Dagny Albrecht: Zu Peter Huchels Gedicht „Die Engel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Die Engel“ aus dem Lyrikband Peter Huchel: Gezählte Tage. –

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Die Engel

Ein Rauch,
ein Schatten steht auf,
geht durch das Zimmer,
wo eine Greisin,
den Gänseflügel
in schwacher Hand,
den Sims des Ofens fegt.
Ein Feuer brennt.
Gedenke meiner,
flüstert der Staub.

Novembernebel, Regen, Regen
und Katzenschlaf.
Der Himmel schwarz
und schlammig über dem Fluß.
Aus klaffender Leere fließt die Zeit,
fließt über die Flossen
und Kiemen der Fische
und über die eisigen Augen
der Engel,
die niederfahren hinter der dünnen Dämmerung,
mit rußigen Schwingen zu den Töchtern Kains.

Ein Rauch,
ein Schatten steht auf,
geht durch das Zimmer.
Ein Feuer brennt.
Gedenke meiner,
flüstert der Staub.

 

Peter Huchel: Die Engel

Die Gedichte des 1972 bei Suhrkamp erschienenen Bandes Gezählte Tage, dem „Die Engel“ entstammt, sind während Jahren der Isolation und der Überwachung entstanden. Peter Huchel (1903-1981) war 1962 als Chefredakteur von Sinn und Form abgelöst worden. Grund für diese Amtsenthebung: ,Tendenzen ideologischer Koexistenz‘ in der führenden Literaturzeitschrift der DDR. Unter Huchels Direktion seit 1949 waren unter anderen auch Ernst Bloch, Hans Mayer, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu Wort gekommen. Nach mehreren Ausreiseanträgen konnte Huchel 1971 die DDR verlassen, wo nur ein Band (Gedichte. Berlin: Aufbau 1948) seines schmalen lyrischen Werkes erschienen war (Chausseen Chausseen. Frankfurt a.M. : Fischer 1963; Die Sternenreuse. Gedichte 1925–1947. München: Piper 1967; Die neunte Stunde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979).
Die Kritik tat sich schwer mit Peter Huchel. Nicht selten wurden seine Gedichte als reine Naturlyrik verkannt. Tatsächlich durchziehen Naturmetaphern das gesamte Werk. Mehrfach hat Huchel den großen lateinischen Kirchenlehrer Augustinus (354–430) zitiert:

…im großen Hof meines Gedächtnisses. Daselbst sind mir Himmel, Erde und Meer gegenwärtig… (Augustinus: Confessiones, Buch X, 8).

Zuerst 1932, in der 2. Fassung einer Selbstanzeige zu dem zurückgezogenen Band Der Knabenteich, in Reden und Interviews aus den siebziger Jahren (vgl. Peter Huchel: Ges. Werke. 2 Bd. Hg. A. Vieregg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Bd. 2) sowie als Motto zum Band Chausseen Chausseen.
Diese Worte schienen ihm auch den Ursprung des eigenen Schaffens zu bezeichnen. Der große Hof war für ihn das alte Gehöft des Großvaters in Langerwisch bei Potsdam, die Landschaft seiner Kindheit. Die Kindheitsidylle wurde jedoch bald zerstört und wich einem Bild von der Natur als etwas Grausamem mit dem ihr innewohnenden Prinzip von „Fressen und Gefressenwerden“. In Huchels Werk steht Natur nicht für sich, sondern hat Symbolcharakter, wird von dem Autor im Sinne des „Bild[es] als Gleichnis“ verstanden. Im Gegensatz zum traditionellen Naturgedicht bringt Lyrik für Huchel „nicht nur Gefühl, sondern auch Weltsituation zum Ausdruck“. Eine zweite wichtige Quelle seines Schaffens entspringt der Auseinandersetzung mit der christlichen Mythologie. Huchel schuf sich eine eigenständige Auffassung von Religion, die sich durch die Annahme eines zyklischen Weltverlaufs, einer ständigen Wiederkehr des Lebens und einer in der Figur der Erdmutter als Gott gesetzten Erde auszeichnet. Seine anfängliche Gottsuche wich bald einer Anklage und Revolte, um schließlich in die späten Bilder der Vereisung und Verfinsterung als Zeichen der Gottesferne zu münden.
Von „Die Engel“ gibt es eine erste Fassung sowie erläuternde briefliche Hinweise des Autors (Ges. Werke. Bd. 1, S. 425f. [Anmerkung]). Sie werden hinzugezogen, soweit sie für die Deutung wichtig sind. Gegenstand der Interpretation jedoch ist nur die zweite, von Huchel als endgültig angesehene Fassung.
Die erste Strophe führt in einen fest umgrenzten Raum und hat gewissermaßen einen epischen Kern: Eine Greisin säubert den Sims des Ofens. Allerdings wird sehr schnell deutlich, daß nicht der Vorgang an sich interessiert, sondern als Metapher, das heißt die zeitliche Tiefendimension, die er aufschließt. Der von der Greisin aufgerührte Staub ist seiner Natur nach materialisierte Ablagerung von Zeit. Den Rauch, dem das Wort „Schatten“ an die Seite gestellt wird, sollte man nicht nur im Zusammenhang mit dem brennenden Feuer sehen. Was wirft diesen Schatten? Es sind wohl die Schatten der Vergangenheit, die hier aufstehen – einer Vergangenheit, deren zu gedenken der Staub flüsternd bittet. Um welche Vergangenheit es sich handelt, bleibt noch offen; es liegt aber nahe, sie als Vergangenheit der Greisin zu deuten, deren Gebrechlichkeit auf ein hohes Alter hinweist.
Die zweite Strophe fügt der zeitlichen Tiefendimension der ersten, ihren engen Rahmen verlassend, die Dimension räumlicher Weite hinzu. Die Szenerie am Fluß war in der ersten Fassung noch weiter ausgestaltet („Am Schuppen das Netz, im Korb der Fang.“), so daß man im Rückbezug auf die erste Strophe die Hütte eines Fischers assoziieren konnte. Durch die Tilgung dieser Zeilen verstärkt sich das Stimmung vermittelnde, Öde und Trostlosigkeit ausstellende Element der Darstellung, und auch der Fluß wird metaphorisch ausdeutbar. Assoziationen zum Acheron stellen sich ein, obgleich das Prädikat „schlammig“ dem Himmel zugeordnet wird. Indessen weisen die in der Folge genannten Engel und die Töchter Kains eindeutig in den Bereich der biblischen Mythologie. Hier stellt sich auch die dem Leser zunächst verborgen gebliebene Beziehung zur ersten Strophe her: um diese Vergangenheit handelt es sich.
Der Bibelbezug wird von Huchel in zwei Briefen an Ludvík Kundera vom Februar 1965 bezeichnet und ausgedeutet:

Lies bei Moses – kurz vor der Sintflut – nach, dann findest Du das Motiv. Und im zweiten Brief: Die betreffende Stelle steht: 1. Moses, 6. Kapitel: „Da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Erde, wie schön sie waren, und nahmen zu Weibern, welche sie wollten.“ In den alt jüdischen Legenden wird unverblümt von der Hurerei zwischen Engeln und schamlosen Menschentöchtern gesprochen. (Ges. Werke. Bd. 2)

Hält man sich an den Bibeltext, so muß man sich die Vereinigung der Gottessöhne mit den schönen Menschentöchtern nicht unbedingt als Hurerei vorstellen und damit möglicherweise als einen der Gründe, weshalb der Herr den Menschen die Sintflut als Strafe verordnete. Sie kann auch als ein Fest der Sinnenfreuden aufgefaßt werden, aus dem dann die „Helden der Vorzeit, die hochberühmten“ (I. Moses 6,4) hervorgingen. Die Töchter Kains findet man in der Bibel nicht. Allein durch die Nennung des Brudermörders geraten sie in den Verdacht der Schuldbeladenheit. Ähnlich werden ihre Partner, die Engel, gesehen (eisige Augen… ). Sie fahren nicht nieder wie Liebende, sondern wie ein Strafgericht.
Von dieser – wie auch immer gesehenen – Vergangenheit ist nichts geblieben als Staub, eine schwächliche Greisin und eine tote Landschaft. Dieser Vergleich lenkt die Aufmerksamkeit auf das zentrale, auch zentral situierte Wort des Gedichts: Zeit. Als Dimension war sie schon in Strophe 1 präsent, nun wird sie direkt benannt – einziger abstrakter Begriff in dem ansonsten vollkommen in sinnliche Rede umgesetzten Gedicht. Sie kommt aus klaffender Leere – also muß auch das in der ersten Strophe beschworene Gedenken ins Leere laufen, vergeblich sein. Sie ist mächtig und fließt über niederes Getier (Fische) gleichermaßen wie über die Gottessöhne/Engel, sie ist die einzige Kraft, die in die fast erstarrte Szenerie des Gedichts Bewegung bringt, sie macht alles gleich.
Aber damit endet das Gedicht nicht. In der dritten Strophe wird das zentrale Motiv der ersten wiederaufgenommen – bei Tilgung der Momente, die eine konkrete, auf eine individuelle menschliche Figur bezogene Situation herstellen. Trotz des Wirkens der Zeit wird die Vergangenheit immer wieder aufstehen und Erinnern verlangen, sie ist der menschlichen Existenz (anders als den erinnerungslosen Fischen und den Engeln mit den eisigen Augen) unabdingbar beigegeben, unverzichtbar. Und geblieben ist auch das Feuer – es brennt. Die Zeit, dargestellt als ein Element ewigen Fließens, in starker bildlicher Nähe zu einem wirklichen Gewässer, hat es nicht auslöschen können. Das Feuer gewinnt hier seine Bedeutung als Gegenelement zum Wasser und als Grundlage menschlicher Existenz.
Sicher läßt diese Lesart Fragen offen, so jene, weshalb das Gedicht „Die Engel“ heißt. Indessen erscheint es nicht angemessen, den Text auf einen eindeutigen Sinn festzulegen. Das Gedicht wird getragen durch seine Worte und seine Bilder:

Ich raune ja meist meine Verse vor mich hin, ein paar Wörter sind da, vielleicht eine Metapher, ein paar Eisenspäne gleichsam. Sie kommen später in ein Magnetfeld hinein, werden strukturiert, es kommt zum Bild, zum Gleichnis, und dann ist das Gedicht da. (Ges. Werke. Bd. 2)

Dagny Albrecht, aus Peter Geist, Walfried Hartinger u.a. (Hrsg.): Vom Umgang mit Lyrik der Moderne, Volk und Wissen Verlag, 1992

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