ZUR ORDNUNG GERUFEN
Du könntest schrein,
Denn die Menschheit ist rasend.
Doch, wem wie wem, dir ziemt es nicht.
Aus welchem Sand
Und welchem Lehm und Schleim
Und widerspenstigem Splitt
Hattest du deine Burg, trotz des Versuchs der Meere,
Berührt von der Welle bereits, zusammengeklebt.
Welches Chaos
Erwarb sein Maß von-hier-bis-dort.
Welcher Abyssus
Wurde gesehn und verschwiegen.
Welche Angst
Vor dem, was du bist.
Ein polnisches Wunder
Ein Gesicht, das untertaucht in der Menge. Selbst die buschigen Brauen über den blauen Augen scheinen sich anzulegen, anzupassen. Czesław Miłosz, Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1980, geht mit schnellen Schritten über den Campus der kalifornischen Universität Berkeley. Niemand nimmt ihn wahr. Niemand erkennt ihn. Dichter im Exil seit drei Jahrzehnten, 1911 in Litauen geboren, ein geistiger Grenzgänger zwischen Ost und West: Seit 1960 vermittelt er als Professor in Berkeley slawische Literatur. Nun, wo ihn die Stockholmer Auszeichnung aus der Unauffälligkeit herausgerissen hat, soll er sich selbst vermitteln, soll er sich zu erkennen geben. Die Universitätsstadt Berkeley entdeckt ihren Dichter. Es ist seine erste Lesung hier.
Ein Gesicht, das untertaucht in der Menge. Wo bleibt er eigentlich? Das Lesepult ist leer, der Saal voll. Eine Schiebewand muß geöffnet werden, um weiteren Platz zu schaffen für die Nachdrängenden. Hineingehuscht ist er, steht im Geschiebe der Menge, sucht sich beiseite zu stehen, gerät aber immer wieder ins Hin und Her. Die Arme verschränkt, die rechte Hand klammert die Ledertasche. In unauffälliges Braun gekleidet: Sakko und Cordhose, aber Schlips. Mit der linken Hand greift er sich an die Stirn, schiebt eine Haarsträhne hoch, die wieder runterrutscht. Ein verlegenes Lächeln.
„Meine treue Sprache… Du warst mir das Vaterland, weil es mir fehlte“, heißt es in einem seiner Gedichte. Czesław Miłosz hat zeit seines 70jährigen Lebens nie aufgehört, polnisch zu schreiben. Litauen fühlte sich jahrhundertelang mit Polen verbunden, war es aber nur zeitweilig. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es eine unabhängige Republik. Ein Teil dieses Gebietes mit dem Kulturzentrum Wilna gelangte 1921 zu Polen, bis sich dann die Sowjetunion beide Teile einverleibte. Czesław Miłosz blieb Pole und ist Pole geblieben, auch wenn er 1951 Polen den Rücken kehrte. Für ihn war es die lebensnotwendige Befreiung von stalinistischer Willkür. Er ist heute amerikanischer Staatsangehöriger. Die polnische Staatsbürgerschaft ist ihm aber nie entzogen worden.
Czesław Miłosz in Berkeley: Schaut er nach Osten oder schaut er über den Pazifik nach Westen, es bleibt sich gleich. 11 000 Kilometer trennen ihn von den Städten seiner Kindheit und Jugend. Sie wird er nicht wiedersehen, solange sie sowjetisch sind. Doch nichts wird seine Dichtung trennen können von den getrennten Provinzen. „Ein Dichter trägt sein Heimatland in sich“, sagt Miłosz. „Ich habe Polen nie verlassen.“
Was Polen bis zum 13. Dezember 1981 gewesen ist? Die Fäden laufen vom Gdansk Lech Walesas zum Rom Karol Woityłas und nach Berkeley zu Czesław Miłosz, als gehe es um eine neue Verbindung von Arbeit, Glaube, Hoffnung. Das an die Erschießung aufbegehrender polnischer Arbeiter gemahnende Denkmal auf der Danziger Leninwerft, enthüllt im Dezember 1980, gilt den Polen heute als Symbol nationaler Neubesinnung. Das Denkmal trägt drei Inschriften: Worte der Bibel, Worte des Papstes, Worte des Dichters Miłosz.
„Ihr, die ihr Leid über den einfachen Mann brachtet, ihr, die ihr über sein Leid lachtet, fühlt euch nicht sicher. Der Dichter erinnert sich. Ihr könnt ihn töten. Ein neuer wird auferstehen. Taten und Worte – nichts wird vergessen sein.“ Diese Zeilen wählten die Polen für das Denkmal aus. Es sind Zeilen aus einem Gedicht, das Czesław Miłosz 1950 geschrieben hatte und das nun, genau drei Jahrzehnte später, erstmals in Polen veröffentlicht wurde. Zu einem Zeitpunkt also, als sich, erstmals in einem kommunistischen Land, Arbeiter den Status einer freien Gewerkschaft erkämpft hatten. Der Nobelpreis für Czesław Miłosz also eine vordergründig politische Entscheidung der Jury?
Als ihn im Oktober 1980 ein amerikanischer Reporter aus dem Bett klingelte, ihm telefonisch die Nachricht von der Stockholmer Entscheidung mitteilte und ihn fragte, wie er sich als Nobelpreisträger fühle, antwortete Miłosz mit einem Wort: „Nachdenklich.“ Weniger nachdenklich reagierten westliche Literaturkritiker, denen Miłosz mehrheitlich kein Begriff war. Entweder schrieben sie verlegen oder mit „ungutem Gefühl“ über diese Wahl (Corriere della Sera). Die Stuttgarter Zeitung meinte, „daß die Literatur wieder einmal zu kurz gekommen“ sei. Amerikanisch verhielten sich die Amerikaner: Sie feierten Miłosz als einen der Ihren, druckten einen Gedichtband nach, den selbst in Berkeley kaum eine Buchhandlung führt. Die Universität füllte in der Dwinelle Hall auf dem Campus einen Schaukasten mit Dokumenten, Büchern und Fotos des neuen Nobelpreisträgers. Und sie stellte ihm nach 20 Jahren einen festen Parkplatz zur Verfügung.
Die erste Lesung aus eigenen Werken in Berkeley erfolgt am 6. April 1981, ein halbes Jahr nach der Stockholmer Preisverleihung. Doch vermittelt sich da Czesław Miłosz dem Publikum, gibt er sich ihm zu erkennen? Er macht es wie die meisten seiner Kollegen, mischt lesend Humorvolles mit Ernstem. Er verhält sich gefällig. Indes, gefällig ist dieser damals 69jährige in seiner Auseinandersetzung mit der „kindischen westlichen Zivilisation“, wie er sie noch in seinen zahmsten Worten nennt, überhaupt nicht. Er ist ein intellektueller Klotz, der sich nirgendwo einfügen läßt. Seine Werke haben inzwischen „jene Form eines Gebets“ angenommen, in der ein Franz Kafka die letzte Legitimation von Dichtung sah. Aufrührerisch kämpft Miłosz schreibend um die Wiedereinsetzung der religiösen Dimension in die westeuropäische Zivilisation, die den Gang der Welt bestimmt.
Was ist Poesie, wenn sie weder Völker
noch Menschen rettet?
Eine Komplicenschaft amtlicher Lügen,
ein Singsang von Säufern, denen bald jemand die Kehle aufschlitzt,
ein Lesestückchen aus Gartenlauben.
Daß ich die Dichtung wollte, ohne zu können,
und ihren erlösenden Zweck erst sehr spät verstanden habe,
das und nur das ist die Rettung.
Das sind Zeilen aus einem Gedicht, das Miłosz als 34jähriger am Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat. Er liest sie in Berkeley in polnischer Sprache. Ein Gedicht, so fern und so nah. Bedürfnis nach einer wahren Heimat, einer Heimat, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einschließt.
Der weite Weg eines Menschen aus einem ländlichen Land, „wo das Heu nach Traum duftete“, eines Jungen, der mit schlechtem Gewissen betete und mit gutem Gewissen nicht Kommunist sein konnte, der diesen Zwiespalt wachsen sah – zu Zeiten des Hitler-Stalin-Paktes, der Aufteilung Polens durch Deutschland und die Sowjetunion, zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs und danach. Ein Mensch, der mit sich haderte, weil die Erfahrung immer wieder seine Zweifel bestätigte, der immer Widerspruch gegen sich selbst einlegte, weil er gerecht sein wollte, der in den fünfziger Jahren in zwei Büchern seine Generation und sich selbst definierte: als Abtrünnige der Bibel.
Was ist dieser Czesław Miłosz heute? Ein Katholik, Ketzer und Konservativer in einer Person. Also alles, was im Westen Europas nicht zusammenpaßt.
Geboren wurde er am 30. Juni 1911 in Seteiniai als Sohn eines Brücken- und Straßenbauingenieurs. Sein Abitur machte er 1929 am König-Sigismund-Gymnasium in Wilna. Ein Jahr später erschienen in Wilna seine ersten Gedichte. 1931 gehörte er zu den Gründern der avantgardistischen Poetengruppe um die Zeitschrift Zagary. Als Visionäre kommenden Untergangs, die Stellung bezogen gegen die Krakauer Avantgarde der zivilisationsgläubigen Konstruktivisten um Juli an Przyboś, wurden die „Zagaristen“ auch „Katastrophisten“ genannt. 1934 schloß Miłosz in Wilna sein Jurastudium ab, ging für zwei Jahre nach Paris, arbeitete dann von 1936 bis 1939 in Wilna und Warschau beim polnischen Rundfunk, lernte dort seine Frau kennen, heiratete, arbeitete während der deutschen Besetzung für die Presse der Widerstandsbewegung und verfaßte illegale Schriften.
1945 stellte sich Miłosz in den Dienst seines zerstörten Landes. Er arbeitete als Kulturattaché an der polnischen Botschaft in Washington. 1951 gab der Parteilose seine kritische Solidarität mit den polnischen Kommunisten auf und blieb im Westen. Die Familie seine Frau und seine zwei Söhne waren noch in Washington. Sie durften in Amerika bleiben. Miłosz, gleich weit entfernt vom schmähenden Eifer kommunistischer Konvertiten wie von antikommunistischer Hysterie eines McCarthy, fand in Frankreich Zuflucht. Erst 1960 durfte er sich in den USA niederlassen.
Czesław Miłosz heute an der kalifornischen Universität in Berkeley. Zimmer 5407 in der Dwinelle Hall. Blick auf den Campus. Zwölf Quadratmeter als Refugium. Hier bereitet er Seminare und Vorlesungen vor. Zwei Schreibtische. Darauf verstreut Briefe, Manuskripte, handschriftliche Aufzeichnungen. Nicht zu übersehen: ein Foto seines Cousins Oscar Vencesłas de Lubicz-Miłosz, des noch immer verkannten Dichters, der in Paris lebte, schrieb und 1939 starb; geistiges Vorbild für den Jüngeren. An der einen Längsseite ein Bücherregal, an der anderen eine Tafel. An die Tafel zwei Blätter gespickt. Das eine mit der Aufschrift: Ein sauberer Schreibtisch ist ein Zeichen kranken Geistes. Das andere zeigt den Staat Israel. Mit 65 begann Miłosz Hebräisch zu lernen, um die Bibel neu ins Polnische zu übersetzen. „Das Buch Jeremia“, „Das Hohelied“, „Die Weisheit Salomos“ sind bereits fertig. Czesław Miłosz – ein Gesicht, das untertaucht in der Menge. Ein Gesicht, das auftaucht in der Enge des Zimmers 5407. Die Brauen sträuben sich, die Hände geraten in Bewegung. Mit ihnen zwei Zeigefinger und manchmal zusätzlich noch ein Bleistift, den er nicht losläßt. Also: Polen gehört geistig und kulturell zu Westeuropa… Die Teilung dieses Westeuropa seit 1945 ist ungerecht… Aus einem geheimen Grunde wurde die ganze slawische Welt ein Experiment für die Menschheit… Westeuropa hat seine geistige Basis verraten… Die Basis ist die Bibel… Die materialistische Denkweise strebt immer nur zum Wahrnehmbaren, aber nicht zur Wahrheit… Was zur Zeit in Polen passiert, ist groß im planetarischen Sinn… Nicht nur deshalb, weil es fern von aller westlichen Lust am Untergang ist.
Wen interessiert Derartiges in den Vereinigten Staaten, wen besonders in Kalifornien, wen also in Berkeley, das sich nach der Rebellion gegen den Vietnam-Krieg in den sechziger Jahren längst wieder zurück verwandelt hat in eine gewohnt harmlose amerikanische Universitätsstadt? In der wie überall in jenem Landstrich nur der Antwort auf die eine Frage nachgelaufen zu werden scheint: Wie erhalte ich mir meinen Körper jung? Jogging mit dem Radiogerät im Arm oder mit Transistorgerät umgeschnallt und Kopfhörern. Nicht vereinzelt, nicht an bestimmten Stellen, sondern überall. So, als käme man nie aus dem Ameisenhaufen heraus. Der Student, der Manager, die Oma unterwegs. Morgens, mittags, abends. „Eine Gesellschaft von zweibeinigen Insekten“, wie sie Czesław Miłosz in seinem Buch Das Land Ulro befürchtet?
Wie sieht er eigentlich die Vereinigten Staaten unter dem Kalifornier Reagan? Unter einem Präsidenten, der verächtlich von den Geisteswissenschaften als „soft sciences“ spricht, denen am besten die finanziellen Mittel zugunsten der „hard sciences“, der Naturwissenschaften, entzogen werden sollten? Unter einem Außenminister Haig, der die militärische Intervention, sofern sie nur den Interessen der USA dienlich ist, über den Frieden stellt? Miłosz reagiert mit einer vorsichtigen, aber zugleich auch schreckhaften Aussparung der Bedrohung. „Also, also, von der Dichtung zu Haig“, antwortet er. Und dann:
Ich sollte sagen, daß unsere Unterhaltung gewisse Grenzen haben muß. Mich interessiert Polen. Und Polen hat Feinde genug.
Seine politische Auseinandersetzung mit Kapitalismus und Kommunismus erklärt der Schriftsteller für abgeschlossen. In seinem Buch Verführtes Denken (1953) hat er eine gültig gebliebene präzise AnaIyse des praktizierten Kommunismus gegeben und exakt vorausgesagt, in welche Konflikte diese Ideologie besonders in Polen führen wird. In seinem autobiographischen Band Rodzinna Europa (1959), zu deutsch „Heimat Europa“ und in der Bundesrepublik unter dem fälschlichen Titel West und Östliches Gelände herausgekommen, hat er seine geistige Herkunft als zu Westeuropa gehörig dargelegt, dabei als Litauer zugleich die nach 1945 eindringlichste Charakteristik der Russen gegeben und seine Erfahrung mit den USA festgehalten. Beide Bücher liefern außerdem Erkenntnisse über die Methodik kommunistischer Machthaber, kluge Intellektuelle moralisch zu korrumpieren.
Die Thesen von Miłosz lauten: Die große Sehnsucht des freischwebenden Intellektuellen ist es, zur Masse zu gehören… Der Kommunist des Westens braucht die Vision eines goldenen Zeitalters, das schon im Begriff ist, sich hier auf Erden zu verwirklichen. Der kommunistische Funktionär aus dem Osten scheut keine Mühe, die Menschen in dieser Vision zu bestärken, doch er vergißt darüber nicht, daß es sich dabei um eine nützliche Lüge handelt… In dem Maße, wie der Mensch seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft freiwillig und freudig zu erfüllen lernt, wird die Dosis des Terrors herabgesetzt werden. So endlich soll der freie Mensch geboren werden.
Doch Miłosz wäre nicht der, der er ist, wenn er nicht übergreifend argumentierte:
Der nackte Terror hat ebensowenig wie das Kapital die Neigung, freiwillig abzudanken… Der McCarthyismus in Amerika ließ ein Schauspiel der dunkelsten Rückständigkeit entstehen… Der offizielle Antikommunismus war falsch… Unsere sich so stolz christlich bezeichnende Kultur ist auf dem Blut Unschuldiger errichtet worden… Unsere Entrüstung gegenüber denen, die heute mittels ähnlicher Methoden eine andere Kultur zu gründen versuchen, entbehrt nicht eines gewissen Pharisäertums… Ohne das Christentum wären ja weder Marx noch Hegel gewesen. Einzig das Sakrale hat eine Verweltlichung erfahren, die Transzendenz ist durch die Immanenz ersetzt worden. Später, als man dem Königreich Gottes den Namen Kommunismus gab, gewann man wenigstens den Trost, daß der große ,Tag‘ näher rückte.
Über die USA und den Kapitalismus urteilte Miłosz:
Ich sah die Achillesferse ihrer Staatsform, diese Auslese von Politikern und Staatsmännern, die beinahe immer negativ war… Die Amerikaner halten ihre Gesellschaft für etwas, das aus der Naturordnung hervorgegangen war… Ihre ganze Raubgier ist im Kampf ums Geld kanalisiert worden, und durch diesen Kampf wurde die blutige Lehre des Bürgerkriegs verdeckt, später war jeder von ihnen schon so in der Übung, daß er die Arbeitslosigkeit während der großen Krise nur als Schande seiner eigenen Unfähigkeit empfand… Der Triumph des Einzelnen verwandelte sich paradoxerweise in individuelle Unfruchtbarkeit, sie hatten Seelen aus glänzendem Plastikstoff, so daß nur die Neger in ihrer Besessenheit, die der unseren glich (oh, what a morning, when the stars begin to fall), lebendig, tragisch und spontan waren.
Czesław Miłosz dementiert nichts. Doch das Schlaglicht, das der Nobelpreis auf den Schriftsteller wirft, erhellt fast nur eine Dichtung, die nicht über die späten fünfziger Jahre hinausreicht. Eine Dichtung, die aus dem Polnischen in die Sprachen des Westens übertragen worden ist. Das meiste, was er danach geschrieben hat, stieß zwei Jahrzehnte lang auf kein Interesse mehr: Es erschien in seiner Muttersprache, gedruckt von dem bedeutendsten polnischen Exilverlag Instytut Literaçki in Paris, für den Miłosz bis zu seiner Übersiedlung in die USA gearbeitet hatte. Kein Literaturpreis der Welt wird den Weg erhellen können, den Czesław Miłosz in den letzten zwei Jahrzehnten gegangen ist. „Denn der Mensch bedarf einer Behausung“, schreibt er. „Und es genügt ihm nicht ein Dach über dem Kopf im physischen Sinn…“
Ich sehnte mich nach Mitmenschen, nach Brüdern, besseren, schlechteren, aber immerhin Brüdern.
Der Zweite Weltkrieg riß die Freunde von seiner Seite, die meisten ermordet von den Deutschen, viele auch von den Russen. Er erinnert sich an einen deutschen Bombenangriff. Er warf sich auf einen Acker und spürte die Einschläge vor, neben, hinter sich und saugte sich mit den Blicken an einem vor ihm liegenden Stein und zwei Grashalmen fest:
Und plötzlich, während ich das Pfeifen einer Bombe hörte, wurde mir klar, wie unendlich kostbar die Materie ist: Dieser Stein und diese zwei Grashalme waren ein Königreich für sich mit ihrer unendlichen Zahl an Formen, Nuancen, Rauheiten, Lichtreflexen. Sie waren ein Weltall.
Czesław Miłosz erzählt nicht viel über jene Jahre des Schreckens. Das Trauma wirkt weiter. „Das kommt davon, daß mein Gedächtnis wund ist, gepeitscht, geprügelt, blaugeschlagen“, heißt es in seinem Buch Das Land Ulro.
Czesław Miłosz ist zeit seines Lebens ein Mann gewesen, der immer zuviel gesehen hat. Weit über 1945 hinaus ließ ihn der Gedanke nicht los, Polen in die Luft zu sprengen, „damit keine Mutter mehr die auf Barrikaden gefallenen siebzehnjährigen Söhne und Töchter beweinte, damit kein Gras mehr auf der Asche von Treblinka, Majdanek und Auschwitz wüchse, damit, auf den schemenhaften, zertretenen Sanddünen der Warschauer Vorstadt keine Mundharmonika unter einer Zwergkiefer erklänge“. Und so schreibt er:
Denn es gibt eine Art des Mitleids, die man nicht ertragen kann, und da sprengt man dann seinen Gegenstand in die Luft, wenigstens subjektiv, das heißt, man ist dann von einem einzigen Verlangen beherrscht: nicht hinschauen.
Nach der Auszeichnung des Dichters mit dem Nobelpreis gab die polnische Führung die Literatur von Czesław Miłosz in den staatlichen Verlagen frei. 200.000 Exemplare seiner Bücher kamen auf den Markt und waren in wenigen Stunden verkauft. Die Leute standen Schlange vor den Buchläden. „Doch das Weinen Antigones, / die ihren Bruder sucht“, heißt es in einem seiner Gedichte, „ist, wahrlich über das Maß des Erträglichen. Das Herz aber / ist ein Stein, in dem / die dunkle Liebe zum Land des äußersten Unglücks / verschlossen ist wie ein Insekt.“ Unser Dilemma sieht Miłosz so:
Entweder soziale Gerechtigkeit um den Preis des Terrors, der Lüge und der Versklavung oder aber eine Freiheit, die unerträglich ist, weil über ihr ein abwesender Gott und ein nicht intervenierender Christus steht… leider. Die Gleichung lauetet:. Die Menschen mögen sich anstellen, wie sie wollen, sie müssen doch wählen – und sie haben keine große Wahl.
Sicher ist für ihn:
Die großartigen Errungenschaften meines Jahrhunderts, seine Wissenschaft, Technik, Medizin stehen in enger Wechselbeziehung mit dem Zerfall, sie sind aus dem Zerfall entstanden und haben ihrerseits Zerfall gezeugt.
Miłosz weist die Rolle des Moralpredigers von sich:
Die Krankheit steckt auch in mir… Ich weiß selbst, daß ich ein Krüppel bin, und gebe nicht vor, es nicht zu sein. Mit anderen Worten: Ich kenne sehr wohl das Elend meines Menschseins, und mehr als einmal, wenn ich losschreien und mit dem Kopf gegen die Wand schlagen wollte, habe ich mich unter Aufgebot meines ganzen Willens zusammengerissen und mich an die Arbeit gemacht, weil ich es mußte.
Mußte? „Ja“, sagte er, „nur eine Sprache wird dem höchsten Anspruch der menschlichen Imagination gerecht, und in ihr wurde die Heilige Schrift geschrieben.“ Czesław Miłosz heute:
Die atheistischen Fortschrittler des vergangenen Jahrhunderts haben schlicht und einfach die Dynamik der Heilsgeschichte auf die Geschichte der menschlichen Gesellschaft übertragen. Sie sind nichts als Fortsetzer der Tradition der altbekannten religiösen Triade Paradies, verlorenes Paradies, wiedererlangtes Paradies.
Atheisten respektiert der Dichter Mitosz. Doch er mißt sie an der Größe seines Landsmannes Witold Gombrowicz (1904–1969), der seit 1939 im Exil lebte und im Exil starb. Für den Atheisten, so meint Miłosz, gilt die allerstrengste Ethik, „denn sein Mitmensch wird durch keinen posthumen Ausgleich entschädigt, nichts, keine wie immer erhabenen Losungen, keine Wahrheit, kein Fernziel, vermag die Mißhandlung eines einzelnen Menschen zu rechtfertigen“. Und so urteilt Miłosz:
Daher macht sich auch in den Augen des wahren Atheisten der russische Kommunismus fürwahr schrecklicher Verbrechen schuldig, und zwar körperlicher Folterungen an Millionen von Wehrlosen wie auch seelischer Torturen, nämlich der Angst, der durch Angst erzwungenen Preisgabe moralischer Regungen und des Verzichts auf die Teilnahme an religiösen Zeremonien. Gerade indem er die Religion verfolgte, in welcher der Atheist ein bewunderungswürdiges Werk der menschlichen Einbildungskraft und ein wirksames Mittel zur Linderung der Not des Lebens und des Sterbens sieht, hat sich der Kommunismus als menschenfeindliches System erwiesen.
In dem Buch Das Land Ulro sieht der Leser einer neuen Art von Menschwerdung zu. Das Land Ulro meint das Land der austauschbaren Menschen. Anknüpfung an die Vision des Dichters und Malers William Blake (1757 bis 1827), der alles richtig vorausgesehen hat. In seinem Buch kommt Miłosz zu folgenden Schlüssen: Die menschliche Einbildungskraft muß sich von den Gesetzen der Mechanik befreien… Aus dem Nihilismus der exakten Wissenschaften vermag sonst niemand die Welt herauszuführen als die Bibel… Der Mensch ist ein ambivalentes Wesen. Umkehr ist die entscheidende Geste eines Wesens, das gespannt ist… Die Existentialphilosophie, die die tragische Situation des Menschen auszudrücken gedachte, wurde durch ihren Idealismus zu einem oberflächlichen Optimismus… Der Wille des Kommunismus, das Individuum im Kollektiv auszulöschen, weil das Individuum dem allgemeinen Glück im Wege steht, ist romantisch… Wirklichkeit ist nicht nur insoweit existent, als sie mathematisch abbildbar ist. Es gilt das Spekulative wieder in die Wissenschaft einzuführen.
In seinem Buch Das Land Ulro, in dem er seine Konzeption vom Sinn des Lebens darlegt, bekennt sich Miłosz zur Geschichte der religiösen Außenseiter, die sich bewußt der geistigen Spaltung abendländischer Kultur widersetzten und somit als wegweisend für die Zukunft wiederzuentdecken sind. Er fühlt sich hingezogen zu dem berühmten schwedischen Naturwissenschaftler Emanuel von Swedenborg (1688–1772), der die Bibel über alles stellte, zu dem englischen Mystiker Blake, dem dänischen Protestanten Sören Kierkegaard (1813–1855) mit seiner Forderung nach christlicher Strenge, zu der französischen Jüdin Simone Weil (1909–1943) mit ihrer Prognose: „Faschistische, kommunistische, demokratische Staaten treiben dem gleichen Ziel des bürokratischen Totalitarismus entgegen.“
Vornehmlich in jenen Denkern definiert sich dieser 70jährige. Über Polen schrieb er 1945:
Das reinste der Völker der Erde, wenn das Licht der Blitze sie richtet,
gedankenlos, aber listig im Trott des gewöhnlichen Tages…
Seine besten Söhne bleiben unbekannt,
sie tauchen nur einmal auf, um auf Barrikaden zu sterben.
Czesław Miłosz sagt heute:
Die Polen haben nichts vergessen. Und weil sie nichts vergessen haben, haben sie die Mauer zerstört, die die Machthaber um sie herum gebaut haben, um sie abzuschließen vom Rest der Welt und ihrer eigenen Vergangenheit. Das Geheimnis der Polen ist ihr Gedächtnis. Und die Kontinuität ihrer Geschichte, ihres Glaubens, ihrer Kultur und ihrer Sprache.
Und er fügt hinzu:
Sollten die gesellschaftlichen Veränderungen in Polen erfolgreich sein, dann wäre das ein Jasagen zu diesem ganzen Jahrhundert. Es würde bedeuten, daß eine neue soziale Form möglich wäre, wie sie der polnische Philosoph Stanislaw Brzozowski zu Beginn dieses Jahrhunderts erträumt hatte. Eine neue Form nationalisierter Wirtschaft, kombiniert mit einer Organisation von unten. Was in Polen geschieht, ist ein Drahtseilakt. Es ist eine Hoffnung für uns alle, ob wir im Westen leben oder nicht. Die Katastrophe dieses Experiments würde uns alle in dunkle Jahre führen.
„Die Hauptaufgabe eines Dichters ist es, die Wahrheit zu sagen“, schrieb Miłosz 1951 nach Warschau, als er die Gründe für seinen Bruch mit dem Regime darlegte. „Ein soziales System, das auf der Lüge aufgebaut ist, kann nur Unglück über die Menschen bringen.“ Und als er in Stockholm seine Nobelpreisrede hielt, sagte Miłosz: „Nur dort, wo die Versammelten die Verschwörung des Verschweigens fortsetzen, klingt ein wahres Wort wie ein Schuß.“ Miłosz protestierte gegen die von Hitler und Stalin beschlossene und später von den westlichen Mächten legalisierte Teilung Europas. Er erinnerte an die Todesstätte der Dichter Władysław Sebyła und Lech Piwowar, seine Freunde: Katyn, wo Stalin 4000 polnische Offiziere ermorden ließ, die Ende 1939 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren.
Nicht Lenin, sondern der Dichter Wladimir Majakowski verkörpert für Miłosz die russische Revolution. „Ihre ganze Zivilisation“, schreibt er.
Immer doppeldeutig, gewaltig, in der Literatur nach Gerechtigkeit lechzend, in den alltäglichen, niederen Dingen armselig und grausam, als ob alle ihre Kräfte sich in außergewöhnlichen Taten entluden und nichts für das bescheidene Verlangen nach Harmonie und Glück übrigbliebe, ein Verlangen, das als Verrat und Schwäche galt und ausgerottet wurde wer weiß, ob nicht dieser Satz die Wahrheit über die Russen sagt: Sie können mehr, aber weniger können sie nicht.
Dieser Manie des Gigantischen entsprach – so sieht es Miłosz – der Selbstmord Majakowskis, in dessen Werk sich die Theorie mit dem alten Traum der Russen verband, das auserwählte Volk zu sein. Doch klingt vieles, was Czesław Miłosz sagt, nicht minder messianisch? Er lacht, er weiß um seine Schwäche: „Wahrscheinlich ist für die Polen jede Begegnung mit Russen unangenehm und reizt sie zur Abwehr, denn sie demaskiert sie vor sich selbst.“ Dennoch: „Sollte Westeuropa, seine Kultur und seine Zivilisation, die die Welt erobert hat und selbst noch in der Perversion den Erdball prägt, sollte also dieses geistige Westeuropa gerettet werden, sollte Westeuropa wieder einen neuen Sinn erhalten, der den alten biblischen einschließt“, so sagt er, „dann wird das Neue im Osten passieren.“ Und was er mit Osten meint, heißt die Peripherie des Westens, also Polen. „Sie kennen ja die Literatur, die den Tod des Menschen behandelt“, sagt er zu mir.
Sie kommen ja aus dieser Gegend. Diese westliche Literatur der Destruktion. Der Wahnsinn der Politik, der eingeht in die Literatur und Literatur, die nicht weitergeht.
Namentlich nimmt Miłosz nur einen aus: Samuel Beckett. „Die Größe des kapitalistischen Westens trotz aller Unkenrufe über seinen Zerfall zeigt sich darin“, meint er, „daß er gerade einen solchen Dichter hervorgebracht und als sein eigen anerkannt hat, daß er sich also für die illusionslose Wahrheit entschieden hat.“
Czesław Miłosz, der Dichter, der sich zu Gott bekennt. Doch Gott antwortet immer noch nicht auf seinen Anruf, wie er nicht geantwortet hat, als Czesław Miłosz es bereits als Junge versucht hat. Er kann Hebräisch lernen, er kann das Hohelied übersetzen, er kann „in einer Sprache des Feuers, des Wassers und jeglicher Elemente“ sprechen, wie es in der Bibel heißt, er kann alle „göttlichen Künste der Einbildungskraft“ mobilisieren. Als Dichter ein Medium, so versteht er sich. Doch als Intellektueller steht er wieder da, wo er schon in seiner Jugend gestanden hat: vor dem Kreuz, dem Zeichen der Zerrissenheit dieser Welt, vor dem gekreuzigten Christus, der mit seinem Tod dokumentiert, daß auf dieser Erde die Wahrheit immer so endet, also ans Kreuz geschlagen wird.
Daß er vor dem Kreuz aushält, macht die Größe von Czesław Miłosz aus. Daß er nicht vorgibt, weitergekommen zu sein, macht seine Ehrlichkeit aus. Czesław Miłosz hat Angst, nicht zu zweifeln, und er zweifelt, weil er Angst hat zu glauben.
So zahlt unser Jahrhundert heim
denen, die seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung vertrauten.
Und was hat Gewinnen bedeutet? Mitten im Wort zu verstummen.
Den Schrei zu vernehmen, der Lüge zu huldigen, die Wahrheit war nämlich gefallen…
Jean Paul Sartre schrieb einmal an Albert Camus, da diesem kein politisches System passe, sehe er nur einen Platz für ihn: die Galapagos-Inseln. Albert Camus, der Dichter des Mythos vom Sisyphos, der den Stalinismus so früh geißelte, wie ihn Miłosz analysiert hatte, der von Jean Paul Sartre ebenso bekämpft wurde wie Miłosz – Albert Camus war ein Freund des polnischen Dichters im französischen Exil der fünfziger Jahre. Was die beiden damals gesagt hatten, ist dann später von Sartre und Louis Aragon und Pablo Neruda nicht mehr bestritten worden.
Was Miłosz dem Philosophen Sartre vorwirft ist nicht, daß dieser sich geirrt hat, sondern daß er wider besseres Wissen aus taktischen Gründen an der vorgeblichen Reinheit des Kommunismus festgehalten hat, solange es überhaupt ging. „Verabscheuungswürdig“, urteilt Miłosz, „und mißlich für einen Philosophen.“
Und Pablo Neruda, Symbolfigur für ein freies Chile? Czesław Miłosz hat seinen Canto General ins Polnische übersetzt. Als Miłosz dann mit Warschau brach, schmähte ihn Neruda als einen US-Agenten – öffentlich. Privat antwortete er 1965 auf die Frage des Exil-Polen, warum er das damals getan habe, wo er doch gewußt habe, daß sein Vorwurf nicht gestimmt habe:
Es tut mir leid, ich entschuldige mich.
Bitterkeiten hat Miłosz im intellektuell fest gefügten kommunistischen Milieu Frankreichs der fünfziger Jahre viele erlebt. Doch wie jeder Pole, so gesteht er, liebt er dieses Land und fährt als US-Bürger immer wieder zu Streifzügen dort hin.
Kalifornien, das war für Miłosz lange das seinem Freund Camus von Sartre zugedachte Galapagos. „Lange habe ich mich gesträubt, meine Niederlage einzugestehen“, sagt er. „Ich war ein Pole, der in Amerika polnisch schreibt. Ich glaube nicht an eine Verständigungsmöglichkeit außerhalb ein und derselben Sprache und geschichtlichen Tradition. Was ich auf polnisch schrieb, war für Leser bestimmt, die irgendwo jenseits von Raum und Zeit existierten. Alles war für mich verloren. lch habe die Niederlage angenommen. Und auch die Einsamkeit. Nur wer die Einsamkeit und die Niederlage akzeptiert, wer nichts mehr zu gewinnen und nichts mehr zu verlieren hat, kann die Wahrheit schreiben. Ich mußte lernen, wie ein Verbannter zu leben.“
Was er der westlichen Literatur vorwirft: ihren Transzendenzverfall, der die Dichter mehr und mehr dazu gebracht hat, ihre Kunst zu materialisieren. Zuerst bewahrte man sich eine Zeitlang die Natur als geeigneten Projektionsraum für transzendierende Übertragungswünsche. Aber mit dem Voranschreiten von Wissenschaft und Technik und der damit verbundenen Zerstörung von Welt und Umwelt wurde auch dies unmöglich. Die Kompensationen wurden immer angestrengter, liefen in politische Sackgassen. Nach und nach zogen sich die westlichen Schriftsteller auf sich selbst, allein auf ihr seelisches Interieur zurück. Seit die Ahnung von einem jenseitigen Paradies untergegangen und der Glaube an die gesellschaftliche Utopie abhanden gekommen ist, erschien nur eine Idee vom Glück möglich: die Befriedigung, der die Langeweile folgte.
Wie reagiert er auf die neuen Fluchtmodelle? „Die Zivilisationen von Indien, Altchina, alles das sind Reliquien, Vergangenheit“, urteilt er. „Keine Kraft kann dieser Zivilisation wieder zum Leben verhelfen. Das planetarische Spiel hat sein Zentrum in Europa. Hier gilt es sich einzusetzen, zu kämpfen, nach den richtigen Wegen zu suchen, die verschüttet wurden.“ – „Ein schöner europäischer, arroganter Standpunkt“, antworte ich ihm. „Ja“, sagt er. „In Beziehung zu Westeuropa und Amerika bin ich ein östlicher Europäer und zeige die Arroganz eines östlichen Europäers. Nach Indien hin nehme ich die Arroganz ganz Europas in Anspruch.“ In einem Gedicht für einen Guru namens Raja Rao schreibt er:
Ich verzichte auf Hilfe, Raja, mein Teil ist die Agonie
der Kampf, die Verworfenheit, die Selbstliebe und der Selbsthaß,
ein Gebet für das Königreich Gottes
und die Lektüre Pascals.
„Die Welt ist unverändert schön“, darauf beharrt Miłosz. Und er sagt: „In diesem Satz steckt tiefes Atemholen. Es ist Gesundheit, wenn man sich vom unerträglichen Schmerz abwendet. Ich bete zu Gott, zu einem Gott, den Sie sich humorvoll vorstellen müssen. Ich möchte Kamele haben, Schiffe und Frauen. Was ist schlecht daran? Sie können sagen, das ist suspekt, weil ich auf meinen Vorteil aus bin: Aber was taten die Menschen in der Bibel? Sie suchten ihren Vorteil, auch wenn sie zu Gott beteten. Warum nicht? Ist das schlecht, ist das verdächtig?“ Zeilen aus einem seiner jüngsten Gedichte:
Der Verlust der Geburtsprovinz, des Vaterlandes, das ganze Leben unter fremden Stämmen umhergewandert, selbst das ist nur romantisch, das heißt erträglich. Angesichts der Tatsache, daß mein Gebet als Gymnasiast in Erfüllung ging, das Gebet eines Jungen, der die Meister las und um Größe bat, was nichts anderes heißt als Exil…
Czesław Miłosz nimmt uns mit zu seinem Haus am Grizzly Peak Boulevard. Die Straße liegt an einem Steilhang, gibt den Blick frei über Berkeley hin zur Bay nach San Francisco und der Golden Gate Bridge. Zwei kleine Holzhäuser stehen auf dem Grundstück. Das eine mehr Garage denn sonst etwas, darüber eine kleine Gästewohnung, in der Renata Gorczinski, seine einstige Studentin, wohnt und für Miłosz als Sekretärin arbeitet, seitdem er den Nobelpreis hat. Noch immer kommen täglich an die 50 Briefe, viele aus Polen. Nebenher bereitet sich Renata Gorczinski auf ihre Dissertation vor. Ihr Thema: Czesław Miłosz.
Zwischen Gästehaus und Wohnhaus stehen hohe Fichten. Im Garten Rhododendron, Kamelien, Kirschlorbeer, Fuchsien. Sein Arbeitszimmer auch nicht viel größer als 20 Quadratmeter. Der Schreibtisch voller beschriebener Bogen. Davor polnische Lexika. Ein Schreibpult. An der Wand in einem Bilderrahmen ein Foto: seine Frau, als sie sich in Polen kennengelernt hatten.
Czesław Miłosz sagt, daß seine Frau sehr krank sei. Seit Jahren. „Mit ihr bin ich gereist. In die Sierras Amerikas. Wir haben gezeltet. Es war schön“, sagt er.
Ich habe inzwischen gelernt, das Haus in Ordnung zu halten, zu kochen, zu waschen, sie zu pflegen. Es ist gut so. Ich habe etwas Neues gelernt, und ich tue es gern.
Nein, er ist keiner, der vom Lunch zum Dinner eilt, von einer Einladung zur anderen, wenn er auch immer von Einladungen gegenüber Kollegen spricht, die gern mit ihm zusammen wären. Er ist einfach unabkömmlich. Er ist für Janka, seine Frau, da. Er kocht, er serviert, er räumt ab. Er spricht mit ihr, er bleibt in ihrer Nähe. Nachts sitzt er an den Psalmen Davids, die er gerade übersetzt.
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Warschau am Abend des 5. Juni: Czesław Miłosz betritt nach drei Jahrzehnten erstmals wieder polnischen Boden. In den Tagen zuvor hat das Fernsehen eine 90 Minuten lange Sendung über ihn gebracht. Die Zeitungen haben berichtet. Im Warschauer Literaturmuseum ist die bisher umfassendste Ausstellung über Leben und Werk des Dichters eröffnet worden. In der Buchhandlung daneben steht ein Foto von Miłosz im Schaufenster, aber kein einziges Buch von ihm. Seine Bücher zählen zu den Lebensmitteln, sind also immer sofort ausverkauft.
„Meine Dankbarkeit gilt den polnischen Arbeitern“, sagt er noch auf dem Flughafen. „Die Arbeiter sind geistig reif geworden. Und das ist der Index der Reife des ganzen Landes.“ Am Rande des Flughafens herrscht ein heilloses Durcheinander. Miłosz ist mit seinen beiden Söhnen gekommen. Sein Bruder und dessen Frau umarmen ihn. Eine Gruppe von alten Freunden wird abgedrängt, darunter der 82jährige Dichter Jerzy Andrzejewski. Miłosz hat Mühe, zu ihm hinzugelangen.
Junge Leute, alte Leute haben sich versammelt. Jeder will den Dichter berühren. Es ist kein Durchkommen zum Auto. Die Leute singen. Einstige Wilnaer heben ihn hoch, drücken ihm einen überdimensionalen Wanderstab in die Hand. Es wird geweint und gelacht. Und als er schließlich doch im Auto sitzt und das Auto anfährt, muß es wieder stoppen: Ein Student ist niedergekniet und hat beide Hände hochgehoben, Zeige- und Mittelfinger signalisieren das V: Victory, Sieg. Der Ruhm hat den Dichter handgreiflich eingeholt. Er läßt ihn in Polen nicht mehr los: Am nächsten Tag im Łazienki-Palast. Einladung des Kulturministers. Ein Chopin-Konzert zu Ehren des Nobelpreisträgers. Drei Stuhlreihen besetzt mit vorwiegend kritischen Intellektuellen aus dem Land. Das alles hat es hier schon lange nicht mehr gegeben. Dann am Abend im Studentenclub Stodoła vor mehr als tausend jungen Leuten erstmals eine Lesung im Heimatland. Aus zwei geplanten Stunden werden mehr als vier. Miłosz am Rande der Erschöpfung.
Am nächsten Tag ein Treffen mit jenen Menschen, die jahrelang ihre Freiheit riskierten, als sie in Polen zu einer Zeit Miłosz druckten, in der dies noch nicht erlaubt war. Vom Drucker bis zum Verlagschef Mirosław Chojecki haben sich an die 50 Angehörige der Edition NOWA in einer Drei-Zimmer-Wohnung versammelt. Bei der Begrüßung versagt dem Verlagsleiter die Stimme. Sein Stellvertreter muß einspringen. Am Ende hat jemand die Gitarre in der Hand und singt frühe Texte des Dichters, von deren Vertonung er bisher nicht wußte. „Ein seltsames Erlebnis“, sagt Miłosz. „Euch gegenüber bin ich in der Demut.“
Mit dem Bürgerrechtler Adam Michnik und Miłosz gehe ich durch die Warschauer Altstadt. Sein erster Spaziergang. „Mit Schwierigkeit kann ich diese Stadt wiedererkennen“, sagt er, „dies ist für mich heute eine andere Stadt.“ Mit den Rosen in der Hand, die er von den NOWA-Leuten geschenkt bekommen hat, geht er in die Kathedrale. Es ist Pfingstsonntag. Die Elf-Uhr-Messe. Dichtgedrängt sitzen und stehen die Menschen. Doch so unauffällig er auch wirkt, die Gläubigen erkennen ihn. Erst hört man, wie einzelne seinen Namen nennen, dann geht der Name wie ein Raunen durch die Reihen. Irritiert verläßt Miłosz die Kathedrale.
Auf dem Markt kommt eine junge Frau auf den ihn begleitenden Adam Michnik zu. Eine Studentin, die Michnik erklärt, daß sie sich gestern im Stodota nicht getraut habe, eine Frage zu stellen, ob er sie Miłosz vorstellen könne. Michnik tut es. Die Studentin fällt dem Dichter um den Hals. Der Dichter hat Schwierigkeiten mit dieser Form der Popularität. „Es ist für mich dort schöner, wo ich ruhig die Straßen entlang gehen kann, ohne erkannt zu werden“, sagt er. In Berkeley also, im Exil? „Ja“, antwortet er mir.
Das Exil sichert die Anonymität.
Czesław Miłosz reist von Warschau nach Krakau, dann nach Lublin, wo er die Ehrendoktorwürde der katholischen Universität entgegennimmt, eine Auszeichnung, die ihm bereits vor der Nobelpreisverleihung zuteil wurde. Nur – der Nobelpreis hat dann diese Polenreise möglich gemacht oder zumindest erleichtert. In Lublin trifft Czesław Miłosz zum erstenmal Lech Walesa. Auf dem Friedhof besucht er das Grab des bei einem deutschen Bombenangriff 1939 gestorbenen 36jährigen Lyrikers und Freundes Józef Czechowicz.
Seinen 70. Geburtstag am 30. Juni 1981 feierte Czesław Miłosz in Paris, unter den Angehörigen des polnischen Exil-Verlages Instytut Literaçki, der die Zeitschrift Kultura herausgibt.
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In Berkeley kommentiert Czesław Miłosz mit Bitternis die Verhängung des Kriegsrechts über Polen: „Was am 13. Dezember geschehen ist, ist die absolute Bankrotterklärung der kommunistischen Partei in Polen. Die Gewerkschaft Solidarität war eine große Hoffnung für die Welt. Innerhalb des sowjetischen Systems war etwas entstanden, was über die hergebrachten Vorstellungen von Kommunismus und Kapitalismus gleichermaßen hinausging.“
Aus: Jürgen Serke: Das neue Exil. Die verbannten Dichter, Fischer Verlag, 1985
Ulrich Schmidt: Eine mäßig verfaulte, große Republik. Czesław Miłosz ambivalentes Amerikabild
Ulrich Schmidt: Eine mäßig verfaulte, große Republik. Czesław Miłosz ambivalentes Amerikabild
Walter Gross: Ein polnischer Europäer: Czesław Miłosz
DU, Heft 3, März 1966
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Czesław Miłosz
Irena Grudzińska-Gross: Czesław Miłosz und Joseph Brodsky. Die Freundschaft zweier Dichter
Michael Krüger erinnert sich an Czesław Miłosz.
Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021
Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021
Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź
Diskussion mit Czesław Miłosz über sein Werk und sein Leben in Frankreich und den USA.
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