Czesław Miłosz: Zeichen im Dunkel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Czesław Miłosz: Zeichen im Dunkel

Miłosz-Zeichen im Dunkel

ARMER POET

Die erste Bewegung ist Singen,
Freie Stimme, die Berge und Täler erfüllt.
Die erste Bewegung ist Freude,
Und diese wird uns genommen.

Haben die Jahre das Blut erst verwandelt,
Sind tausend Planetensysteme im Körper geboren,
aaaaaerloschen,
Dann sitze ich, listiger, zorngeladener Poet,
Mit boshaft blinzelnden Augen,
Und sinne, die Feder zwischen den Fingern wiegend,
Auf Rache.

Ich setze die Feder an, sie treibt Triebe und Blätter, bedeckt sich mit Blüten,
Doch der Geruch dieses Baumes ist schamlos, denn auf der realen Erde
Wachsen nicht solche Bäume und der Geruch dieses Baumes
Ist so, als würde man Leidende mißachten.

Die einen retten sich in die Verzweiflung, die süß ist
Wie starker Tabak, wie ein Schluck Wodka, im Moment der Verlorenheit getrunken.
Die anderen hegen die Hoffnung der Narren, die blaßrot ist, wie erotische Träume.
Noch andere finden die Ruhe im Götzendienst für ihr Land,
Der lange anhalten kann,
Obwohl kaum länger als das noch währende neunzehnte Jahrhundert.
Mir aber ist die zynische Hoffnung gegeben,
Denn seit ich die Augen auftat, sah ich nichts außer Bränden und Schlachten,
Außer Erniedrigung, Unrecht und lachhafter Schmach der Eitlen.
Mir ist die Hoffnung der Rache an andren und an mir selber gegeben,
Denn ich war einer, der wußte
Und keinen Vorteil daraus für sich gezogen hat.

 

 

 

Zeichen im Dunkel

Mit dem Band 908 stellte die edition suhrkamp 1978 den Poeten und Poetologen Julian Przyboś (1901–1970) vor, dessen Gedichte und Theorien ab 1925 bahnbrechend und wegweisend wurden und in der polnischen Literaturgeschichte innerhalb der Krakauer Avantgarde oder der Ersten Avantgarde (awangarda krakowska, pierwsza awangarda) ein gewichtiges Kapitel belegen. Das verbindliche Kennwort „erste“ Avantgarde deutet darauf hin, daß es parallel zu ihr oder in ihrer Folge eine „zweite“ Avantgarde gegeben hat.
Diese „zweite“ Avantgarde gruppierte sich wenige Jahre später (1931) in Wilna – dem, von Krakau aus gesehen, Gegenpol – und widersprach mit lyrischen Visionen von der Menschheitsdämmerung den zivilisationsgläubigen Konstruktivisten der „ersten“. Deshalb wurden die Dichter der Wilnaer Gruppe gelegentlich die Gegenavantgarde oder, gemäß ihrer apokalyptischen Weltsicht, die Katastrophisten genannt.
Beide Avantgarden markieren auch geographisch die kulturphilosophische Spannweite der polnischen Dichtung der zwanziger und dreißig er Jahre: vom Optimismus der Krakauer im Südwesten bis zum Pessimismus der Wilnaer im Nordosten des Landes.
Der herausragende Poet der Wilnaer Gruppe war Czesław Miłosz, heute Professor in Berkeley und einer der bedeutendsten lebenden Dichter Polens.
So wie der Konstruktivist Przyboś seine Bilder mit dem „Werkzeug aus Licht“ steinhauerisch, angestrengt, hartnäckig optimistisch formte, so setzte der Naturphilosoph und Moralist Miłosz seine visionären, sowohl gegenständlich als auch metaphysisch orientierten „Zeichen“ aus dem Dunkel ins Dunkel: kulturkritisch und atavistisch. Dieses Dunkel – als Metapher, nicht allein hinter- und auch nicht nur vordergründig gemeint – ist der tragende, tragische Fundus, aus dem der Dichter und Denker Miłosz schöpft. Der Kritiker Konstanty Troczyński, der den Weg „Vom Formismus zum Moralismus“, den Weg der beiden Avantgarden, in der polnischen Literatur der dreißiger Jahre untersucht hat, entdeckte als erster in Miłosz’ Gedichten den „integralen Pessimismus“. „Vom Formismus zum Moralismus“ wäre also die andere mögliche terminologische Bestimmung der Diagonale Krakau Wilna, des polnischen poetologischen Süd-Nord-Gefälles.
Czesław Miłosz, geboren am 30. Juni in Seteiniai am Fluß Niewiaża, Kreis Kiejdany, in Litauen, als Sohn eines Brücken- und Straßenbauingenieurs, hatte seine Kindheit in Rußland und in Litauen verbracht. Diese Landschaften und die aus ihnen folgende Landläufigkeit sind für die erinnerten und vorgestellten Bilder seiner Dichtung ausschlaggebend geworden.
Das Abitur machte Miłosz 1929 am König-Sigismund-Gymnasium in Wilna, das Studium der Rechtswissenschaften beendete er 1934 an der Stefan-Batory-Universität derselben Stadt (der „schönen Stadt“, dem „Florenz des Nordens“). Als Student gehörte er dem Akademischen Klub der Vagabunden und der Sektion Originalautoren des Polonisten-Zirkels an. Die ersten Gedichte publizierte er 1930 in der Alma Mater Vilnensis, seinen ersten Gedichtband – Das Gedicht von der erkalteten Zeit – 1933 in Wilna. Im selben Jahr gab er, zusammen mit Zbigniew Folejewski, die Anthologie gesellschaftlicher Lyrik heraus. 1934 wurden seine Gedichte mit dem Preis des Wilnaer Schriftstellerverbandes ausgezeichnet.
Der Klub, dem Miłosz angehörte, redigierte eine vierseitige Literatur- und-Kunst-Beilage für die Lokalpresse, aus der später die Zeitschrift Żagary und der Name der Gruppe – Żagaristen – hervorging. Die erste Nummer der Zeitschrift erschien im April 1931. Den Namen Żagary hat der geistige Vater der Gruppe, Teodor Bujnicki, erfunden: es war ein im Polnischen unverbrauchtes Wort, der Wilnaer Mundart verwandt, vieldeutig – Kienspan, Glut, Fackel, Feuersbrunst −, schillernd. Żagary, ein Dingwort ohne Einzahl, lexikalisch ein Nachkomme der altpolnischen „Zaga“, von der deutschen „Säge“ abstammend, bedeutet in diesem veralteten Sinne „Späne, Splitter, welche die Störche ins Nest zusammentragen“. In Lindes etymologischem Wörterbuch steht noch eine zusätzliche Erklärung: „Żagar aus Steinkohle kann Apoplexie hervorrufen“. Im Untertitel bezeichnete sich Żagary, die Beilage der Wilnaer Zeitung Das Wort (Slowo), als „das Monatsblatt des kommenden Wilna, der Kunst gewidmet“. In dem kurzen Editorial der Redaktion hieß es: „Das kommende Wilna, das heißt die Generation, die startet. Sie startet auf einer selbstgewählten Bahn. Wir bilden keine Gruppe, keine Schule, keine Richtung. Uns verbindet mehr die Gemeinsamkeit des Vorhabens als dessen Charakter… ,Kommend‘ stoßen wir auf Probleme, queren wir eine Reihe von Problemen, die uns herausfordern, Stellung zu beziehen. Daher unsere Meinung von den ,Älteren‘“.
Die Distanz zu den „Älteren“, den mitunter kaum sechs Jahre älteren Kollegen der Quadriga (Kwadryga), aber auch zu den Avantgardisten aus Krakau und den Skamandriten („Skamander“) aus Warschau, artikulierten die jurisprudenten Żagaristen meist taktisch taktvoll, ohne Siegerpose oder Aggressivität.
In der zweiten Phase ihres Bestehens veränderte die Beilage ihren Namen; vom Mai bis zum Dezember 1932 hieß sie Mesonen (Piony) und erschien als kostenloses Beiblatt zum Wilnaer Kurier (Kurier Wilenski), fünf Nummern im ganzen.
In der dritten Phase verbanden sich die Żagaristen mit der Gruppe um die Monatsschrift Der Streifen (Smuga) und gaben ihr Organ – vom November 1933 bis zum März 1934 – wieder unter dem alten Namen Żagary heraus. Den Żagaristen Bujnicki, Dembiński, Gołubiew, Jędrychowski, Maśliński, Miłosz, Putrament und Zagórski schlossen sich also Kotlicki und Mikulko vom Streifen an. Das Redaktionskomitee wechselte, für die meisten Nummern zeichnete verantwortlich Jerzy Zagórski, heute im Vorstand des Warschauer PEN.

Die Żagaristen suchten nach einer Begründung ihres Schreibens in einem absoluten Wert, einer formgebenden Idee, die sich am besten im Widerspruch zu den „ästhetisierenden Formalisten“ aus Krakau, die sie Kirchgänger ohne Gott nannten, und zu den Lieblingen des Bürgertums aus Warschau, den Skamandriten, entwickeln ließ. Die Lyriker aus Wilna hatten in der Tat weniger Ästhetisches und Formales als Soziales und Politisches im Sinn. Czesław Miłosz umschrieb in der Nr. 5 der Żagary das Verhältnis des Freundeskreises zu der vorgefundenen Kunst folgendermaßen: „Arme Spezis in der Kunst des Schreibens kreisen von einem literarischen Kapellchen zum anderen und suchen, suchen um jeden Preis nach einer Ratio, die ihre Arbeit rechtfertigte, sie sanktionierte, von den Fehlern exkulpierte. Die Riesenwelt hämmert ringsum, Maschinenräder wälzen sich wie im Fieber, es gibt Demonstrationen, Arbeitslosigkeit, Hunger, blutbespritztes Asphaltpflaster in Berlin, es gibt die Sturmeinheiten des großen Kapitals, indes der Poet an seinem Schreibtisch sitzt und an einem Gedichtchen von der Liebsten bastelt.“ Im „Vorbeimarsch der toten Götter“ (Żagary Nr. 3/1931) entwarf Henryk Dembiński das Modell eines Poeten seines Schlages: eines disziplinierten Spartaners, der über die mittelalterlichen Fähigkeiten der Ekstase und der Askese verfügte. Dieser Poeta novus verachtete die metaphysischen Spiele der rauschsüchtigen „nackten Seele“ – Anspielung auf Przybyszewski – und die beschaulichen Romanzen des satten Bürgertums – Anspielung auf einige Skamandriten − gleichermaßen.

Denn was kümmert sie, wenn zwanzig Millionen Arbeitsloser auf Arbeit und Brot warten und wenn sechs Milliarden Bushel Weizen, sieben Millionen Tonnen Zucker, fünfzig Millionen Säcke Kaffee und Milliarden von Tonnen anderer Waren die Magazine sprengen und die hungernde Welt überschwemmen, ersticken.

Dembiński warnte vor den zynischen Praktiken des kapitalistischen Systems und vor der liberalistischen Apotheose der Kompromisse, vor dem Nationalismus.

Es ist drei vor zwölf… Wir haben wenig Zeit. Wir wollen bereit sein für die Stunde zwölf. Wir lehnen den ,ethischen Menschen‘ ab, das Erziehungsprodukt der kapitalistischen Demokratie. Wir träumen von einer neuen Moral der Produzenten.

Dembiński und andere Sprecher der Gruppe, die sich in den Żagary publizistisch äußerten, betonten den gesellschaftlichen Prozeßcharakter der Kunst und ihre erzieherische Funktion. Die praktizierenden Poeten schlossen sich diesem Programm an, so etwa Miłosz in der bereits zitierten Nr. 5 der Żagary:

Die Kunst ist Werkzeug. Machen wir uns das klar, ohne Verdummung durch den Glauben an ihre überirdische Herkunft. Die Kunst ist Werkzeug im Kampf der Gesellschaften um bessere Daseinsformen. Ihre Rolle besteht in der Organisation des Geistes… Also betreibt der Künstler Menschenerziehung.

Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis war bei den Żagaristen anders als bei den Krakauer Avantgardisten. Die Lyrik in Wilna war freier, umfassender als der dort programmierte theoretische Rahmen. In Krakau war man stärker in der Theorie als in der Praxis, in Wilna war es umgekehrt. Die Konstruktivisten aus Krakau waren in ihrer Lyrik im Grunde Formalisten des Fortschritts, während in der Lyrik aus Wilna – nach Meinung der zeitgenössischen Kritik – die Konfrontation mit der Wirklichkeit stattfand und die Żagary zum lebendigsten und wichtigsten Organ der ganzen Generation machte. Daß der Sauerteig für die neue polnische Poesie in jenen Jahren in Polens Grenzgebieten in der Provinz bereitet wurde, stellte bereits Professor Manfred Kridl in seinem Vorwort zur Anthologie der gesellschaftlichen Poesie fest:

Es gibt heute einige Poesiezentren, und zwar, was charakteristisch ist, hauptsächlich in den Provinzstädten: Krakau, Wilna, Lodz, Lublin. In Warschau regiert noch der skamandersche ,Klassizismus‘, um die artigste Bezeichnung von allen zu gebrauchen, welche die jüngsten Poeten auf ihre älteren Kollegen anwenden.

Die Żagaristen öffneten der polnischen Poesie das Auge für eine neue, beunruhigende, intellektuelle Erfahrung. Ihre Unruhe drückte sich aus in präzisen Visionen eines Weltzerfalls, auf den sie mit Kassandra-Rufen reagierten. Die Poesie der Żagaristen, allen voran die von Czesław Miłosz, war von Visualität und Synthese gekennzeichnet. Sie war Anschauung und synthetische Ordnung mit zugegebener Nutzanwendung. In dieser bewußten Formbildung empfand sich Miłosz damals den russischen Konstruktivisten verwandt, von denen er vier Grundsätze zustimmend übernahm:

die Achtung vor dem Gegenstand, die Verschmelzung aller Elemente des Werks – Wörter, Reime, Bilder – zur Einheit, in Übereinstimmung mit dem Wesen des Gegenstandes, die Geschlossenheit und die Konzentration des Sinngehalts und schließlich die Einführung prosaischer Mittel in die Poesie.

Im Gegensatz zur Kunst des 19. Jahrhunderts und zur Kunst des Skamander forderte Miłosz „die Diktatur des Intellekts statt der Emotionalität“. Sein Kollege Jerzy Zagórski ergänzte diese Forderung:

Um ein Werk von Wert zu schaffen, genügen Bemühungen, Scherenschnitte und Berechnungen nicht. Man muß, nicht mehr und nicht weniger, geistig an ein seriöses Thema heranwachsen.

Dieses Thema suchten und fanden die Żagaristen in der Natur, durch die Wahrnehmung des Alltags, der Schönheit der Dinge und des Lebens, gezeichnet allerdings bereits vom Niedergang der europäischen Kultur und Geschichte – den langen Schatten des Verfalls. Fast vier Jahrzehnte später, aus dem Blickwinkel einer anderen Welt und Erfahrung, beschrieb Miłosz aus dem Exil rückblickend die „zweite Avantgarde“ differenzierter:

Um das Jahr 1930 war die Phase der optimistischen Poesie, optimistisch auch in dem tieferen, professionellen Sinne, in welchem zum Beispiel Mallarmé ein Optimist gewesen war, vorüber. D.h. der. Glaube an den schöpferischen Akt, der sich der Welt entgegenstellte, der dem Skamander und der Krakauer Avantgarde noch gemeinsam gewesen war, war geschwunden. Die Żagaristen, die im Frühjahr 1931 geschlossen hervortraten, waren antiästhetisch, unsicher, allzu schüchtern, um noch eine Poetik zu begründen und zu propagieren. Sie waren romantisch: einerseits wollten sie ihre Gedichte rechtfertigen, indem sie sich auf die Umwandlung der Welt beriefen (daher die Ausbrüche in den Marxismus, bei Brzozowski, und bei ihren Schülern, z.B. bei Krzysztof Baczyński, in den Patriotismus von 1830), andererseits flohen sie aus der Wirklichkeit, ohne freilich zu verbergen, daß es sich dabei nur um eine Flucht handelte.

Die Wilnaer Gegenavantgarde hatte wie die Krakauer Avantgarde keinerlei Sinn für Humor, für absurde oder groteske Ausdrucksmittel und Spiele. Sie war todernst. Auf ihr lastete die zu neuen kriegerischen Auseinandersetzungen antreibende Hysterie in Europa, der politische und ökonomische Auflösungsprozeß, der die sensiblen Poeten in Wilna, weniger von formalem Ehrgeiz abgelenkt und deutlich auf geschichtlich-moralische Verantwortung konzentriert, besonders scharf empfanden.

Wir wissen, daß alle Wahrheit unvollkommen ist,
Doch schön sind die streng miteinander verbundenen Linien.
Unser Haus ist ein weißer Kubus, in bitteres Dunkel gerammt.
Die kleinen Mädchen tanzen im Tangogeblök.
Muß denn die Erde vergehn? Der Riesenhimmel vergehn?
Mitnichten. Vergehen müssen wir.

Die Żagaristen registrierten nachdrücklich die Tendenzen des Verfalls katastrophisch.

Ein Rauschen bricht an, die Flut eines fremden Ozeans,
des Ozeans des Nichts. Unter seiner weißen Gischt werden
Tier und Land versinken…

Alles vergangen, alles vergessen,
es ist Zeit, sich zu erheben und aufzubrechen,
obwohl du nicht weißt, wo das Ufer ist, wo das Ziel,
du siehst nur das Feuer, wie es die Welt verbrennt.

Die Züge des katastrophischen Helden waren fatalistisch, frei von Fanatismus.
In der Zeitschrift Schaffen (Twrózość) Nr. 3, Jahrgang 1974, hat der Kritiker Krzysztof Dybciak noch einmal summarisch die „erste“ Avantgarde mit der „zweiten“ – aus der Distanz der Zeit – verglichen. Die „erste“ habe sich an der Zukunft begeistert, die „zweite“ habe die Welt in Auflösung begriffen gesehen. Die Vision einer Sintflut, einer Feuerflut habe die katastrophische Geschichtsphilosophie, die sich die Gruppe zu eigen machte, bestimmt. Die „erste“ Avantgarde setzte auf die dynamische Erneuerung der poetischen Sprache, die „zweite“ knüpfte an die in der Tradition begründeten Symbole und Mythen an. Den Krakauern allerdings schlicht „ein gesellschaftliches Konzept vom Menschen“ und den Wilnaern antagonistisch „ein metaphysisches“ zuzuschreiben, was Dybciak tut, ist gewiß ungenau, denn im Grunde waren die Rechtsanwälte von Wilna in ihrer Kunstauffassung und Kunstpraxis linker als die linken Avantgardisten aus Krakau, deren „Revolution“ sich weit mehr auf die poetische Form als auf die Gesellschaft gerichtet hatte. Ebenso irreführend ist die Gegenüberstellung: hier (Krakau) der „Verstand“, dort (Wilna) die „Emotiop.“ und die „Intuition“. Die Żagaristen waren trotz ihrer Mythomanie – schon ihrer juristischen Ausbildung zu folge – mehr der Rationalität verpflichtet und mehr an Ökonomie, Soziologie und Politologie interessiert als die engagierten Laboranten der Sprache im Zeitalter der „Massen, Metropolen und Maschinen“.

In den Jahren 1934/35 hielt sich Miłosz als Stipendiat in Paris auf, lernte hier die französische Poesie an Ort und Stelle kennen und vor allem die seines Namensvetters Oscar Wenceslas de Lubicz-Miłosz schätzen. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er den Gedichtband Drei Winter. Im Jahre 1936 schrieb Miłosz in Wilna:

Oh, finstrer Mob auf grünendem Getreide,
die Krematorien sind wie weiße Felsen
und Rauch quillt aus den Nestern toter Wespen.
(Der träge Fluß)

Bis 1937 arbeitete er in der Wilnaer Redaktion des polnischen Rundfunks. Von diesem Posten auf Wunsch der Woiwodschaftsbehörde entfernt, siedelte er nach Warschau über und bekam – nachdem sich die Kampagne der rechten Presse gegen ihn beruhigt hatte – eine Stelle in der Zentrale des Polnischen Rundfunks, im Planungsbüro der Programmabteilung, zusammen mit Józef Czechowicz übrigens, der aus Lublin gekommen war und den Żagaristen nahestand.
Die Poeten aus Wilna näherten sich nach der Żagary-Ära in gewissen Punkten der „reinen Poesie“. 1937 berief Zagórski sich auf den romantischen Dichterpropheten Juliusz Słowacki als einen Zeugen dafür, daß es möglich sei, „den Mut zu gesellschaftlichen Problemen mit dem Streben nach Reinheit der Poesie in Einklang zu bringen… Künstlerische Lösungen jedweden Inhalts, also auch gesellschaftspolitischen, seien… nicht der Tendenz untertan. Diese sollte sich aus dem Werk ergeben, nicht es verursachen… In den Werken habe ein Gericht über die Wirklichkeit stattzufinden – das ist die Quelle aller Größe. Wahre Kunst befindet sich zwangsläufig in einem elementaren kritischen Konflikt mit der Wirklichkeit. Dieser Konflikt erfordert ernsten und starken Ausdruck.“
Nach 1935 zerfiel die Gruppe allmählich.

Miłosz, nach der Erfahrung seiner Pariser Reise, äußerte sich in Lot Nr. 17 zum Thema „Freude und Poesie“:

Die Poesie ist eine Disziplin des Innenlebens.

Er bekannte, daß sein Verhältnis zum Handwerk auf dem Vertrauen in die „Möglichkeiten, sich zu vervollkommnen und den Habitus der Tugend zu erringen“, beruhe. Miłosz spricht vom mönchischen „Orden der Poeten“ und von „verschiedenen Stufen künstlerischer Weihe“, auch von „mystischen Erfahrungen“. Alle diese Begriffe führen zum „einzigen Ziel der Poesie, das die Freude ist“. Diese Zielsetzung bringt Miłosz unvermutet in die Nähe seines Krakauer Gegenspielers Przyboś, dessen poetologischer Grundsatz lautete: „Poesie ist – summa summarum – Bejahung des Lebens, Enthüllung seines stets freudigen Sinns. Sogar die ,unerfreuliche‘ grausame Wahrheit ist – wenn sie Poesie ist – fröhlich. Poesie ist – absolute Moral. (Keine Sache des Optimismus/Pessimismus, sondern eine, die tiefer reicht.)“ Die „Freude der Poesie“ und die Moral machen aus zwei Gegnern Ordensbrüder der nicht nur nationalen, sondern auch internationalen Bruderschaft der Poeten. Plötzlich erscheinen die karikierenden Etiketten der Katastrophisten für ihre Krakauer Kollegen – „Planwirtschaftler der Gemütsbewegung“, „Funktionäre des Formalismus“ zweitrangig und die Geringschätzung der Krakauer ihren Wilnaer Kollegen gegenüber – „Leierkastenpoeten“, „Rhetoritis-Kranke“ eine Anspielung auf ihre Mentalität und Musikalität, die vom Russischen; Litauischen und Ukrainischen, den Grenzsprachen, überkommene Liedhaftigkeit der Strophen – als unwesentliches und boshaftes Konkurrenzgebaren. Im Grunde waren beide Avantgarden im besten Sinne originell und trotzdem einander verwandter, als sie es selbst wahrhaben wollten. Im europäischen Kontext, nach seinem Pariser Lehr- und Wanderjahr, definierte Miłosz seine Position wie folgt: „Die Poesie von Breton und Eluard ist nicht für uns. Wir schließen uns der Stimme des größten Dichters des jungen Frankreich an, vielleicht sogar eines der größten Dichter unseres Jahrhunderts, Patrik de La Tour du Pin.“ Wer kannte diesen Dichter damals, wer keimt ihn heute?

Die Kriegszeit verbrachte Miłosz zum größten Teil in Warschau. Seine Gedichte, 1940, hektographiert und unter dem Decknamen Jan Syruć kolportiert, haben den Brauch der vervielfältigten Manuskriptausgaben begründet. Zusammen mit Jerzy Andrzejewski gab Miłosz 1940–1941 die erste literarische Zeitschrift im besetzten Warschau heraus, die fast ausschließlich mit Beiträgen der beiden gefüllt war. 1942 erschien illegal seine Lyrik-Anthologie Das unabhängige Lied. Im selben Jahr übersetzte er das Anti-Petain-Buch von Jacques Maritain Die Straße der Niederlage, 1943 Shakespeares As you like it. 1943–1944 schrieb er mit Jerzy Andrzejewski einen Band mit Beiträgen zu aktuellen Themen in Briefform, der bis heute ungedruckt blieb. Seine Gedichte aus der Kriegszeit, Die Rettung, veröffentlichte 1945 der Verlag Czytelnik in Krakau. Unsere Auswahl enthält Proben daraus.
Was die Żagaristen in Wilna vorausgesehen, zu Visionen verdichtet hatten, wurde im Kriege grausame Realität. Die Geschichte hatte die Gedichte verändert. Miłosz:

Vor 1939 war ich ein junger, ein wenig snobistischer Warschauer Dichter. Meine Gedichte fanden Beifall in bestimmten Literatencafés; sie waren wie die französische Poesie, unter deren Einfluß ich stand, schwer verständlich, dem Surrealismus verwandt.

Die Erfahrung des Krieges machte aus Miłosz einen „anderen Menschen. Während mein Interesse für soziale Dinge sich vor dem Kriege in gelegentlichen Attacken gegen die rechtsradikalen und antisemitischen Gruppen äußerte, wurden in der Besatzungszeit die Greuel der Nazis das Hauptthema meiner Gedichte. Gleichzeitig wurden sie verständlicher, wie es ja meist geschieht, wenn der Dichter seinen Lesern etwas Wichtiges mitzuteilen hat.“

Die Befreiungsbewegung brachte Miłosz mit den Kommunisten in Berührung. Er war weder Parteimitglied noch Karrierist, verweigerte aber seine Mitarbeit am Wiederaufbau der befreiten Republik zunächst nicht. Von Ende 1945 bis zum 1. Februar 1951 war er Beamter des Außenministeriums der Volksrepublik Polen in New York, Washington und in Paris. Die Stalinisierung des Landes jedoch machte seinen moralischen Konflikt bald unerträglich. 1951 „wählte er die Freiheit“, wie es im Jargon der damaligen Zeit des kalten Krieges hieß, quittierte seiner Regierung den Dienst und blieb im Westen: erst in Paris, als freier Schriftsteller, danach, seit 1956, in den USA. Im Herbst 1960 rief ihn die Universität in Kalifornien als visiting lecturer an die Fakultät für slawische Sprachen und Literaturen, im Jahre 1961 wurde er zum Professor berufen und nahm in Berkeley ständigen Wohnsitz.
Boleslaw Bednarczyk berichtet in Kontynenty, London, daß Miłosz’ „Frontwechsel“ für die polnische Emigration eine Überraschung, wenn nicht ein Schock gewesen sei. Er machte sie ratlos, verlegen, und sie verhielt sich eher feindlich, um so mehr, als Miłosz Charakter zeigte und sich nicht mit opportunistischen Anbiederungen an die „Berufsemigranten“ oder durch propagandistische Angriffe gegen das soeben verlassene Land gefällig erweisen wollte. Die Emigration, zahlreicher als die „große“ im 19. Jahrhundert, war „kleinlich“, lehnte ihn ab oder verschwieg ihn. Einzig die Pariser Kultura bot ihm als Autor in ihrem Verlag Asyl an. Das Verhältnis der Emigration zu Milosz änderte sich erst, als dieser, wie einst Joseph Conrad, im Gastland und in der literarischen Welt als Autor und Hochschullehrer Bedeutung und Ruhm erlangte.
Anläßlich des „Rencontre Mondiale de Poesie“ in Montreal im September 1967 hielt Miłosz eine Rede auf französisch über sein spezifisches Verhältnis zum Phänomen der Verbannung. Er sagte: „Es ist fast unmöglich, heute von einem Dichter zu reden und nicht die Verbannung zu erwähnen. Die Verbannung ist für einen Dichter von heute Schicksal, unabhängig davon, ob er in seinem Heimatland lebt oder im Ausland; fast immer ist er herausgerissen aus dem heimischen Zusammenhang der Gebräuche und Vorstellungen, die er in der Kindheit kannte. Die Verbannung an sich ist weder schlecht noch gut, die romantischen und pathetischen Gesten taugen hier nichts, sie führen zur Fälschung. Die Verbannung muß man hinnehmen, und alles hängt davon ab, welchen Nutzen man daraus zieht.“
Zu diesem Zeitpunkt, 1967, hatte Milosz seine Exerzitien als Exilant hinter sich, er wußte also, was er sagte. In dem Buch Das verführte Denken, das weltweit Aufsehen erregt hat, beschreibt und analysiert er vier Lebensläufe von prominenten polnischen Autoren, um das Verhalten der Intellektuellen unter den konkreten Bedingungen des Stalinismus verständlich zu machen. Diese Typologie der Mimikry – nicht einer zweckdienlichen politischen Anpassung – zeichnet sich durch engagierte Objektivität aus. Karl Jaspers schrieb im Vorwort zu diesem Buch über Miłosz:

Man merkt bei ihm nichts von jenem aggressiven Fanatismus der Freiheit, der in Gebärde, Ton und Handeln wie ein umgekehrter Totalitarismus wirkt. Er schreibt auch nicht als oppositioneller Emigrant, der praktisch an Umsturz und Rückkehr denkt. Er spricht als der erschütterte Mensch, der mit dem Willen zur Gerechtigkeit, zur unverstellten Wahrheit durch die Analyse des im Terror Geschehenden zugleich sich selber zeigt.

Diese Nobless, die Miłosz selbst vor jenen bezeugt, die auf der Seite seiner potentiellen Gegner stehen, hat auch Heinrich Böll an diesem Buch hervorgehoben. Miłosz enthalte sich darin „aller gehässigen Töne, weil er die reziproke Propaganda des Abgefallenen vermeidet.“
Der im selben Jahr, 1953, in Paris erschienene Roman Zdobycie władzy (französisch: La Prise du pouvoir, deutsch: Die Machtergreifung) wurde mit dem Prix Littéraire Européen ausgezeichnet und festigte Miłosz’ Ruf als unbestechlicher Zeitanalytiker. Von seinen weiteren Prosawerken sind noch zwei in deutscher Übersetzung bekanntgeworden: der Roman Dolina Issy, Paris 1955, und Rodzinna Europa, Paris 1959, deutsch unter dem Titel West- und Östliches Gelände. In beiden Büchern berichtet ein von der Geschichte besessener Geschichtenerzähler seine Autobiographie und stellt sie in einen landes- und einen weltgeschichtlichen Rahmen.

Obwohl Miłosz durch seine Prosa, die Essays und die Erzählungen internationales Ansehen gewann, blieb der Hauptteil seines Werks, die fünfzehn Lyrik-Bücher, weithin unbekannt. Das liegt zuallererst an der Materie seiner Dichtung. Sein sprödes, für Kenner schönes, für Unempfindliche hermetisches, für Fremde erst recht fremdes Polnisch erscheint wie eine schichtenreiche geologische Formation, in der Jahrhunderte polnischer Kultur ihr Beständiges abgelagert haben.
Miłosz’ Poetik folgt dem Einfluß altpolnischer Dichter, sie ist (stilisierend und persiflierend) traditionsbewußt und oft nur aus der Kenntnis der literaturgeschichtlichen Anleihen und Anspielungen verständlich, daher nicht selten unübersetzbar. Die Spannung seiner Lyrik gründet in der Spannung von Engagement und distanzierter Reflexion, von Ekstase und Kritik, Ironie und Trauer. In Miłosz’ Metaphern wird Familiengeschichte zur Morphologie der Kultur. Seine Gedichte sind dem intellektuellen Zweifel und dem Prinzip Hoffnung gleichermaßen verpflichtet. Der vorzügliche Kenner polnischer Dichtung und Kritiker Jerzy Kwiatkowski aus Krakau nennt diese Poesie „ein unvergessenes Erlebnis für mehrere Generationen“ für die Generationsgenossen des Dichters, die den Menschen in Einklang mit der Natur wissen wollten, ihn aber im Konflikt mit der Zivilisation erlebten und deshalb zu „Katastrophisten“ wurden; für die Generation der Konspiratoren während der Besatzungszeit, für die er Vorhut und Bindeglied war; für die Nachkriegsgeneration der Debütanten um 1956, allen voran für Zbigniew Herbert, für die er ein Vorbild wurde; und wohl auch für die Generation um 1960, für die er als Klassiker der Moderne das Patronat ihres neuen Klassizismus übernahm. Im Rückblick und Überblick sieht man ihn bei der Gründung von – mindestens zwei poetischen Schulen eine dominierende Rolle spielen: bei der „vollzogenen Apokalypse“ im Krieg (der gefallenen Lyriker Baczyński und Gajcy, beide Jahrgang 1921) und bei der klassizistischen Renaissance in den sechziger Jahren.
Diese Poesie sei, so urteilt Kwiatkowski, die vollständige poetische Monographie der Epoche. Sie hatte vor dem Krieg den großen Kataklysmus vorausgesagt, analysiert. Sie ist durchdrungen von den Moralproblemen, die dieser Kataklysmus den Geschlechtern aufgebürdet und hinterlassen hat. Sie beobachtet scharf und weitsichtig die Veränderungen, die im Verhalten des Bürgers heute stattfinden. Sie weiß von diesem Bürger viel, sie durchschaut ihn, sie mißtraut ihm, und dennoch setzt sie stets auf die Rettung. Sie ist, leidenschaftlich, heroisch, besessen vom Polentum, von der Landschaft des Autors – Miłosz ist ein penibler Schilderer der Landschaft, des ebenen Landes −, von der Geschichte, von der Kultur, von denen sie lebt, die ihren Baustoff bilden, vom Volk.
Miłosz gehört zu jenen Dichtern, die niemals ihre Bindung an die Heimat verloren oder preisgegeben haben, die sich bewußt dazu bekennen. „Diese Bindung ist wie ein Anker, dessen Kette tief hinabreicht und uns… festhält. Ohne einen solchen Beziehungspunkt kann man schwerlich ein Gefühl für Geschichte entwickeln.“ Zugleich und nicht minder bekennt er sich zu Europa und auch zur Neuen Welt, in der er lebt und Asyl gefunden hat. Gleichwohl fühlt er sich im Westen als ein Skythe.
Miłosz’ Verhältnis zum eigenen Volk, im Lande oder im Exil, ist das der beschwörenden Unparteilichkeit des Moralisten. Kwiatkowski hat das einmal so umschrieben: „In seinem Moralischen Traktat schrieb Milosz nicht, daß wir bei Tannenberg gesiegt haben und drei Nobelpreisträger hervorgebracht haben. Er schrieb:

In den schweren Zeiten verneigt sich Polen
Vor dem Götzen der Wurst und vor Alkoholen.

In einem anderen Gedicht mischen sich Vaterlandsliebe, Erkenntnis und Mitgefühl zu einer dichterischen Diagnose:

Das große, das unbesiegte, das ironische Volk
Vermag die Wahrheit zu sehen und darüber zu schweigen.

In den fünfziger Jahren werden in den Gedichten von Miłosz der klassische polnische silbentonische Vers („An Pfarrer Ch.“), biblische und barocke Stilisierung immer seltener. Sie gewinnen, auch unter dem Einfluß der englischen und der amerikanischen Lyrik, an Offenheit, sie werden ganz vom Thema her variationenreich, komponiert. Gegenstand dieser Gedichte ist das breite Material der Umwelt und der Erinnerung, die Realien und die Mythen Litauens ebenso wie Kaliforniens, der neuen Bleibe des Autors. Die jüngsten Poeme erweitern den Radius der Bilder ins Metaphysische: auf der Suche nach der „letzten Wahrheit“ und auf der Suche nach des Dichters Selbst, bis in die entlegensten Schlupfwinkel des Unbewußten.
Kwiatkowski erinnert in seinem Kurzessay „Die Magie von Miłosz“ an einige Wendungen und Metaphern in der Poesie von Miłosz, die inzwischen in die Volkssprache eingegangen sind. Er schließt daraus auf den Einfluß, den Polens Dichter auf die Rede und das Denken des Volkes immer noch ausüben:

So ist es. Wir reden mit Worten unserer großen Romantiker und mit Norwid, reden mit Wyspiański und Boy, reden mit Broniewski und Galczyński, reden mit Gombrowicz. Und wir reden auch mit Miłosz.

Reden und denken. Was weiß die Welt anderswo davon?
Der Dichter Miłosz ist weithin unerkanntgeblieben. In Polen kennt und schätzt man ihn, doch er ist als freiwillig Verbannter von Volk und Land abgeschnitten. Es bleibt ihm nur die spärliche Fernverständigung. Und seine fremden Freunde in der Fremde? Wie sollen sie ihn lesen, wie übersetzen, wie verstehen? Die meisten dieser Gedichte sind überdies Botschaften aus einer dunklen Welt – wer will sie hören und wer wird sie entziffern? Miłosz bleibt trotzig das, was er stets war: ein polnischer, wenig gelesener, wenig verstandener Dichter. Obwohl er des Französischen und des Englischen mächtig ist und selbst übersetzt, schreibt er nach wie vor Polnisch, denkt er polnisch, sieht er polnisch, polnisch im weitesten Sinne, also auch litauisch-polnisch, auch russisch-polnisch, was heute nur noch wenige tun und können und wollen und dürfen. Er denkt europäisch. Er steht zu dem, was er 1948 in seinem Poetischen Traktat behauptet hatte:

Eine gute Strophe wiegt mehr
als die Last vieler fleißiger Seiten.

Der Dichter Miłosz hat verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen: eine erste in Wilna, in der er sich heute rückblickend, als „angry joung man“ definiert, eine zweite, nach seiner Frankreich-Erfahrung, in Warschau, die er als die des „snobistischen Dichters“ unter dem Einfluß der französischen Poesie, „dem Surrealismus verwandt“, beschreibt, die dritte, schließlich, ist bestimmt von den Kriegserlebnissen, vor allem der Besatzung in Warschau, und von der Suche nach Verständlichkeit. Die folgenden Zeilen aus dem Poetischen Traktat kanonisieren diese Wandlung:

Einfach sei deine Muttersprache.
Damit jeder, der das Wort vernimmt,
Den Apfelbaum sieht, den Fluß, die Biegung des Weges,
So wie man sie sieht im Blitzschlag des Sommers.
Aber die Sprache darf nicht nur Bild sein
Und sonst gar nichts.

Diesem Vorsatz ist Miłosz treu geblieben. Alles wird ihm zum Anlaß der Durchdringung, Verwandlung. Die Verwandlung, im Litauischen gleichbedeutend mit Verzauberung, ist – wie Miłosz selbst sagt – das zentrale Motiv seiner Dichtung. In dem Band Gustl, der Verzauberte prägt es eine ganze Gedicht-Folge. Der Titel spielt auf ein Buch an, das Miłosz in seiner Kindheit gelesen hatte. Die Fabel von Gustl, einem unartigen Knaben, der für die Dauer eines Nachmittags in eine Fliege verwandelt wird, macht der Autor zum Vorstellungsfeld für sein lyrisches Memento: die immer wieder versuchte, immer wieder mißglückte Metamorphose, die zugleich mißglückte Bewährung ist. Allerdings:

So wurden die Menschlichkeit und die Empfindsamkeit begründet.

Als Miłosz 1977 in Ann Arbor über den Dichter zwischen Ost und West sprach, war seine Hauptthese, die Poesie sei grausam, ja unmenschlich. Denn um zu überdauern, müsse sie sich von den Menschen und ihrem Schicksal distanzieren. Noch gibt Miłosz seine Hoffnung auf die vermenschlichte Dichtung, für die er lebt, nicht auf:

Ich hoffe, es werde irgendwie gelten:
Das Leid und der große Wunsch, einmal ein Leben
Zum Ruhme anderer, nicht meiner selbst, zu sagen.

Karl Dedecius, Nachwort

 

Czesław Miłosz:

Poetische Strategie und die Versuchungen des 20. Jahrhunderts

Obraz mnie samego jako medytującego poety… raczej mi odpowiada.
Nigdy polityka nie była moim powołaniem.
Nigdy akcja polityczna ani żadna akcja nie była moim powołaniem
Czesław Miłosz

Das in Polen ausgerufene Miłosz-Jahr 2011, womit der 100. Geburtstag des Nobelpreisträgers begangen wurde, blieb bei den westlichen Nachbarn nicht unbeachtet. Im Juni 2011 nahmen im Literarischen Colloquium zu Berlin ein polnischer Dichter, eine deutsche Übersetzerin, ein Schweizer Literaturkritiker, moderiert vom Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa an einer Podiumsdiskussion über Czesław Miłosz teil. Alle Teilnehmer wären zur Enkelgeneration des Dichters zu rechnen. So erstaunte es wenig, dass namentlich der Vertreter der dichtenden Zunft, nach der aktuellen Wirkung von Miłosz in der literarischen Szene Polens befragt, dessen Poetik veraltet fand.
Die mimetische Verlässlichkeit der Bilderwelt gekoppelt mit dem Anspruch philosophischer Reflexion war seine Sache offenbar nicht. Er meinte, seine Generation suche ihre Inspiration in der Sprache selbst, und hielt sich nicht weiter damit auf, dass ein solches Postulat in der Lyrikgeschichte des 20. Jahrhunderts nichts Neues darstellt. Überraschen konnte allerdings, wie grob vereinfacht auf dem Podium das poetische Profil des Jubilars gezeichnet wurde: humorlos, pathetisch, naiv religiös. Seine Vorstellung von der Doppelbestimmung des Menschen durch Natur und Geschichte, fand man, sei zu statisch und simpel, moderne Theologie habe heute elastischere Konzepte entwickelt – welche, wurde freilich nicht verraten. Als Aufhänger diente der Diskussion das Diktum des Übersetzers Karl Dedecius, dass Miłosz „nicht selten unübersetzbar“ sei, und man begnügte sich mit der Feststellung, dass er als Dichter hierzulande weniger Resonanz erlangte als andere seiner Landsleute. Lag es nur an der fremden Sprache, an dem schwierigen poetischen Idiom, dessen imaginatives Vermögen die herkömmlichen Gattungsgrenzen von Lyrik oder Prosa bewusst überschritt? Oder war da nicht noch der Umstand zu bedenken, dass Miłosz’ Poesie, die in der wandelbaren Welt und der Vergänglichkeit alles Lebendigen den „ewigen Moment“ zu fassen sucht, zur Entfaltung ihrer Wirkung einer metaphysischen Sensibilität bedarf, etwas, was man hierzulande für obsolet zu halten gewohnt ist.
Die Berliner Diskussion erwies sich in gewisser Hinsicht als Facette jener Debatte, die seit Erscheinen des „Theologischen Traktats“ (2001) in der polnischen Literaturkritik aufgekommen war. Bei einigen Kritikern löste „Traktat“ Befremden aus, weil darin die Dialektik von Glaube und Unglaube einen offenen wie unorthodoxen Ausdruck fand. Über diesen Bereich, der zum Intimsten einer Persönlichkeit gehört, meinten Kritiker, ziemt es sich nicht, in der Öffentlichkeit Bekenntnisse abzulegen, was insofern am erklärten Vorsatz des Verfassers vorbei ging, der durchaus nicht als „Besitzer der Wahrheit“ auftreten wollte. Ihm war es darum zu tun, „an den Rändern der Häresie“ wandernd, eine neue religiöse Sprache zu etablieren, welche die beiden Extreme: Abstraktion und Infantilität vermied und „weder zu gottgefällig noch zu weltlich“ wäre. Die überraschten Kritiker scheinen allerdings übersehen zu haben, dass sein Werk seit den Anfängen von einer metaphysischen Unruhe angetrieben wird. Viele seiner in ihrer Einzelheit sinnlich genau gefassten poetischen Gegenstände verwandeln sich in Objekte moralisch-philosophischer Meditation des Daseins. Beobachten lässt sich das bereits an dem frühen, „unschuldigen“ Naturbild „Wolken“ (1935). Der Eindruck flüchtiger Wolken, eine eher heitere Impression, wandelt sich in ein kosmisches Gericht über den Sprecher. Die „schrecklichen Wolken, Wächter der Welt“ kündigen eine unbestimmte Katastrophe an und diese ist parallelisiert mit einem sündhaften Vergehen des Subjekts: Begierde, Hochmut, Grausamkeit, Lüge. Hier sprich sich ein untilgbares Schuldbewusstsein aus, das in späteren Texten deutlicher die biblische Vorstellung der Erbsünde aufruft.
Ein weiteres Moment, die Rezeption betreffend, verdient es, beachtet zu werden; nämlich die misstrauische Distanz der westlichen Linken gegenüber den Emigranten aus dem Ostblock, zu denen Miłosz gehörte. Das kleine, aber durchaus meinungsbildende liberale Milieu der Polenfreunde, das sich in der Bundesrepublik zur Unterstützung der neuen Ostpolitik in den 1970er Jahren herausgebildet hatte, war um Entspannung mit Warschau bemüht. Wer da der polnischen Emigration und ihren kulturellen Zeitschriften in Paris, London oder Washington besondere Aufmerksamkeit schenkte, der störte die harmonische Atmosphäre gegenüber Volkspolen, die gewünscht war, und setzte sich womöglich dem Verdacht aus, mit Reaktionären zu sympathisieren. Zuständige Redakteure und Verleger warnten vor Beifall von der falschen Seite. Dem westlichen linken Zeitgeist konnten osteuropäische Emigranten, die unverblümt die Diktatur, der sie entkommen waren, beim Namen nannten, leicht als Störenfriede gelten. Biographische Auskünfte über die näheren Umstände, die den Gang ins Exil erzwungen haben, oder über die Zusammenarbeit der Exilanten mit dem Kongress für kulturelle Freiheit – Miłosz beispielsweise publizierte in den Zeitschriften Preuves und Der Monat – blieben seltsam einsilbig. Bis zum Zeitpunkt der Verleihung des Nobelpreises 1980 fasste man das Problem mit spitzen Fingern an.
Der irische Dichter Seamus Heaney, Nobelpreisträger von 1995, nannte Miłosz eine Jahrhundertgestalt, nicht nur weil er ein kalendarischer Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts gewesen ist. In allen Phasen seines Lebens und Schreibens, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, war er unfreiwillig mit dem „Zeitalter der Extreme“ verflochten. Heaney zog eine Analogie zwischen Miłosz und Vergil.

Selbst in der Übersetzung erfüllt Miłosz’ Poesie die seit alters erhobene Forderung nach Belehrung und Zerstreuung. Sie hält ein vollkommenes Gleichgewicht. Unablässig schwankt das Zünglein an der Waage zwischen den Grundsätzen der Realität und des Vergnügens: Prospero und Ariel stützen mit ihrer Autorität beide Seiten des Disputs. Und in der Mitte lebt Miłosz, mal tragisch, mal wieder vergnügt, denn er verleugnet den gelegentlichen Widerschein des Paradieses im Irdischen nicht und nicht das Bewusstsein, dass die Welt ein Jammertal sei.

Wir sprechen von einer Jahrhundertgestalt, weil Miłosz sich vielfältigen Herausforderungen des Jahrhunderts hat stellen müssen und dies auf sehr eigene, produktive Weise getan hat. Welches die Herausforderungen und Verführungen waren, kann im Folgenden nur angedeutet werden. Als moderner Dichter des 20. Jahrhunderts war Miłosz nach einem eigenen poetischen Idiom unterwegs, das die herkömmlichen Gattungsgrenzen der Lyrik und Prosa zu überschreiten erlaubte. Aus der Krise der Moderne, der Kluft zwischen Dichter und Publikum, die er selbst als „Dekadenz“ bezeichnete und deren Erbe er war, suchte er einen Ausweg. Dabei schlug er andere Wege ein als seine Zeitgenossen, die Avantgardisten der 1920er und 1930er Jahre; er wurde ihr ästhetischer Gegenspieler. Ihr kategorisches Gebot sprachlicher Neuerung hielt er für eine rationalistische Anmaßung, weil es die bindende Kraft der Tradition ignorierte und weil auf diesem Weg das „hermetische Gedicht“ nicht zu vermeiden war, was ihm als Todsünde der modernen Poesie galt.
Der intellektuelle Individualist leistete den Verlockungen kollektivistischer Ideologien Widerstand. Der Nationalismus als Sprache der ethnischen Selbstbewunderung oder des Selbstmitleids und als Politik der Diskriminierung von Minderheiten weckte von Anfang an seinen Widerwillen. Am Marxismus respektierte er die kühne Kritik an dem, was hinter den Kulissen des westlichen Denkens sich abspielte, aber sein utopisches Versprechen, zu wissen, was dem Menschen Not tut und wie ihm ein für alle mal Glückseligkeit zu garantieren sei, weckte sein tiefstes Misstrauen. Mit den Ideen der internationalen Solidarität, der proletarischen Revolution, des Aufbaus einer Welt ohne Ausbeutung empfahl sich der Marxismus als Antidot des Nationalismus. Allerdings trug die Nahsicht vom Standort Wilna aus auf die politische Praxis im Sowjetrussland der 1930er–1940er Jahre zur gründlichen Ernüchterung bei. Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, die Komplizenschaft der totalitären Zwillinge, die das östliche Europa untereinander aufteilten, betraf den Einwohner von Wilna direkt und persönlich. Der Pakt war für den antifaschistisch eingestellten Intellektuellen eine extreme Herausforderung, er spülte, wie Miłosz später notierte, „alle europäischen Giftstoffe an die Oberfläche“. Der zynische Gewaltakt kompromittierte in den Augen der betroffenen Völker die gesamte europäische Kulturtradition. Schon bevor Miłosz 1940 aus dem sowjetisch besetzten Litauen in das von Hitler eingerichtete „Generalgouvernement“ wechselte, war ihm bewusst, dass die geistige Anziehungskraft des Faschismus gleich Null war.
Was Heimat hieß, war für den in Litauen geborenen Polen, der sich gern als Bürger des historischen Großfürstentums Litauen bezeichnete, nicht durch ethnische Stammeszugehörigkeit bestimmt, vielmehr durch Geographie, Kultur, Religion und vornehmlich durch die Sprache. Ein Patriot der Sprache könnte Miłosz genannt werden.
Nach 1945 geriet der Dichter in das Getriebe des „Kalten Krieges“. Seit dem Gedichtband Ocalenie („Rettung“, 1945) erfreute er sich eines hohen literarischen Ansehens in Polen und gehörte, obwohl kein Kommunist, zu den Priviegierten der neuen Macht. Einige ihrer Vorhaben, wie die Bildungsreform oder das Aufbrechen der halbfeudalen Strukturen Vorkriegspolens, fanden seine Zustimmung, so konnte er seinem Land auf diplomatischem Posten in Washington und Paris loyal dienen. Freilich verließ ihn dabei nie ganz das unbehagliche Empfinden, einen „Teufelspakt“ geschlossen zu haben. Indessen schritt die Stalinisierung des Landes voran und erreichte 1949 ihren Wendepunkt. Die Intelligenz insgesamt sollte zum „neuen Glauben“, dem sowjetischen Marxismus, bekehrt werden und den Künstlern verordnete man das Korsett des sozialistischen Realismus. Für Miłosz war die Grenze ideologischer Zumutung erreicht: Er wählte das Exil. Ein Schritt, der ihm unendlich schwer gefallen ist, weil er meinte, als Dichter damit Selbstmord zu begehen. Er ließ Freunde, Gesinnungsgefährten und vor allem sein Publikum im Lande zurück. Dort hat man ihn zum Verräter gestempelt, sein Werk wurde verboten, sein Name totgeschwiegen, das grundsätzliche Anathema hauptsächlich über seine Essays „Zniewolony umysł“ (1953) und „Rodzinna Europa“ (1959) hielt die offizielle Kulturpolitik bis 1980 aufrecht. Im breiten Publikum war sein Name bald vergessen, nur für einen kleinen Kreis von Kundigen besaß die Stimme eines hervorragenden Dichters zusätzlich die moralische Autorität des unzensierten Wortes. Im intellektuellen Milieu hatte man oft den Eindruck, dass er offen aussprach, was im Lande heimlich gedacht wurde.
Der Schritt ins Exil war Miłosz’ eindeutige Option für eine offene demokratische Gesellschaft und gegen den Totalitarismus, aber er gedachte nicht, dabei seine Gesinnung zu wechseln. Auch in der neuen Umwelt erkannte er den Grundsatz „cuius regio, eius religio“ für sich nicht an. Damit saß der Ex-Diplomat eines Ostblockstaates im Westeuropa des Kalten Krieges zwischen allen Stühlen. Den unbeugsamen Legalisten aus den Reihen der ehemaligen Exilregierung in London war er nicht patriotisch und antikommunistisch genug, für die kommunistischen und linken Intellektuellen Frankreichs im Umkreis der L’Humanité und Sartres „Les Temps Modernes“ war er ein Ärgernis, weil er ihre schöne, abstrakte Idee der Revolution mit der kruden Erfahrung von Unterdrückung und Terror befleckte, und die amerikanischen Behörden wiederum verweigerten dem „verkappten Agenten“ der Sowjets das Einreisevisum. Ungeachtet all dessen beharrte Miłosz darauf, seine geistige Unabhängigkeit zu behaupten. Ihn faszinierte Amerika, das er in seiner Diplomatenzeit (1945–1950) kennen gelernt hatte und das ihm nach seinem Schritt ins Exil neun Jahre lang die Einreise verweigerte. Es war die Heimat Walt Whitmans, das weite Land einer gewaltigen, reichen Natur und urwüchsigen Demokratie. Erfüllt von tiefer, aber keineswegs blinder Sympathie zu den Vereinigten Staaten, zeigte er sich der kommunistischen wie der antikommunistischen Propaganda gegenüber widerspenstig. Wie kein zweiter war er ein Spross und ein sensibler Anwalt seines „heimatlichen Europas“, genauer Ostmitteleuropas, und auch als solcher blieb er ein nüchterner Beobachter der Widersprüche des amerikanischen Kapitalismus sowie der Torheiten der Massenkultur in der westlichen Welt.
All dies zusammengenommen wäre zu erwägen, wenn man von Miłosz, der Jahrhundertgestalt, spricht, was den Nachgeborenen zunehmend schwer fällt, weil sie sich zwangsläufig darauf verlegen, den Erlebnishorizont des Autors vom Erwartungshorizont seines Publikums zu trennen. Es mag paradox erscheinen, dass Czesław Miłosz, der durch den politischen Essay „Verführtes Denken“ international berühmt geworden ist, die Politik schon früh als eine Bedrohung seiner Kunst empfand und darum Abstand zu politischen Aktionen gehalten hat. Der „meditierende Dichter“ konnte aber nicht verhindern, dass die Politik zur bleibenden Herausforderung seiner Existenz wurde.
Der metaphysische Dichter in die Politik verstrickt – ich will versuchen diese Spannung anhand zweier Beispiele, einer Analyse von Text und Kontext auszuloten.

Höhere Argumente zugunsten der Disziplin
Aus einer Rede im Rat des Weltstaates im Jahr 2068

Wir fordern zur Disziplin auf, ohne mit Beifall zu rechnen.
Ihren Beifall freilich benötigen wir nicht.
Den loyalen Bürgern garantieren wir Schutz
Und verlangen gar nichts dafür, außer Gehorsam.
Mannigfaltige Erfahrungen bedenkend,
Drücken wir indes die Hoffnung aus, die Menschen möchten einsehen,
Wie sehr sich die Richtigkeit unserer Linie unterscheidet
Von ihren unverständigen Ansinnen und Wünschen.
Mit vollem Recht lässt sich sagen, dass wir, niemand sonst,
Sie aus der Ödnis widersprüchlicher Meinungen gerettet haben,
Wo das Wahre das volle Gewicht nicht besitzt,
Weil ihm das Unwahre gleich gewichtig gegenüber steht.
Wir führten sie heraus aus dem wüsten Land,
Wo jeder, mit seinem Unwissen allein,
Über den Sinn und den Unsinn der Welt meditierte.
Und gleich ihrer Freiheit, das heißt der Nacktheit der Frauen,
Schmeckte das Brot ihnen schal, weil die Bäckerei voll davon war.
Unter der Bezeichnung Kunst hegten sie die Schrullen ihrer Langeweile
Und die alltägliche Angst vor der verrinnenden Zeit.
Wir, niemand sonst, entdeckten das Gesetz der Verfinsterung,
Einsehend, dass der Verstand, sich selbst überlassen,
Nach den letzten Dingen greift, die ihm nicht zustehen.
Wir, niemand sonst, entdeckten das Gesetz der Verkleinerten Ziele,
Denn wahrlich, Armut und Bitternis sind die notwendige Bedingung des Glücks.
Und wenn Wahnsinnige heute die Verbote schmähen,
Fürchten sie schon, es könnten die Verbote verschwinden.
Das Verbot erlaubt ihnen, von sich größer als sie sind zu träumen,
Als Engel oder Riesen gar, nur durch Gewalt in ihrem Schwung gezügelt.
Ihre Wahrheit, sie wissen es, ist nur trotz der unseren wahr,
Oder nur wider unsere Lügen, wir nehmen es mit Humor.
Sie begegneten dort dem Nichts, anders gesagt: sich selbst.
Das Schlaraffenland lockt sie und stößt sie ab.
Darum sei klar und mit Nachdruck festgestellt:
Ist unsere Herrschaft auch hart, sie ist nicht ohne ihre Billigung.
Den neuesten Angaben zufolge flüstert die Mehrheit im Schlaf:
Gesegnet sei die Zensur und der Mangel auch.
Berkeley, 1968 (übertragen von Heinrich Olschowsky)

Zeitangabe und der Name des Staates im Titel sind Topoi der Anti-Utopie, wie sie Jevgenij Zamjatin (der Einheitsstaat in My) oder George Orwell (1984) in die Literatur des 20. Jahrhunderts eingeführt haben. Fragen wir also nach der lyrischen Situation des Gedichts, das im Band Miasto bez imienia (Stadt ohne Namen, 1969) erschien. Der Text ist mit den rhetorischen Mitteln einer öffentlichen Rede aufgebaut, es ist ein Rollengedicht, was der Situation wie der Neigung des Verfassers zur Vielstimmigkeit entsprach. Die futuristische Jahreszahl 2068 will zweifellos an Orwell erinnern, sie lässt sich darüber hinaus aber auch zeitgeschichtlich konkreter interpretieren. Zu den Anstößen aus der Wirklichkeit für dieses Gedicht wie auch für „Moja wierna mowo“ (Meine treue Sprache) aus demselben Band darf man gewiss die „räudigen Nachrichten“ aus Polen rechnen, die den Dichter im fernen Kalifornien erreichten. In Polen hatte man seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 im Nahen Osten unter der Losung des Antizionismus eine antisemitische Kampagne vom Zaun gebrochen, die den Machtkampf rivalisierender Fraktionen an der Spitze der Staatspartei kaschieren sollte. Alte antisemitische Reflexe wurden angestachelt und gezielt instrumentalisiert, was in der Gesellschaft einen gewissen Anklang fand. Desgleichen mobilisierte man 1968 bedenkenlos alle verächtlichen Vorurteile gegenüber den tschechischen Nachbarn, um so die Reformimpulse des „Prager Frühlings“ einzudämmen und das Eingreifen auch der polnischen Armee gegen das tschechoslowakische Experiment psychologisch abzufedern. Berichte darüber, die mit Kritik an dem Verhalten der eigenen Landsleute nicht hinterm Berg hielten, erreichten den Dichter in Berkeley über die Redaktion der Pariser Kultura (Zygmunt Hertz) und über Freunde im Lande (Jerzy Turowicz, Stefan Kisielewski).
Die Briefschreiber waren sich einig, die antisemitische Kampagne kam von oben, aber die Menge schaute mit Vergnügen zu, wie man die „Herren Israeliten“, einst eifrige Kommunisten, nun hinauswarf. Man hatte dem Volk für seine eigene Unbill einen Sündenbock gewiesen, den es öffentlich hassen durfte und dabei die eigenen niedrigsten Instinkte ausleben konnte. Zygmunt Hertz resümierte 1969 die Lage wie folgt:

Die jüdische und die tschechische Angelegenheit erfüllen einen mit Entsetzen. Die erste erreichte das Ausmaß einer nationalen Schurkerei, die zweite enthüllt die ganze Hoffnungslosigkeit der Länder des Sowjetimperiums. […] Dieser Teil Europas hat aufgehört zu Europa zu gehören.

In der Korrespondenz mit Thomas Merton schrieb Miłosz, dass die besten Leute das Land verlassen, um in diesem Sumpf nicht stecken zu bleiben:

Die Partei ist jetzt mit der Jagd auf Juden beschäftigt, die der Sympathien für Israel verdächtigt werden.

Dieser zeitgeschichtliche Hintergrund ist es, den der Titel zugleich ver- und enthüllt.
Wer spricht hier und zu wem wird gesprochen? Im gesamten Text überlässt der Verfasser das Wort dem Vertreter des planetaren Einheitsstaates, als Zuhörer dürfen die Mitglieder des Rates – vorstellbar als eine Art Zentralkomitee – angenommen werden, die eigentlichen Adressaten indessen sind die nicht anwesenden Bürger dieses Staates. Die Formel „Aus einer Rede…“ hält das Verhältnis zwischen Redner und Verfasser in der Schwebe, wodurch Distanz und Ironie Raum gewinnen. Am offensichtlichsten wird das in dem parodistisch eingesetzten fremden Wort der nowomowa / newspeak, deren Grundeigenschaft es ist, die Grenze zwischen Postulat und Realität in der Beschreibung zu verwischen. Einige Merkmale des newspeak im Gedicht:

– Dominanz der Wertungen (die Richtigkeit unserer Linie; unverständige Ansinnen und Wünsche; Wahnsinnige, die die Verbote schmähen…);
– Bezeichnende Phraseologismen (unsere Parteilinie; loyale Bürger, die adversative Konstruktion: wir, niemand sonst);
– Der nicht näher bestimmte Plural für das Subjekt der Macht, das vereinnahmende „wir“ der parteilichen Sprachregelung (Wir fordern zur Disziplin auf…).

Im Verlauf des Textes baut sich eine Gegenstimme auf, ein implizites Wort, das aus mehr oder weniger verborgenen Selbstzitaten des Dichters besteht. Diese Gegenstimme unterlegt der Rede Einsichten eines beobachtenden Zeitgenossen, bzw. des Verfassers selbst, welche die Argumente der Macht zum einen plausibler machen, zum anderen desavouieren.
Das in unregelmäßig rhythmisierten Langzeilen abgefasste Gedicht gliedert sich in vier Teile, mit einem jeweils eigenen semantischen Kern. Der erste Teil zeigt, dass der Rat seine Macht nicht der Gunst der Wähler verdankt. Die Zustimmung der Bürger erscheint ihm entbehrlich, er verlangt Gehorsam. Gehorsam als Dank der Bürger für das „Geschenk“ materieller Fürsorge und Sicherheit. Zwar rechnen die Machthaber damit, dass die Menschen unvernünftige Wünsche hegen, die mit unserer Linie unvereinbar sind, aber deren Richtigkeit steht nun mal außer Frage, und die Bürger werden sich damit abfinden müssen.
Im zweiten Teil schmiedet der Redner aus dem Verhältnis zur anderen, der alternativen Welt des Pluralismus (der Demokratie) seine höheren Argumente zugunsten der eingeforderten Disziplin. (Was die „niederen“ Argumente wären, wird als selbstverständlich oder peinlich übergangen, zum Beispiel: nackter Terror.) Es sei das Verdienst der Machthaber, ihre Untertanen aus einem pluralistischen System gerettet zu haben, in dem der einzelne orientierungslos widersprüchlichen Meinungen ausgeliefert ist. Wo eine hierarchische Ordnung fehle, dort heben sich Wahrheit und Unwahrheit gegenseitig auf und der mit seiner Unwissenheit alleingelassene Mensch schickt sich vergeblich an, Sinn oder Unsinn der Welt zu ergründen. Pluralismus bedeute mithin Verwirrung der Werte oder ein Wertevakuum.
In jener anderen, überwundenen Welt werde die Freiheit mit sexueller Ausschweifung gleich gesetzt, wodurch Freiheit für die Menschen ihren Wert verliert, wie auch der materielle Überfluss, dessen sie überdrüssig sind. Und was habe die Kunst der „freien Welt“ zu bieten? Sozialer und metaphysischer Zwecke entkleidet, von den Furien der Mode gehetzt, sei sie zur Chiffre der Langeweile geworden und der Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Polemische Verzerrung liegt in der Intention des Sprechers, aber im Kern greifen seine Aussagen manch skeptische Einsicht des Dichters auf.
Wenn also der Mensch, sich selbst und seiner Freiheit überlassen, der Hybris anheimfalle, die ihn nicht glücklich macht, so haben die Machthaber Abhilfe dagegen geschaffen. Sie haben das Gegenteil zur Aufklärung erfunden, das Gesetz der Verfinsterung und des dadurch eingeschränkten Horizonts. Dieses erlaubt einfache Antworten auf Fragen, die der Mensch sich stellt, die ihm aber eigentlich nicht zustehen. Hier oszilliert die Bedeutung zwischen Satire philosophischer Reflexion. Zum einen maßt sich der Sprecher an, festzulegen was dem Menschen zu denken gemäß ist und was nicht. Zum anderen steckt darin die Einsicht, dass sich über die Sinnfrage des Lebens nicht abstimmen lässt; sie entzieht sich der demokratischen Prozedur, was die Argumentation der Diktatur auf perverse Art stützt.
Und eine zweite Erfindung nennen die Machthaber ihr Verdienst; die einstigen großen Ziele der revolutionären Utopie wurden dem deprimierenden Niveau des allgemeinen Mangels angepasst. Die verkleinerten Ziele lassen sich leichter erfüllen und sind geeignet, den Untertanen Erfolgsbewusstsein zu vermitteln, so dass es ihnen wenig ausmacht, sich mit den gegebenen Verhältnissen abzufinden. Selbst jene, die dagegen opponieren und die Verbote schmähen, fürchten insgeheim – so der Redner – ihre Abschaffung. Sie haben sich daran als an etwas Bequemes gewöhnt. Die Verbote sorgen dafür, dass die Bürger mit dem tatsächlichen Maß ihres Talents, ihres Charakters, ihrer Verantwortung nicht konfrontiert werden. Sie schauen immer nur in einen Zerrspiegel, also kennen sie sich selbst im Grunde nicht. Umso eifriger entwerfen sie schillernde Wunschbilder der eigenen Tugenden und Fähigkeiten, denen nur äußere Fesseln die Entfaltung versagen. So können Zwergnaturen sich als verhinderte Riesen denken.
Im Machtbereich der Verfinsterung und der verkleinerten Ziele ist allein die Wahrheit der Herrschenden die herrschende Wahrheit. Sie dringt in alle Lebensbereiche, ist allgegenwärtig und nichts, was der Einzelne denkt, kann von der totalen Präsenz der herrschenden Wahrheit, respektive Lüge einfach absehen. Ob er ihr opportunistisch folgt, oder sich kritisch auflehnt, sein Denken bleibt unentrinnbar darauf bezogen – und verfehlt so seine geistige Selbständigkeit. Was das Gedicht formuliert, bestätigt die Diagnose eines Soziologen:

Wir waren in dem Sinne entmündigt, als wir uns öfter als nötig zu dem System in Beziehung setzten. Es war unser hauptsächliches Koordinatensystem. Dabei fehlte die Einsicht, wie sehr provisorisch und provinziell das System war.

Die andere, alternative Welt imaginieren sich die Bürger des Weltstaates in Umkehrung ihrer Erfahrung extensiver Mühe und schicksalhaften Mangels – als das Schlaraffenland. Das bleibt ihnen nicht nur unerreichbar, sie wären auch unfähig, darin zu leben. Einmal dorthin versetzt, in die Lebenswelt einer westlichen Demokratie, höhnt die Stimme des Redners, würden sie in der Freiheit, ohne die hilfreichen Verbote, nur ihrer selbst, das heißt, ihrer eigenen Nichtigkeit gewahr werden.
Der Hohn auf das Schlaraffenland ist nicht nur boshafte Verzerrung, wie sie einer politischen Satire zukommt, er besitzt einen untergründigen Ernst, weil der Autor ihm offenkundig seine eigene Wahrnehmung der westlichen Zivilisation unterlegt hat. Das Bild, das die westliche Gesellschaft (der USA oder Frankreichs) in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten dem zweifelnden osteuropäischen Intellektuellen bot, brachte diesen eher zur Verzweiflung. Die Naivität der politischen Propaganda, das „satte Beharren (der Masse des Westens) auf den rein materiellen Vorteilen der modernen Zivilisation“, lieferte in seinen Augen Argumente gegen sie. An einen Freund im Lande schrieb er 1948 aus Washington:

Die geistige Armut, in der Millionen Einwohner dieses Landes leben, erfüllt einen mit Entsetzen – dabei putzen sie die Zähne und fahren eigene Autos.

Und weil die Kluft zwischen einem hohen Lebensstandard und den geistigen Werten in den Vereinigten Staaten für einen natürlichen Zustand gehalten werde, deshalb sei er „höchst antikapitalistisch gestimmt“. Später würde er aus der Perspektive eines in Europa beheimateten Geistes die Bewohner der Neuen Welt von einer gewissen Verkrüppelung betroffen sehen:

vom Schwund des historischen Sinns, das heißt… des tragischen Sinns, da dieser allein aus der Erfahrung der Geschichte geboren wird.

Auch der Eindruck von der Kulturszene machte das Bild nicht besser. Jemandem, der das Grauen des Krieges in Osteuropa und zwei Totalitarismen überlebt hatte, musste sie als irritierender Luxus erscheinen; eine irrlichternde Kulisse der Zerstreuung, in der sich Produkte der Unterhaltungsindustrie und einer geschichtslosen Avantgarde gleichberechtigt präsentierten. Mit Missvergnügen verfolgte Miłosz die Kapriolen westlicher Kunst, der man vorhalten konnte, dass sie den Massen unzugänglich und keiner erkennbaren Werteordnung verpflichtet war, aber mit jeder erdenklichen Provokation die Aufmerksamkeit einer reizüberfluteten Öffentlichkeit zu fesseln suchte.
Auch die Macht, die im Gedicht spricht, charakterisiert die Kunst verächtlich und weiß sich dazu berufen, solche Zumutung von den Menschen fernzuhalten – mit dem Mittel der Zensur. Die Diktatur kennt ihre Verlockungen; sie erzeugt Angst vor der Freiheit eines offenen Horizonts und bietet sich im nächsten Augenblick an, das Glück der verkleinerten Ziele vor jeglicher Verunsicherung zu schützen. Glück ohne Freiheit. Am Schluss haben die Machthaber „Erziehungserfolge“ vorzuweisen; ihre Herrschaft sei keine nackte Tyrannei. Obwohl sie die Zustimmung der Untertanen für entbehrlich halten, bauen sie doch auf die Haltung derer, die, Armut und Bitternis vor Augen, das kleine Glück zu schätzen wissen. Dies sind Belege für die Billigung der Herrschaft durch die Bürger. Die Diktatur sucht sich durch einen demokratischen Usus zu legitimieren, nur dass sie nicht die Meinungen der Bürger erfragt, sondern sich Gewissheit durch Kontrolle ihrer Träume verschafft. Unvereinbares wird auf diese Weise sarkastisch miteinander verknüpft: Meinungsforschung als Indiz demokratischer politischer Kultur und Traumkontrolle im Orwellschen Staat.
Die Epochenwende 1989 entfaltete das prophetische Potential des Gedichtes anders als vom Titel entworfen. Die Perspektive der Anti-Utopie heftete den Blick des Empfängers einseitig auf das Kalkül der Machthaber und zeigte die einzelnen Menschen vor allem als deren Objekte, als Untertanen. Den verborgenen inhaltlichen Dialog von Stimme und Gegenstimme schließt der Text aber nicht ab, er lässt ihn ins Offene münden. Das Gedicht weiß mehr als der Redner des Weltstaates in seinem „newspeak“ sagen könnte. Indem der meditierende Dichter Miłosz der Stimme der Macht seine eigenen Einsichten unterlegt, macht er sie nicht nur um einiges plausibler, er vermeidet die satirische Verkürzung des politischen Problems von Herrschern und Beherrschten und verleiht ihm einen existentiellen, einen philosophischen Ernst. Die Frage, auf welche Weise eine Diktatur mit ihrer „vernünftigen“ Gewalt den Wünschen der Unterdrückten entgegenkommt und welchen Anteil die Unterdrückten an der Unterdrückung haben, überschreitet nämlich den strikt politischen Horizont. Es betrifft den Bereich der im Leben einer Gemeinschaft verhüllten Ängste, Begierden und Verleugnungen, all das, was dem Machtkalkül als irrational erscheint und dessen es sich gleichwohl bedient.
Miłosz ließ sich von der Ideenwelt der russischen Literatur inspirieren, insbesondere von der philosophisch-theologischen Radikalität im Aufgreifen der Antinomie von Glaube und Wissen, Heiligkeit und Sünde, Freiheit und Glück bei Dostoevskij. Den Autor der Brüder Karamasov behandelte er mit seinen Studenten in Berkeley und wiederholt in seinen Essays. Den Großinquisitor aus der „Legende vom Großinquisitor“ sieht er als eine Figur, die sich von der Liebe zu den Menschen verführen lässt, es treibt ihn der Wunsch, die Menschheit glücklich zu machen – und sei es mit Zwang und Betrug. Denn er ist überzeugt, dass der Stifter des Christentums sich geirrt hat, als er an die Freiheit des Menschen und seine Berufung zu Höherem appellierte. Derweil die Erde einem strengen materialistischen Determinismus unterliegt, mithin der Macht des „Fürsten dieser Welt“ ausgeliefert ist. Was bleibt da einem übrig, der Mitleid mit der Not der Menschen hat und ihnen so viel Glück als möglich verschaffen möchte? Er lässt sich auf die Bedingungen des „Fürsten dieser Welt“ ein und beglückt die Menschen, indem er sie betrügt. Das Bewusstsein der Lüge nimmt er, tragisch oder zynisch, auf sich.
Ähnlich wie Dostoevskij verfolgt Miłosz das Prinzip, das für ihn Essentielle, was im Gedicht die verborgene Botschaft des vielstimmigen Textes ausmacht, durch Gegenargumente gleichsam „durchlöchern“ zu lassen. Was die Vertreter der totalitären Herrschaft am Umgang mit der Freiheit verwerflich finden, das hat der einzelne im Alltag schon oft als lästig erfahren. Folglich darf er sich bei der Aufzählung aller möglichen Defizite der Demokratie bestätigt fühlen und die Entmündigung als einen bequemen Zustand wahrnehmen, in dem man von der Last und der Unwägbarkeit einer freien Entscheidung entbunden ist. An diesem Gedicht wie auch an anderen Stellen lässt sich beobachten, dass Miłosz den intellektuellen Preis seiner Wahrheit hochtreibt, indem er die Seite des Gegners stärkt.
Im Zusammenhang mit Miłosz’ Reaktion auf die „räudigen Nachrichten“ von 1968 aus Polen erweist sich „Meine treue Sprache“ aus demselben Gedichtband als ein besonders aufschlussreiches Objekt der Analyse. Es ist nicht eine weitere Reflexion seiner ars poetica, vielmehr eine Auseinandersetzung mit den Kategorien Vaterland und Fremde, in der die moralische Legitimität des Dichters im Exil auf dem Spiel steht.
Den Vorschlag des befreundeten Redakteurs der Zeitschrift Kultura (Paris), Miłosz möge die Autorität seines Namens in die Wagschale werfen und publizistisch, mit einem Artikel auf die Ereignisse in der Heimat reagieren lehnte er entschieden ab. Er ließ keinen Zweifel daran, wie sehr ihn die Nachrichten beschämten, sah aber seine Aufgabe nicht darin, als Kommentator politischer Ereignisse aufzutreten. In der Rolle eines „Politologen“, die ihm seit dem Verführten Denken anhaftete, fühlte er sich unwohl. Er wünschte seine Betroffenheit als Dichter auszudrücken, in einer Weise, die Distanz und Differenzierung zuließ und hinter dem „Wahn“ der politischen Vorgänge menschliche Kondition auszuleuchten erlaubte. Dafür steht das Gedicht „Meine treue Sprache“.
Vaterland ist für den Dichter in der Fremde – die Sprache. Und so sehr Miłosz die Rolle eines „nationalen Barden“ stets zurückgewiesen hat, wollte er sich doch nie einem anderen Publikum anpassen und den Eindruck erwecken er sei ein westlicher Schriftsteller. „Im Westen leben und den Westen von der Seite betrachten“ – das war die seiner Situation angemessene Devise. Trotz der nicht geringen Versuchung, seinen Wirkungskreis dadurch zu erweitern, dass man in eine andere Sprache ausweicht, hielt er an der „privaten Pflicht“ fest und schrieb seine Gedichte auf Polnisch.

Meine treue Sprache
ich stand dir zu Diensten.
[…]
Das dauerte viele Jahre.
Du warst mir Vaterland, weil es mir fehlte.

Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Dichter und seiner Sprache beruhte auf Gegenseitigkeit. Er hegte die Sprache mit den Farben seiner Erinnerung, sie flößte ihm das Vertrauen ein, durch sie mit allen Sprechern zu einer Gemeinschaft guter Menschen verbunden zu sein. Das dauerte – bis jetzt. Jetzt aber war etwas geschehen, was ihn zweifeln ließ, ob er sein Leben nicht vertan habe. War seine bisherige Annahme naiv oder hochmütig? Musste er womöglich die Sprache ablegen, die in keiner Weise für die moralische Unschuld und Lauterkeit der Sprecher einstehen konnte? Denn sie erwies sich als

Sprache der Entwürdigten
Sprache der Unvernünftigen und derer, die hassen,
mehr noch vielleicht sich selbst als andere Völker,
Sprache der Konfidenten
und der Verwirrten,
an ihrer eigenen Unschuld Kranken.

Was aber wäre er ohne sie:

Nur ein Schulmeister irgendwo in einem fernen Lande,
[…]
Ein Philosoph wie jeder andere auch.

Aus der bestürzenden Einsicht in die moralische Verfassung seiner Landsleute leitet das lyrische Subjekt, der Dichter keine Anklage ab, sie veranlasst ihn zu einem Moment Einkehr. Er selbst ist nicht der in seiner Einmaligkeit Überlegene, der selbstsüchtige Dünkel, womit der Große Schmeichler in einer mittelalterlichen Moralität lockt, ist Sünde. Dies sei seine, des Dichters moralische Lektion. Also zieht er nicht den Schluss, sich von seiner Sprache abzuwenden, vielmehr erkennt er die Verpflichtung, sie zu retten. Und das heißt, seinem poetischen Handwerk und Ethos gemäß, sie zu reinigen und zu läutern, indem er ihr helle und reine Farben schenkt. Durch ein wenig Ordnung und Schönheit wird sie ertüchtigt, sich dem Unglück, das auch seines ist, zu widersetzen.
Treue trägt bei Miłosz den Namen nationaler Selbstkritik und persönlicher Gewissenserforschung. Das ironische Rollengedicht und die lyrische Apostrophe verarbeiten nicht denselben Konflikt, in beiden zeigt sich aber dieselbe Haltung: der metaphysische Dichter und leidenschaftliche Jäger nach dem Wirklichen ist wider den nivellierenden Sog des abstrakt Allgemeinen in die sinnliche Einzelheit vernarrt. Es lässt sich kein geschichtlicher Zustand erklären, trennt man ihn von dem Gewissen, dem Handeln, der Verantwortung des Individuums im Alltag. Keine erhellende politische Analyse, die auf die Frage des Dichters, wer er selbst sei, und damit auf das meditierende Erwägen der menschlichen Kondition verzichten kann. Ein Leben in Widersprüchen.

Heinrich Olschowsky, aus Andreas Lawaty und Marek Zybura (Hrsg.): Czesław Miłosz im Jahrhundert der Extreme, fibre Verlag, 2013

Miłosz, Abschied

Er war nicht der Lieblingsdichter der Polen.
Sein Denken war und ist in Polen kaum bekannt, wohl weil es ein strenges, komplexes und – es hilft nichts – erhabenes Denken war. Er hatte andere politische Auffassungen als die meisten von uns. Das „nationale Denken“ war ihm zuwider, ihm missfiel die nationaldemokratische Variante des Katholizismus. Der „nationale Geist“ war ihm fremd und er schrieb offen darüber. Er war überzeugt, dass Polen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur als Protektorat der UdSSR existieren könne, und er hielt den Befehl zur Ausrufung des Warschauer Aufstands für ein Verbrechen, was viele gegen ihn aufbrauchte, auch Zbigniew Herbert, der ihm das sein Lebtag nicht vergaß. Manche Szenen aus Das Gesicht der Zeit, seinem Roman über die Warschauer Tragödie, waren schlicht empörend. Als er 1981 zum ersten Mal aus dem Exil nach Polen kam, wehrte er sich heftig, als ihn patriotisch gesinnte Studenten im Warschauer Klub Hybrydy zum „Dichter der Solidarność“ erklären wollten – obwohl er schlechter vom Kommunismus nicht hätte denken können. Als man ihn um eine Inschrift für das Danziger Denkmal für die gefallenen Werftarbeiter bat, schickte er keine erhabene Phrase aus einem patriotischen Lied, sondern die Übersetzung eines Bibelverses über Gott, der seinem Volk den Frieden gibt.
Er kämpfte für eine Erneuerung der polnischen Kultur – wie Tadeusz Borowski, dem er ein eigenes Buch widmete, und wie Witold Gombrowicz, den er schätzte und als Verbündeten betrachtete. Er sah sich als Erbe von Adam Mickiewicz und stritt heftig mit ihm. Er schrieb eine der strengsten Kritiken von Mickiewiczs Meisterwerk Die Ahnenfeier. Der romantische Messianismus war ihm zuwider. Die antisemitischen Ausschreitungen in Wilna 1931 hinterließen in seiner Seele eine bleibende Wunde. Er fürchtete den „Einvölkerstaat Polen“ und den in die romantische Tradition verliebten „Polen-Katholiken“, der ethnische Bindungen verabsolutiert und den alles Fremde ängstigt. In seinen letzten Jahren plädierte er für ein Recht auf Abtreibung, das er – zurecht – aus einer gnostischen Weltanschauung ableitete, die den meisten Polen fremd war, weil sie lieber nach Jasna Góra pilgerten als in mühevollem und beharrlichem Studium die Mysterien des Alten Testaments und die komplizierten Gedankengänge der Albigenser zu ergründen.
Man machte einen politischen Dichter aus ihm, was er nur widerwillig hinnahm. Viele Polen sehen ihn bis heute als Patron und Lehrmeister der antitotalitären Opposition, eine Rolle, der er nie für sich beanspruchte. Gombrowicz warf ihm in seinem Tagebuch – unberechtigterweise – vor, er sei zum Kommunismus-Erklärer geworden. Miłosz selbst wehrte sich gegen die Rolle des „Kronzeugen der Epoche der Totalitarismen“, die man ihm vielfach zuschrieb. Die Hölle des 20. Jahrhunderts war für ihn nur eine Abwandlung der menschlichen Hölle, die – wie er sagte – schon die Autoren der Bibel kannten.
Rückblickend kritisierte er Jerzy Giedroyć und die Pariser Exilzeitschrift Kultura, die ihn im Exil unterstützt hatte, was er auch anerkannte. Giedroyć habe die Literatur – und damit auch sein Schaffen hauptsächlich zu politischen Zwecken benutzt. Sein Verführtes Denken wurde von der polnischen Opposition verkürzt als Führer durch die geistigen Kasematten des Stalinismus gelesen; dabei handelte dieses ungewöhnliche, in den fünfziger Jahren entstandene Buch doch von der fatalen Kraft der Ideen von Hegel und Marx, mit denen – das war seine feste Überzeugung – das moderne Denken nicht zurande kam. Was viele für ein politisches Pamphlet gegen vom Kommunismus infizierte Schriftsteller hielten, war eigentlich ein philosophischer Exkurs über die Aporien des menschlichen Seins in der Geschichte, doch wir taten seine Diagnose mit dem ironischen Begriff „hegelscher Biss“ ab, als handele es sich um eine peinliche Krankheit, so etwas wie eine HIV-Infektion, ein Leiden, das uns – die Reinen – nicht beträfe.
Mich persönlich interessierte weniger sein Streit mit dem Polentum und sein verbissener Kampf gegen den Totalitarismus als vielmehr sein Ringen mit Gott, seine beunruhigenden metaphysischen Erwägungen, sein paradoxes Denken über das Wesen der Welt und das Wesen der Geschichte, in dem sich die Schärfe einer autonomen philosophischen Intuition mit profunder Belesenheit verband. Bei keinem anderen polnischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts findet sich eine vergleichbare Bandbreite von Ideen und Interessen. Sein Werk ist gigantisch und es wird gewiss noch lange dauern, bis wir es ganz erfassen.
Er war ebenso sehr Denker wie Dichter, auch wenn er sich meist der Sprache der Lyrik bediente. Sein Denken ist schwer fassbar, es ist widersprüchlich und verwickelt, doch es begeistert immer wieder durch seine Reichweite und seinen Stil.
Er glaubte, er sei Zeuge des Untergangs der Kultur, in der er aufgewachsen war. Selbst ein widerspruchsvoller Geist, träumte er vom innerlich stimmigen Menschen, in dessen Seele die Wahrheiten der Wissenschaft mit den Wahrheiten des Glaubens harmonierten, was, wie er selbst ahnte, eine utopische Hoffnung war. Für ihn war der – schon zu Kopernikus’ Zeiten offenbar gewordene – Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion fundamental; er schrieb viel über den voran schreitenden Zerfall der religiösen Imagination und die Krise des unter den Stößen der Naturwissenschaften wankenden Christentums. Er schrieb gegen diesen Zerfall an, wie vor ihm schon Mickiewicz, William Blake, Oskar Miłosz und Dostojewski, den er – neben Lew Schestow – als seinen großen Lehrer ansah. Allen alten Wunden zum Trotz fühlte er sich, ähnlich wie Stanislaw Brzozowski, der russischen Literatur sehr verbunden und stellte der an Theologie und Philosophie nicht interessierten Mentalität des „polnischen Krautjunkers“ die philosophische Neugier der russischen „Gottsucher“ entgegen.
Er fürchtete die nationaldemokratische Religiosität, aber im Innern seiner Seele sehnte er sich – wie Mickiewicz – nach einem naiven Glauben, der dem betrübten Herzen hätte Trost spenden können. Am Anfang seines Schaffens stand die düstere Metaphysik der Drei Winter, am Ende der Theologische Traktat, in dem er sich selbst porträtierte, wie er vor der Höchsten Jungfrau von Lourdes kniet. Seine religiöse Jugend warf einen gnostischen Schatten, den er sein Leben lang zu vertreiben suchte – dass es ihm nicht gelang, belegen die Gedichte aus dem besten Band eines Spätwerks, dem er den rätselhaften Titel Das gab.
Ich weiß nicht, ob er mit seinen geschichtsphilosophischen Prognosen recht hatte, ob wir also, wie er schrieb, wirklich in einer im Untergang begriffenen Kultur leben oder ob wir nicht vielleicht doch an der Schwelle zu einer neuen Zeit stehen, in der seine Sorgen nicht mehr unsere sein werden. Am stärksten war in seinem Schreiben aber ohnehin etwas, das mit Geschichte nichts zu tun hatte oder über sie hinausging: die profunde Diagnose der existenziellen Situation des Menschen, die Reflexion über die Zeit und unseren Platz im Kosmos.
Ihn zerriss der Gegensatz zwischen der Erkenntnis des Schönen und der Erkenntnis der Grausamkeit der Welt, vor allem der Erkenntnis schuldlosen Leidens. Für ihn war die Welt eine von einem Blumenteppich verdeckte Hölle. Höllisch waren nicht nur Biologie und Geschichte, die er bis auf den Grund erforschte, auch im Privatleben blieben ihm Höllenqualen nicht erspart. Im hohen Alter hatte er das Gefühl, er lebe allzu lange. Das Schicksal traf ihn hart, indem es ihm mit unheimlicher Ironie und Beharrlichkeit all jene nahm, die er liebte und die jünger waren als er. Auch das thematisierte er in seinen Gedichten.
Vielleicht war es vor allem diese zerreißende Erfahrung des Gegensatzes von Schönem und Grausamkeit, die uns trennte. Er entstammte der Epoche unbändiger Verzweiflung, der auch Tadeusz Różewicz, Wisława Szymborska und Zbigniew Herbert angehörten, große Dichter, die beim Anblick der Krematorien ein Schauer des Entsetzens überlief und die nach der moralischen Weltkatastrophe in den Ruinen „einen Lehrer und Meister suchten“. In Paris empörte er sich über die Franzosen, die im Theater Tränen lachten über die Grausamkeit von Becketts Warten auf Godot – er wollte und konnte die Verzweiflung in sich nicht bändigen. Für uns ist das – die Verzweiflung bändigen – etwas so Normales wie Chips oder Kaugummi. Der Holocaust, die Massenmorde in Ruanda und Kambodscha, die ethnischen Säuberungen auf dem Balkan oder das Massaker an tausenden irakischen Soldaten vor Bagdad sind für uns „ganz normale Dinge“, die in der Welt nun einmal vorkommen, auch wenn wir von Zeit zu Zeit Alarm – und uns und andere an die Brust – schlagen und demonstrativ die hehren Rituale des „zivilisatorischen Gewissens“ vollziehen, die uns glauben lassen, die Kontinuität der westlichen Kultur bleibe gewahrt.
Für ihn waren die Gräuel des Zweiten Weltkriegs eine axiologische Herausforderung. Für uns waren und sind es nackte Tatsachen, denn „so ist die Welt nun einmal“. Für ihn war der Gegensatz von Schönem und Grausamem der Quell nicht enden wollender Frustration. Wir haben gelernt, mit dieser Frustration zu leben. Wohlwissend, dass die Welt nicht zu ändern ist, flüchten wir vor ihrer Grausamkeit in Virtualität und Drogen. Er entstammte einer Epoche voller Hoffnungen und Utopien. Wir leben in einer Epoche ohne Utopien, in der Hoffnung allenfalls als Streben nach alternativen Bewusstseinszuständen daherkommt. Wir wissen, dass man höchstens sein Inneres ändern kann, damit man die nackte Welt in ihrer Grausamkeit nicht mehr wahrnimmt. Wir schreiben nicht mehr Gedichte wie „Campo di Fiori“, wenn wir von ethnisch motivierten Massakern in Afrika hören. Uns berührt das nicht mehr so wie ihn. Er entstammte der untergehenden Epoche der unmittelbaren, lebendigen Erfahrung, er sah die Welt unverstellt mit eigenen Augen. Wir leben in einer Zeit medialer Bilder, die alles in ein packendes Schauspiel verwandeln, das man sich mit der Familie beim Abendbrot ansieht.
Er trug eine nicht verheilende Wunde in sich, die in seinen Gedichten eine schöne Spur hinterließ. Er war unfähig zum Grotesken, zu absurdem Spott und verrückten Wortspielereien, die uns so natürlich vorkommen wie die Luft, die wir atmen. Er hatte den ernsten Ton des 19. Jahrhunderts, auch wenn er über die Erfahrungen der Moderne schrieb, die weit über das hinaus gingen, was das 19. Jahrhundert über den Menschen wusste.
Er kannte die Finsternis der Welt und kämpfte dagegen an – manchmal verurteilte er in alter Manier den Pessimismus der „modernen Kunst“, und wir registrierten es verständnisvoll und mit Ironie wie ein verspätetes Echo einer früheren Zeit.
Er hatte einen profunden Sinn für die Widersprüchlichkeit der Welt, deshalb taugte er nicht zum Lehrer. Er schrieb das mitfühlende Gedicht „Der du einem einfachen Menschen Leid zufügtest“ (Który skrzywdziłeś czlowieka prostego), aber in einem Text über Anna Kamieńska schrieb er auch, ein guter Mensch könne die Winkelzüge der Kunst nicht erlernen und deshalb nie ein großer Künstler werden. Als wir uns einmal über sein Poem „Die Welt. Eine naive Dichtung“ unterhielten, sagte er:

Woher denn Glaube, Hoffnung und Liebe?! Das ist doch alles Ironie. Ich schrieb das, während das Ghetto brannte. Und jetzt lernen es die Kinder in der Schule auswendig.

Es gibt in seinem Schaffen, ja vielleicht in der ganzen polnischen Literatur des letzten halben Jahrhunderts kein gelungeneres Bild der Hoffnung als die Beschreibung der Apokatastase im Band Nieobjęta ziemia (Unermessliche Welt). Nicht von ungefähr faszinierte ihn die Idee der Neuerschaffung der Welt, die auch der Orthodoxie und den katholischen Kirchenvätern vertraut war. Dass nach dem Ende der Geschichte alles, jedes noch so kleine Blatt und jeder Grashalm, in vollkommener Gestalt wiedererstehe:

Auferstehung. Alle konkreten, wie man so sagt materiellen Objekte verwandeln sich in Licht, ohne ihre Gestalt zu verlieren. Nach dem Ende unserer Zeit, in der Metazeit, kehren sie als gebündeltes Licht zurück, obgleich nicht gebündelt zum Zustand ihrer vorigen Materie. Eine unbegreifliche Kraft hat sie in reine Essenzen verwandelt. Und die Essenz eines jeden menschlichen Wesens ohne all das, was ihr anwuchs, ohne Alter, Krankheit, Schminke, Verkleidungen, Verstellungen.

Darin bestand für ihn auch die höchste Aufgabe der Lyrik. In einer irdischen Apokatastase, der Wiedererschaffung all dessen, was wir als Einzelne und als Gattung unter den Schlägen der Zeit scheinbar für immer verlieren, in den Symbolen der Kunst. Im kalifornischen Exil, von dem aus er – einsam – immer in Richtung seiner europäischen Heimat blickte, widmete er zahlreiche Gedichte und Poeme der poetischen „Apokatastase“ Litauens, dem Land seiner Kindheit.
Er wollte ein Dichter „für die Leute“ sein, aber die liebten nicht ihn, sondern Szymborska und den Priester Jan Twardowski. Ich erinnere mich, wie es ihn schmerzte, als Hündchen am Wegesrand nicht den Nike-Publikumspreis gewann. Er kämpfte gegen die „unverständliche Lyrik“ und träumte von einer „Lyrik der einfachen Worte“, aber er galt als schwieriger und hermetischer Dichter. Selbst in den Momenten, in denen er schmetterlingsleicht war, blieb er monumental, was in Polen nicht immer begeistert. Scherz und die sanfte Ironie, die uns bei Szymborska bezaubert, begegnen uns in seinem Werk selten.
Als er am 14. August um 11.10 Uhr starb, war ich gerade in den kaschubischen Wäldern an einem See. Später baten mich die polnische Presseagentur PAP, die BBC, das Fernsehen und das Polnische Radio per Telefon um eine Stellungnahme. Wie in solchen Momenten üblich, sprach ich von einem „großen Verlust“, einem „Schlag“ und von den „Verdiensten des Verstorbenen um die polnische Kultur“. Der Tod wirft uns auf hohe, von der Tradition geheiligte Stereotype zurück. Eine falsche Höflichkeit übernimmt die Herrschaft über unsere Worte, selbst wenn die Toten das gar nicht wollten. Wenn er im Jenseits mitanhörte, was damals in Nachrufen alles über ihn gesagt wurde, wird er doppelt gelitten haben. Ich bekam vor Scham rote Ohren, aber ich wusste, die Rituale des Abschieds sind unerbittlich und alles muss im Einklang mit dem uralten Gesetz ablaufen.
Denn worüber hätte ich damals sprechen sollen?
Wohl über das, was wir Miłosz schuldig geblieben sind. Das wäre in diesem Moment das aufrichtigste gewesen. Überhaupt sollte man an Gräbern vor allem darüber sprechen, was wir den Toten schuldig blieben. Ich wenigstens habe Ihm gegenüber Gewissensbisse.
Jahrelang war er ein „toter“ Dichter und wusste das auch. Er wurde recht intensiv gelesen und kommentiert, aber man stritt nicht mit ihm, was für einen Schriftsteller den Tod zu Lebzeiten bedeutet. „Sie kommentieren mich ausführlich, befragen mich in Interviews, aber sie diskutieren nicht mit mir“, sagte er mir einmal. Er wollte Resonanz wecken und wartete auf Widerhall. Doch der Widerhall blieb aus. Es gab „positive Rezensionen und Besprechungen“, „eingehende wissenschaftliche Studien“ und „renommierte Preise“. Er nahm es hin. Er wusste, dass er ein Geist aus der Zwischenkriegszeit war. Von Zeit zu Zeit publizierte er einen polemischen Artikel – in der Hoffnung, eine „Grundsatzdebatte auszulösen“, wie etwa mit seinem Aufruf, einen neuen, auf Brzozowskis Ideen gegründeten Historismus zu schaffen. Aber unsere einzige Antwort war ehrfürchtiges Schweigen. Er war nicht froh darüber.
Ihn verlangte nach Auseinandersetzung, Gedankenaustausch, Streit. Ihm wäre es lieb gewesen, jemand hätte ihm offen widersprochen, denn erst in der Auseinandersetzung beginnt der Gedanke wirklich zu leben. Aber im letzten Jahrzehnt setzte sich niemand mit Miłoszs Gedanken auseinander. Nicht grundlegend, so wie er es gewollt hätte.
Auch Herbert nicht, der in der Wochenzeitung Tygodnik Solidarność Miłoszs Essayistik mit der Essayistik von Ryszard Przybylski verglich und sich wenig wohlwollend über Miłoszs Land Ulro äußerte. Selbst Różewicz, der im Streit ums große Ganze Miłoszs geistiger Widerpart hätte sein können, beschränkte sich auf ein paar knappe Spitzen gegen den „Langweiler mit seinem Swedenborg“.
„Sie behandeln mich beinahe wie einen Zakopaner Bären“, sagte er mir bei seinem letzten Besuch in Danzig. „Aber wer liest mich in Polen denn wirklich – wieviele sind es? Höchstens doch – zehntausend.“
Ich nahm ihn immer sehr ernst und brachte das einige Male auch öffentlich zum Ausdruck. Das heißt, ich widersprach ihm in einigen grundlegenden Dingen. Er nahm es gelassen hin, verständnisvoll und – ich spürte das – mit deutlicher Sympathie.
Als ich im „Tygodnik Powszechny“ den Traktat o dłoniach i rzeczach (Traktat über Hände und Dinge) veröffentlichte, den die Redaktion als „Erwiderung auf Czesław Miłoszs Theologischen Traktat“ ankündigte, rief er mich erfreut noch am selben Tag an.
Er wünschte sich hitzige Debatten, Widerstreit, Dissens, aber man machte ihn zu einem klassischen Dichter des Gleichgewichts, genau richtig für die Schulbücher.
Er wartete vergeblich auf die große Widerrede gegen Das Land Ulro, obwohl das Buch keineswegs veraltete.
Was also bleibt uns heute?
Wenn wir sein Werk lebendig halten wollen, müssen wir anfangen, uns mit seinem Denken auseinanderzusetzen. Ihn nur zu kommentieren, und sei es noch so scharfsinnig, reicht nicht. Zum Leben erwecken können wir Miłosz nur, wenn wir mit ihm sprechen, als sei er noch unter uns.
Aber wer von uns wäre dazu imstande?

Stefan Chwin, Akzente, Heft 5, Oktober 2011
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

 

 

Ulrich Schmidt: Eine mäßig verfaulte, große Republik. Czesław Miłosz ambivalentes Amerikabild

Walter Gross: Ein polnischer Europäer: Czesław Miłosz
DU, Heft 3, März 1966

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Czesław Miłosz

Irena Grudzińska-Gross: Czesław Miłosz und Joseph Brodsky. Die Freundschaft zweier Dichter

 

Michael Krüger erinnert sich an Czesław Miłosz.

 

 

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Zum 100. Geburtstag des Herausgebers:

Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021

Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021

 

 

 

 

Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź

 

 

 

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Diskussion mit Czesław Miłosz über sein Werk und sein Leben in Frankreich und den USA.

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