte von deutlich metaphysischem Charakter geschrieben, andere sind politisch, außerdem habe ich zwei bissige Verstraktate verfasst, in denen ich versuchte, ein Porträt meiner Epoche zu zeichnen, sowie den kürzlich erschienenen „Traktat poetycki“ [Poetischer Traktat], der eine Art Kurzform der polnischen Poetik darstellt.
Fast anderthalb Jahre später schickte Miłosz dank der Fürsprache des damals in Paris weilenden Zbigniew Herberts Dedecius alle zuvor genannten Gedichte, mit Ausnahme des „Traktat poetycki“. In einem Brief vom 25. November 1959 nimmt der Dichter zu den drei ausgewählten Texten Stellung, die übersetzt werden und in die Anthologie Eingang finden sollten. Miłosz unterstreicht hier, als wollte er sich selbst in Schutz nehmen, erneut, dass nicht der Originalautor der Gedichte, sondern ihr Übersetzer über den Inhalt der von ihm herausgegebenen Anthologie entscheiden sollte:
Der Autor sollte kein Urteil fällen über die Auswahl, die der Übersetzer trifft, da diese Auswahl vom Gesamtkonzept der Anthologie abhängt sowie von der Bedeutung, die ein Gedicht auf dem Hintergrund der deutschen Poesie, der deutschen Sprache besitzt (und das Deutsche ist mir überhaupt nicht geläufig). Wenn ich also hier ein Urteil äußere, so betrachte ich es keinesfalls als verbindlich. „Piosenka o końcu świata“ [Lied vom Weltende] und „Przedmieście“ [Vorstadt] sind meines Erachtens gute Gedichte, „Miasto“ [Die Stadt] hingegen mag ich nicht besonders, aber das ist ein subjektives Gefühl: eine Abneigung gegen den Lyrismus, den Herz zerreißenden Lyrismus dieses Gedichts. Allerdings wäre es durchaus möglich, dass dieses Gedicht gerade auf Deutsch ,funktioniert‘, als ursprünglich polnisch in seinem patriotischen Ausdruck. Auch wenn das nicht eben meine Spezialität ist.
Nach der Lektüre der ihm zugesandten Gedichte verzichtete Dedecius auf „Miasto“, das notabene wenige Jahre später in einer Nachdichtung Jan Wyplers erschien. Der Übersetzer behauptet zu verstehen, warum Miłosz „Miasto“ nicht zu seinen charakteristischsten Gedichten zählt. Bei dem gereimten Text aus dem Band Ocalenie (Warschau 1945) handelt es sich um ein tristes, ja tragisches Lied über die in Schutt und Asche liegende Hauptstadt und ihre gefallenen Verteidiger. Wie eine historische Ansichtskarte zeigt es ein lyrisches Bild der ersten Freiheitsmonate und des wiedererstehenden Lebens in den Ruinen Warschaus. Es hält die Stimmung der Stadt jener Tage fest. Bei Miłosz ist Warschau personifiziert: Es hat Herz und Augenlicht und wird als Schmerzensreiche bezeichnet, ein Ehrentitel, der üblicherweise der leidenden Mutter Gottes unter dem Kreuz Jesu Christi vorbehalten ist. Völlig abgesehen von den potenziellen Übersetzungsproblemen, die das Gedicht birgt, hätte die Präsentation Miłosz’ durch das Prisma dieses Textes ihn als bis ins Mark patriotischen Dichter gezeigt. Eine solche Wahrnehmung legten die beiden zugesandten Werke „Piosenka o końcu świata“ und „Przedmieście“ nicht nahe, obwohl sie aus demselben Band stammten, dessen Gedichte noch im Krieg oder unmittelbar nach Kriegsende entstanden waren. Wenden wir uns jedoch wieder den Übersetzungsfragen sensu stricte zu. In einem der Briefe beschreibt Miłosz eine weitere Übersetzungserfahrung. Er weist darauf hin, dass ein Übersetzer, selbst wenn er nur die Übersetzung einzelner Gedichte eines Autors angeht, dessen Gesamtwerk gut kennen sollte:
Wenn Sie lediglich „Światło dzienne“ haben, so ist das wenig. Der Übersetzer sollte den Dichter, den er übersetzt, gut kennen, um unter den Gedichten jene auswählen zu können, die ihm am meisten zusagen. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Deshalb werde ich hier Fotokopien von dem Band Ocalenie und vom „Traktat poetycki“ anfertigen lassen. Außerdem schreibe ich an die Pariser Kultura, dass sie Ihnen meinen letzten neuen Band zukommen lässt – Król Popiel i inne wiersze [König Popiel und andere Gedichte].
Die Frage von Reim und Metrum in Miłosz’ Gedichten war für Dedecius eines der größten Hindernisse beim Übersetzen und Zusammenstellen der ersten deutschsprachigen Gedichtauswahl des Exilschriftstellers. Diese Schwierigkeiten schlugen sich in einem eingeschränkten Umfang des genannten Gedichtbands nieder. Vor den diffizilen Reimen hatte schon der Schriftsteller den Nachdichter gewarnt.
Für den Übersetzer sind [meine Texte] weniger dankbares Material als z.B. die Gedichte Herberts, da in vielen von ihnen der Reim eine große Rolle spielt. Zum Beispiel in dem Poem „Świat“ [Die Welt] aus dem Band Ocalenie, das ich zu meinen besten zähle.
Von den Reimen, die die Arbeit an den Übersetzungen spürbar erschweren, wenn nicht gar verhindern, wie auch von anderen Übersetzungsproblemen erfahren wir vor allem aus den Briefen des Übersetzers an den Dichter und aus seiner Korrespondenz mit dem Kölner Verlagshaus Kiepenheuer & Witsch. In einem Brief an Renate Matthaei, die deutsche Verlagslektorin des Miłosz-Bands, beschreibt Dedecius die Dilemmata, vor die er sich im Zuge der Arbeit an dieser Lyrik gestellt sah. Sie entstehen nicht nur aus dem Einsatz klassischer Reime und der Archaisierung des Wortschatzes, sondern auch aus zahlreichen offenen und verborgenen Bezugnahmen des Autors auf die historische Wirklichkeit Polens, konkrete Personen, Ereignisse oder literarische Chiffren. Wegen der angeführten Gründe nennt Dedecius den größeren Teil des ihm damals bekannten lyrischen Œuvres unübersetzbar. Mit Blick auf die fast abgeschlossene Arbeit an dem Gedichtband Lied vom Weltende beschreibt der Nachdichter sein Ringen mit den Gegebenheiten der Poesie Miłosz’ so:
Es war keine leichte Arbeit, weil die verschiedenen Gedichtbände von Miłosz sehr uneinheitlich formell und sehr schwierig essentiell zu lesen um so mehr zu übersetzen sind. Der überwiegend größte Teil seiner Gedichte ist unübersetzbar, nicht nur da, wo er eine Unmenge von traditionellen Reimen verwendet, oder, wie Thomas Mann im Deutschen, das Mittelhochpolnisch stilisiert, sondern auch in seinen moderneren, in freien Rhythmen und ungereimt geschriebenen Versen gibt es so viel nationalpolnische Bezüge, Namen, Chiffren, die den Genuß der Dichtung von vornherein einem fremden Leser versperren.
Wie Miłosz selbst in einem Brief Anfang der 1960er Jahre erklärte, hatte die Verwendung des Reims in bestimmten Augenblicken seines Schaffens für ihn keine wesentliche Bedeutung. Als Beispiele hierfür können wohl die Gedichte „Biedny chrześcijanin patrzy na getto“ oder „Kawiarnia“ aus dem Band Ocalenie angeführt werden. In manchen Texten jedoch besaß der Reim in ausgewählten Situationen funktionale Bedeutung und diente der Aufnahme und gleichzeitigen Wiederbelebung polnischer Literaturtraditionen durch die Bezugnahme auf konkrete Epochen und deren Poetik. Miłosz selbst fasst das in folgende Worte:
Nun zur Frage der Reime. Wie viele Lyriker, habe ich verschiedene Phasen durchlaufen. Wenn Sie Ocalenie lesen (in gewissem Sinne meine gesammelten Gedichte bis 1945), werden Sie bemerken, dass Phasen, in denen der Reim keine größere Bedeutung für mich hatte, mit Phasen abwechseln, in denen er durchaus eine Rolle spielte. Der Reim ist bei mir meistens ein Indiz, dass ich mich auf diese oder jene literarische Tradition berufe und sie in einer bestimmten Weise verwende – als Travestie, im Sinne einer Erneuerung, um zu zeigen, dass sie nicht gänzlich tot ist, mit ironischem Ton oder als Stilisierung, etwa in dem vor einigen Jahren entstandenen Gedicht (meines Erachtens eines der besten) „Rozmowy na Wielkanoc 1620 [roku]“ [Gespräche zu Ostern Anno 1620] (ein Dialog zwischen einem polnischen Protestanten, der jedoch schon katholisiert ist, und der Stimme des Teufels) – hier knüpfen – was nahe liegt – sowohl Strophen als auch Reime an die polnische Barockzeit an.
Das Gedicht „Rozmowy na Wielkanoc“, das Miłosz hier als Beispiel anführt, ist bis heute nicht ins Deutsche übertragen worden. Es steht außer Zweifel, dass die barocke Stilisierung und somit der moderne Rückbezug auf die Traditionen und literarischen Vorbilder des 17. Jahrhunderts, der bei Miłosz auch durch die Imitation des damaligen Versmaßes erfolgt, dazu führt, dass das genannte Gedicht unübersetzbar bleiben wird. Wenn von Texten die Rede ist, in denen durch die Prosodie keine literarhistorischen Bezüge hergestellt werden sollen, relativiert Miłosz die Bedeutung des Reims und das Gewicht seiner poetologischen Tragweite. Seiner Ansicht nach besitzt das klassische Versmaß hier strukturgebende Funktion. Im Gedichtaufbau wird das Versmaß durch die Vorgabe der Hebungen zum (lediglich] formbildenden Hilfsmittel:
Der Reim besitzt für mich, von eindeutigen Absichten abgesehen, keine übermäßig großen Möglichkeiten, und wenn ich ihn einsetze, dann als ganz gewöhnlichen, ,klassischen‘ Reim. Mein Ziel war gewöhnlich der Bau der Verszeilen, ihre geschlossene Textur, auch wenn die Sprache wenig ,poetisch‘ war; ich habe mich bemüht, das durch die Akzente zu erreichen. Es mag scheinen, dass das Polnische mit seinen festen Betonungen und der geringen Zahl einsilbiger Wörter, die für Abwechslung sorgen könnten, wenig geeignet ist für derartige Experimente, aber meiner Ansicht nach verhält es sich anders, die Möglichkeiten sind reichhaltig, nur fügen sich die Betonungen zu einem sehr verhaltenen Ganzen, völlig anders als im Russischen, das mich mit seiner offen liegenden Rhythmik eher irritiert als begeistert.
Die an Dedecius gerichteten Bemerkungen bestätigen somit die wenigen überlieferten Selbstkommentare Miłosz’ im Zuge seiner Nachdichtungen der eigenen Gedichte ins Englische. Bei jenen Übersetzungen hatte in der Regel die sprachliche Schlichtheit oberste Priorität, vor allem die rhythmische Form des Gedichts, die dem eigenen Atemrhythmus folgen sollte. Vom Standpunkt des Dichters aus sollte der rhythmische Verlauf der Nachdichtung die „Stimme des Originals“ nachbilden. Aus der oben angeführten Äußerung ergibt sich klar, dass nach Miłosz’ Dafürhalten die Frage seiner Reime einer Diskussion offenstand. In Übersetzungen von Texten, die eine Melodie nachahmten, sollten die Reime jedoch erhalten bleiben wie etwa in „Piosenka o końcu świata“. Anders verhält es sich bei Gedichten, in denen der Reim lediglich den lyrischen Ton intensiviert. In diesem Falle waren die sich wiederholenden Klanggebilde ein auch verzichtbares poetisches Stilmittel. Hier kann die Klangfarbe gebende Funktion des Reims auch durch die Setzung entsprechender Akzente im Deutschen wiedergegeben werden. Die hier expressis verbis geäußerte Ansicht des Autors spiegeln in der Praxis auch seine englischen Selbstübersetzungen etwa der gereimten Gedichte aus dem Band Ocalenie wider. Lassen wir hier Miłosz selbst zu Wort kommen, der sich der übersetzerischen Schwierigkeiten, die sich aus der Poetik seiner Lyrik unmittelbar ergeben, bewusst ist:
Die Frage des Reims ist also in jedem Fall geeignet, diskutiert zu werden. In „Piosenka o końcu świata“ ist der Reim wohl notwendig, da es sich um ein Lied handelt, und der Effekt auf dem Kontrast zwischen der recht einfachen (wenn auch wohl hübschen) Melodie und dem todernsten Thema beruht. Dieses Gedicht hat also etwas von einer Persiflage. Die Reime, die in „Pieśń obywatela“ [Das Lied des Bürgers] vorkommen, haben mir geholfen, den Ton des Ganzen herauszuarbeiten, wenn dieser aber allein durch die Betonungen des Deutschen zu erreichen ist, das ja gänzlich anderen Regeln folgt als das Polnische, kann guten Gewissens auf die Reime verzichtet werden. Ich führe diese beiden Beispiele an, um zu verdeutlichen, dass das Fehlen bzw. die Verwendung von Reimen für mich keine Frage des Prinzips ist.
Miłosz’ Äußerung prägte Dedecius’ Übersetzerentscheidungen; die Erläuterungen des Schriftstellers spiegeln sich in der Hierarchisierung der Übersetzungsfragen in den Nachdichtungen deutlich wider. Der Nachdichter schuf in Lied vom Weltende Reime, deren Anordnung und Zahl sich an das Original anlehnen. Am deutlichsten sieht man das an der ersten Strophe der Übersetzung, deren Klang spürbar Liedcharakter hat; bemerkenswert ist hier, dass es sich im Original um umarmende Reime handelt, während in der Übersetzung Kreuzreime vorliegen:
W dzień końca świati –
Pszczoła krąży nad kwiatem nasturcji, –
Rybak naprawia błyszczącą sieć, a
Skaczą w morzu wesołe delfiny, b
Młode wróble czepiają się rynny b
I wąż ma złotą skórę, jak powinien mieć. a
Am Tag des Weltendes –
Summt um die Kapuzinerkresse eine Biene, a
Flickt der Fischer das glitzernde Netz, b
Springen im Meer die lustigen Delphine, a
Junge Sperlinge krallen sich an der Rinne fest, b
Und die Haut der Schlange ist golden, wie sich das gehört. –
Auch die deutsche Nachdichtung des Gedichts „Pieśń obywatela“ offenbart, wie wichtig Dedecius Miłosz’ Erläuterungen zur Textprosodie waren. Im Einklang mit der Dichtermeinung gestattete er es sich, fast vollständig auf die Reime zu verzichten, die vor allem in den ersten fünf Liedstrophen des Originals zu finden sind. In der zweiten und dritten Strophe handelt es sich um einzelne Paarreime, in den Strophen IV und V begegnen wir gekreuzten Assonanzen, die die Zeilen nach dem Muster aba-b und a-bab zusammenfügen (das Reimvorkommen zeigt das unten zitierte Schlussfragment von „Pieśń obywatela“ nur partiell).
Die bedingungslose Forderung, die Reime beizubehalten, würde das Werk in die lange Reihe der unübersetzbaren Gedichte rücken. Die Ausgrenzung des Gedichts aus dem deutschen Kulturkreis wäre jedoch ein unwiederbringlicher Verlust. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass „Pieśń obywatela“ wohl Miłosz’ einzige Versdichtung ist, deren Pointe ein Motiv des deutschen Klassikers Johann Wolfgang von Goethes aufgreift.
Die Dichtung enthält zudem die wiederholte Bezugnahme auf die Ethik Immanuel Kants. Der Autor des Faust wird hier als altehrwürdiger Dichter gezeigt, der am Ende seiner Tage die Geheimnisse der Welt enträtselt und sie mit dem eigenen Werk in Einklang bringt, das er in Jahrzehnten geschaffen hat. Sein geistiges Erbe erwuchs gleich einem Baume als „Waldfestung“. Es ist bezeichnend, dass diese Dichtung, deren erste beiden Strophen auf die Apokalypse des hl. Johannes hin stilisiert sind und ihr die Symbolgebung verdanken (Stein, Meer, die weiße Farbe der Sterbenden und Gefangenen), im besetzten Warschau im denkwürdigen Jahr der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstands 1943 verfasst wurde.
Das Werk ist also ein Dokument des Untergangs, des Niedergangs der westlichen Kultur, ein Bild der Kriegsverbrechen des Völkermords und der Herrschaft zweier Totalitarismen. Gleichzeitig ist es die Stimme eines Vertreters der „Verlorenen Generation“, der die unmenschliche Zeit überlebte und seine ihm genommene Jugend und sein Erwachsensein einfordert. Seine Sehnsucht nach dem „bestirnten Himmel“ ist die Sehnsucht nach Moral, ein Echo des berühmten Ausrufs des Königsberger Philosophen Immanuel Kant, der des Nachts beim Anblick des Firmaments in ihm die ewige Weltordnung im Einklang mit dem absoluten Charakter menschlicher Freiheit, der Größe des moralischen Gesetzes im Menschen verbunden sah:
Tego chciałem i więcej niczego. W starości –
Jak stary Goethe stanąć przed obliczem ziemi a
I rozpoznać ją, i pogodzić ją –
Z dziełem, wzniesionym jak leśna forteca –
Nad rzeką zmiennych świateł i nietrwałych cieni. a
Tego chciałem i więcej niczego. Więc któż –
Winien? Kto sprawił, że mi odebrano b
Młodość i wiek dojrzały, że mi zaprawiono b
Moje najlepsze lata przerażeniern? Któz, –
Ach któż jest winien, kto winien, o Boże? –
I myśleć mogę tylko o gwiaździstym niebie, –
O wysokich kopcach termitów. –
Das wollte ich und nichts mehr. Im Alter –
Wie der greise Goethe vor das Antlitz der Erde treten –
Und sie wiedererkennen und sie versöhnen –
Mit dem Werk, errichtet wie eine Waldfestung –
Am Fluss der flüchtigen Lichter und der unsteten Schatten. –
Das wollte ich und nichts mehr. Also wer –
Ist schuld? Wer machte, daß mir die Jugend –
Und das reife Alter genommen, daß meine besten Jahre –
Angerichtet sind mit Entsetzen? Wer, –
Ach, wer ist schuld, wer ist schuld, mein Gott? –
Und denken kann ich nur an den sternklaren Himmel, –
An die getürmten Termitenhaufen –
Wie bereits festgestellt, engten die entstandenen Übersetzungsprobleme die Zahl der im ersten deutschen Band präsenten Gedichte Miłosz’ spürbar ein. Dedecius rechtfertigt seine Gedichtauswahl mit den Rezeptionserwartungen und -möglichkeiten des deutschen Lesepublikums, somit auch mit der Perspektive, einen möglichst breiten Lesendenkreis zu erreichen:
Meine Wahl begründe ich folgendermaßen: Ganz bewusst setze ich an den Beginn des Bandes ,unmittelbare‘, ,einfache‘ Gedichte – denn aus eigener Erfahrung weiß ich, dass solche Gedichte den gegenwärtigen deutschen Leser von Lyrik (die hier immer kompliziert und philosophisch war und sich selten in ,einfacher‘, unmittelbarer Form geäußert hat – daher auch der riesige Erfolg solcher Dichter wie Różewicz bei uns) am intensivsten ansprechen. Eine Auswahl, die eben solche Gedichte zeigt, kann sicher sein, ein breiteres Interesse auszulösen, eine lebhaftere Diskussion, ein vernehmlicheres Echo. Ich denke, dass das, was für Sie den wichtigeren Teil Ihres poetischen Schaffens darstellt, im zweiten und umfangreicheren Teil der Auswahl in einer für den Leser überzeugenden Form zum Ausdruck kommt. Ganz bewusst also […] wollte ich die zwei Flügel Ihrer Dichtung zeigen (wenn ich es, ein wenig vereinfachend, so nennen darf): 1. den moralischen und 2. den philosophischen. Sicher hätte man die Auswahl auf die ,dichtesten‘ Texte beschränken können, auf die Gedichte der zweiten Gattung – aber ich zweifle, ob das besser gewesen wäre.
Die Texte, die der Schriftsteller selbst gerne in einer solchen Lyrikauswahl gesehen hätte, seien – wie Dedecius im selben Brief vom 19. Oktober 1965 schrieb – „in vielen Fällen unübersetzbar, oder sie verlören in der Übersetzung zu viel von ihrer sprachlichen und poetischen Qualität.“ Die Ergebnisse der späteren Übersetzerarbeit von Dedecius an der Lyrik Miłosz’ in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verifizierten und relativierten dieses gewagte Urteil aus der Mitte der 1960er Jahre. Partiell ist diese Ansicht jedoch bis heute gültig geblieben, weil wir bis heute keine Übersetzungen mancher Gedichte Miłosz’ haben, die ihm besonders am Herzen lagen.
Ich denke hier an Dichtungen wie „Pieśń“, „Posąg małżonków“, „Dzień tworzenia“, „Kolędnicy“ oder auch das Werk „Do Jonathana Swifta“, das den Gedichtband Światło dzienne (Paris 1953) eröffnete. Letzteres Gedicht bezeichnete der Dichter selbst als unübersetzbar. Miłosz war sich der Hindernisse bewusst, die seine Texte im Übersetzungsprozess auftürmten, auch der Fälle einer zweifelhaften Übersetzbarkeit seines Idioms. Seine Einsichten resultierten fraglos aus seinen Übersetzungsversuchen der eigenen Lyrik ins Englische, aus dem Schlüpfen in die Rolle eines Selbstübersetzers und den ungewöhnlich hohen Erwartungen und zugleich Befürchtungen, die er an die Präsenz seiner Lyrik in einem anderen Kulturkreis knüpfte. Der Schriftsteller, der sich eine sprachliche Distanz zu den eigenen Werken aneignete, stufte ihre Übersetzbarkeit ab. Er unterteilte sie in „bestens übersetzbar“ bis hin zu „unübersetzbar“. Das belegt folgende an Dedecius gerichtete Äußerung des Dichters:
Wenn ich an dieser Stelle meine Erfahrungen als Übersetzer mitteilen darf – in diesem Fall sind mir meine eigenen Gedichte wie fremde –, am günstigsten zu übersetzen sind einige aus dem Zyklus „Głosy biednych ludzi“ [Stimmen armer Menschen] aus Ocalenie, z.B. „Pieśń obywatela“, „Piosenka o końcu świata“, „Biedny chrześcijanin patrzy na getto“ [Armer Christ sieht das Ghetto] sowie, später, aus Król Popiel, vor allem kurze Gedichte wie „Szczęście“ [Glück], „Portret grecki“ [Griechisches Bildnis] oder der ganze Zyklus „Po ziemi naszej“ [Auf unserer Erde]. Außerdem der ganze, aus kürzeren Teilen bestehende Komplex „Gucio zaczarowany“ [Gustl, der Verzauberte], der in der Pariser Kultura erschienen ist. Die längeren Poeme sind wahrscheinlich unübersetzbar. Vor allem jene, die Reim und Metrum haben wie „Traktat moralny“ [Moralischer Traktat], „Toast“ oder auch solche in Blankversen wie „Traktat poetycki“, der für den deutschen Leser womöglich völlig unverständlich ist, mit Ausnahme vielleicht des letzten Teils, „Natura“, der von Amerika handelt, obwohl diese Passage in philosophischer Hinsicht schwierig ist und ich nicht weiß, ob sie sich, losgelöst vom Ganzen, bewältigen lässt. „Rozmowy na Wielkanoc 1620 [roku]“ aus dem Band Król Popiel mag ich sehr, aber die eingeflochtenen Reime und die Stilisierung weisen ins 17. Jahrhundert!!!
Beim Studium der deutschen Nachdichtungen der Lyrik Miłosz’ sieht man eine Kongruenz zwischen der Nichtpräsenz eines Teils seiner Gedichte in deutscher Sprache und der selbst vorgenommenen Einstufung des Autors hinsichtlich ihrer Übersetzbarkeit. Im Falle des „Traktat poetycki“, das über die Stellung der Poesie inmitten der historischen Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachsinnt, nahm der Autor wegen der Häufung vielfältigster Anspielungen, Bezüge und historischen Gegebenheiten nie an, dass die Dichtung einen nichtpolnischen Leser ansprechen könnte.
Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Rezeption dieses Textes ist die vorhandene Vielzahl polnischer Schriftstellernamen, die außerhalb des eigenen Kulturkreises nicht weithin bekannt waren. Eine ähnliche Sicht dieser Dichtung muss Dedecius gehabt haben, der gar nicht erst den Versuch unternahm, den „Traktat poetycki“ in seine ersten beiden Auswahlbände des Dichters aufzunehmen. Betrachten wir das ebenfalls von Miłosz erwähnte, autobiographische Gedicht „Toast“ aus dem Band Światło dzienne einen Augenblick lang näher. Weshalb ist dieser Text über Vilnius nach dem Krieg, seine Atmosphäre und die in Wilna verbrachte Kindheit apriori unübersetzbar? Miłosz schrieb es 1949 in den Vereinigten Staaten anlässlich des zwanzig Jahre zuvor bestandenen Abiturs und richtete es an seine dort porträtierten Freunde. Die Dichtung ist im Stil einer Aufklärungssatire verfasst, was für den Lyriker sicher auch einen Prüfstein für seine Qualitäten als Reimeschmied darstellte. Die Textdominante scheint also die poetische Kunstfertigkeit des Schriftstellers zu sein, wie Halina Turkiewicz feststellte:
Der Dichter schien sich darüber im Klaren zu sein, dass er die Züge mancher Freunde deutlich überzeichnete, denn es ging ihm nicht so sehr um Lebensnähe, sondern um künstlerische Werte.
Dank der konsequenten Verwendung weiblicher Reime erhält das Gedicht „Toast“ klangliche Prägnanz. Im Falle einer Dichtung von mehreren Hunderten Zeilen im typischen 13-Silbler ist schon allein die Prosodie eine ungeheuer schwierige Herausforderung für den Übersetzer und spricht die fragliche Übersetzbarkeit des Gedichts an. Hier ein Ausschnitt:
Rośliśmy nieświadorni w naszym cichym mieście.
Oddalone jest od nas o lat chyba dwieście.
Jednak niekiedy, z rzadka, tak mi się wydarzy,
Że słyszę bicie dzwonów i krzyki narciarzy,
Chrzęst rzemieni w rynsztunku oficerów konnych
I furkotanie sukien siostrzyczek zakonnych.
Z szyldów kły do mnie szczerzą lwice i tygrysy
Co mają raczej ludzkie i tubylcze rysy,
Kiedy ja, rad, że lekcja nie była zadana,
Idę czytać podróże do Tomasza Zana.
Naiv wuchsen wir in unsrer stillen Stadt heran
Geschehen ist all das wohl vor 200 Jahrn.
Doch bisweilen, selten, sucht’s mich heim,
Ich höre Glocken schlagen, Skifahrer schrei’n
Zügelriemen knarr’n der Offiziere hoch zu Ross
Wie das Gewand die Nonnen flatternd umfloss.
Von Schilden recken mir Löwinnen, Tiger die Klauen
Und sind wie hiesige Menschen anzuschauen,
Als ich mich froh, dass in der Schule nichts aufgegeben
Zum Lesen vom Reisen zum Tomasz Zan begeben.
Wenden wir uns jedoch wieder den Fragen leichter übersetzbarer Werke zu. Am Ende seiner Arbeit am Gedichtband Lied vom Weltende hält Dedecius über drei Texten inne. Es handelte sich um die Werke „Heraklit“, „Kresy“ und den Gedichtzyklus „Po ziemi naszej“. Alle drei Dichtungen entstammen dem Gedichtband Król Popiel i inne wiersze (Paris 1962). Die Korrespondenz verrät uns, vor welche Probleme sich Dedecius bei der Übersetzung gestellt sah. Aufschlussreich ist hierbei, dass die ersten Zweifel des Übersetzers mit Recht aus Druckfehlern resultieren, die sich in der ihm zugesandten Ausgabe befanden. Miłosz’ Kommentar zur Übersetzung des Gedichts verwandelt sich in eine Einführung des Autors in die verwendete Symbolik und Bildgebung. Es steht außer Zweifel, dass die Ausführungen des Dichters unschätzbaren Wert für die adäquate Deutung der Werke haben, somit auch für eine sinngetreuere Übersetzung des Werks:
[Heraklit] Natürlich: „jadł trawę“ – „drawę“, ein gewöhnlicher Druckfehler. Was die letzten vier Zeilen betrifft: Aus seiner (legendären) Einsiedelei sieht Heraklit das Meer (vielleicht als Symbol ewiger Bewegung), aber für uns (ganz sicher für uns) ist er in einen ewigen Wandel verwickelt, wir sehen ihn als Teil eines ewigen Wandels, zusammen mit allem, was nach ihm geschieht – Monstranzen, die Zeit des Rittertums und der Kreuzzüge (Orlando Furioso), bis hin zu etwas, was selbst für uns Science Fiction ist, denn bislang haben Frauen nicht als Funkerinnen auf U-Booten gearbeitet (ich nenne sie ,Tiefseeboote‘ , um einen Märchenton anzuschlagen, sonst würde der Ausdruck ,U-Boote‘ genügen, der zur Bezeichnung der Waffengattung dient).
Aus der Diskussion zum Gedicht „Kresy“ erfahren wir, warum es in den nächsten Gedichtband Miłosz’ in Gänze aufgenommen wurde. Dedecius hatte auch Zweifel beim dort verwendeten Ausdruck „dobra sława“, der ihm als Tautologie erschien. Als Übersetzungsproblem erwies sich auch die vom Dichter eingefügte literarische Inkrustation, die im „Auszieren des Textes“ mit einem Zitat aus einer Barockidylle bestand: „Langsam, meine Schäfchen, langsam voran“.
Im Gedicht „Kresy“ eröffnet und beschließt diese Zeile das Werk und ist eine intertextuelle Bezugnahme. Der Autor rechtfertigt sich, weil er bei der ersten Ausgabe des Gedichtbandes nicht markiert hatte, dass es sich um eine entlehnte Textpartie handelte. Werfen wir einen Blick in Miłosz’ eigene Erläuterungen:
,Kresy‘ [Grenzland] – Dieses Gedicht wurde in dem Band Król Popiel um eine ganze Strophe verstümmelt (ein Versehen in der Druckerei), womöglich haben Sie die Errata, was ich aber bezweifle. Deshalb habe ich das Gedicht noch einmal in voller Länge in dem Band Gucio zaczarowany abdrucken lassen.
,dobra sława‘ – Ja, das ist im Sinne eines guten Namens gemeint, es klingt ein wenig feierlicher, auf Polnisch kann man sagen ,dobra sława‘, ,zła sława‘, auch ,sława‘ – was ,Bekanntheit‘ meint, fame, glory, la gloire, und ,niesława‘ ist fast gleichbedeutend mit ,Schande‘.
,Wolno, owieczki moje, wolno postępujcie‘ [Langsam, meine Schäfchen, langsam voran] – Das ist ein Zitat aus einer (polnischen) Barock-Idylle. Es war ein Fehler, dass ich Zeilen dieser Art nicht mit Anführungszeichen markiert habe, um sie als Inkrustation kenntlich zu machen. In dem neuen Band habe ich das getan. Die Rechtfertigung dieses Kunstgriffs (den heutzutage viele Dichter anwenden, nach dem Vorbild T.S. Eliots etwa) ergibt sich, wenn man das ganze Gedicht liest (und nicht die durch den Druck verstümmelte Fassung). Eine Assoziation mit Meereswellen – im Polnischen spricht man auch von ,Lämmchen‘ – weißen Wellen – in Bezug auf Schaumkronen auf dem Meer. Die Zeile muss also ein wenig altmodisch klingen, damit die literarische Referenz deutlich wird.
Der letzte Kommentar betrifft den Gedichtzyklus „Po ziemi naszej“. Übersetzungsprobleme entstehen für Dedecius hauptsächlich auf der Ebene von Miłosz’ Lexik, die seine Beobachtungsgabe und die Namensgebung für Flora und Fauna für die Neuschaffung von Bildern mit dem Ziel nutzt, eigene poetische Weltsichten zu konstruieren.
In den Erläuterungen finden wir daher Miłosz’ ,faunischen‘ Neologismus „ślimacznica dróg“ wie auch Bezeichnungen für Birnen, die dem Dichter aus seiner Kindheit vertraut waren oder auch eine Vogelgattung, die in Amerika lebt und auf Polnisch den klangvollen Namen „tanager“ trägt.
,W ślimacznicy dróg‘ [im Schneckengeschlinge der Wege]. Das ist vielleicht ein Neologismus von mir. Manchmal spricht man im Polnischen von einer ,Schnecke‘, um moderne Straßen zu bezeichnen, die sich spiralförmig, eine über der anderen, winden. Ich denke hier natürlich an amerikanische ,freeways‘, die sich gerade an den Brücken von San Francisco in mehreren Etagen übereinander schlängeln. Bezeichnungen für Birnen. Ich habe keine Ahnung, wie das wiedergegeben werden könnte. ,Cukrówka‘ [Zuckerbirne] ist eine sehr süße Birnensorte. Die Sapieżanka‘ [Rettichbirne], auf einer Seite rosa, hat einen etwas herben Geschmack. ,Ulęgałka‘ [Teigbirne] – eine kleine, halb wilde Birnensorte, die gegessen wird, wenn sie ,gelegen hat‘ (erlegen ist), das heißt, wenn sie leicht angefault ist. ,Bera‘ [Butterbirne] kommt wahrscheinlich von ,Berry‘. ,Bergamota‘ – ,Bergamotte‘. […] ,tanagra‘ ist der zweite Fall (Genitivus) von ,tanager‘. Lateinische Bezeichnung der Gattung Piranga. Ein bunter, nicht sehr großer Vogel, der im westlichen Teil Amerikas vorkommt.
Przemysław Chojnowski, aus: Andreas Lawaty und Marek Zybura: Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme, fibre Verlag, 2013
Ulrich Schmidt: Eine mäßig verfaulte, große Republik. Czesław Miłosz ambivalentes Amerikabild
Walter Gross: Ein polnischer Europäer: Czesław Miłosz
DU, Heft 3, März 1966
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Czesław Miłosz
Irena Grudzińska-Gross: Czesław Miłosz und Joseph Brodsky. Die Freundschaft zweier Dichter
Michael Krüger erinnert sich an Czesław Miłosz.
Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021
Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021
Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź
Diskussion mit Czesław Miłosz über sein Werk und sein Leben in Frankreich und den USA.
Kein Kommentar – ich bin aus dem Nachlass meines verstorbenen Bruders im Besitz eines 6-zeiligen Gedichts in polnischer Sprache von Ceslaw Milosz. Können Sie mir sagen, wer mir dieses Gedicht übersetzen kann?
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Lauterkorn
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