UNIVERSITÄTSPLATZ
Wir sind uns nicht begegnet
Waren nicht nahebei
Mein Freund hatte eine Kugel
In den Rücken gekriegt
Ihr entwand sich ein Schrei
Jetzt trägt er die Kugel spazieren
Sie waren zusammen bis zum „Scala“ gegangen
Angelangt mit ihm war sie beim „Bitteschön“
Die Kugel war lebendig und mein Freund ein Tor
Jetzt kommt sein Knochen mir doppelt gehärtet vor
Mit dem ich einstmals die Welt geliebt
Mit dem er liebend die Welt
Mänlich sich ihr zugesellt
Mein Freund ich wiederhole mich
Er war ein Tor der Haken schlug um sich
Ich saß da trank einen Kaffee und ließ es mir gut sein
Und dem einen Kaffee folgte ein zweiter gleich hinterher
Die Welt war etwas missgestimmt
Und langweilte sich mit mir
Mein Freund jedoch der langweilte sich an ihr
Daniel Bănulescus Gedichte, die ich nun schon seit gut einem Jahrzehnt kenne und hin und wieder übersetze, haben mit der Zeit nichts von ihrer irritierenden, mich herausfordernden und verstörenden Kraft verloren. Ja mitunter habe ich sogar den Eindruck, sie verschlössen sich von Mal zu Mal mehr, würden mit jeder neu gelesenen und übersetzten Zeile rätselhafter: abstoßend und schön zugleich; sie werfen mich hinaus aus dem Milieu (Universum?), das sie kartografisch abstecken, und werben doch gleichzeitig um meine sinnliche und intellektuelle Beteiligung. Sie scheinen mich ergreifen zu wollen mit zärtlichen und feingliedrigen Wendungen und wollen mich doch auch – einmal ergriffen – durchschütteln, erschrecken und ihres Territoriums verweisen. Böse schauen sie mich an, drohen und geben sich grobianisch, um gleich darauf die leise Frage hinterherzuschicken, ob ich denn nicht wüsste, wie anstrengend es ist und welcher Kunstfertigkeit es bedarf, auf überzeugende Weise böse zu sein.
Ja doch, ich erinnere mich genau, wie mich vor mehr als zwanzig Jahren Guillaume Apollinaires großes Gedicht „Zone“, das ich in Gregor Laschens Auftrag übersetzte, in ähnlicher Weise provoziert, angezogen und abgewiesen, entzückt und verärgert hat. Doch damals konnte ich mich dadurch schützen und in einer relativen Sicherheit wähnen, dass ich es mir zeitlich vom Leib hielt. Es war immerhin gut achtzig Jahre vor meinem Übersetzungsversuch geschrieben worden. Die Zeitfalte, die sich zwischen Gedicht und Übersetzer auftat, musste, so sie meine Verstörung nicht erklären und mildern konnte, verantworten und schlucken, was dem heutigen Bewusstsein inkommensurabel vorkam. Es ist gewiss kein Zufall, wenn ich beim Übersetzen der Gedichte Daniel Bănulescus immer wieder an jene Erfahrung mit Apollinaires Gedicht erinnert wurde.
„Zone“, das mehrere Seiten lange Eröffnungsgedicht in Guillaume Apollinaires 1913 erschienenem Band Alcools. Poemes 1898–1913, ist ein hybrider Text, in dem territorial weit auseinanderliegende Eindrücke und Assoziationen ebenso wie zeitlich voneinander getrennte Erfahrungen und Wissensbereiche in die Simultaneität eines Textes gehoben werden. Im Text des Gedichts kohabitieren ganz und gar unverträglich scheinende Sprechweisen: Pathos und Ironie, Gebet und Blasphemie, Lyrismus und Narration. Die schroff und interpunktionslos aneinandergefügten Textschichten (Temperaturen und Referenzen) lassen ein flirrendes Epochenbild entstehen, das ich heute zu lesen verstehen meine. Haben Daniel Bănulescus Gedichte mir etwa dabei geholfen?
Die Erfahrung mit Apollinaires Gedicht hat mir zweifellos einiges an und in Daniel Bănulescus Gedichten verständlicher, erklärlicher gemacht. Hybrid wie die Apollinaires ist auch die Poesiesprache des Daniel Bănulescu, die Narration und Lyrismus, Provokation und Sanftheit, Religiosität und Blasphemie, Sinnlichkeit und Erotismus und grobe Zurückweisung, ja Mißachtung und Verächtlichmachen kennt und all dies gleichzeitig in einer Rede zu amalgamieren weiß. Der Körper der Frau wird ihm zum Ort, vielmehr zum Territorium, in dem sich Schönheit und Verderbnis, Begehren und Gewalt, das Sublime und dessen alltägliche Vernutzung und Verwandlung zu Schmutz und Obszönität vollziehen. Als Liebesobjekt, als Gegenstand der Achtung wie des Begehrens scheint er dazu prädestiniert, all die Verwerfungen auf sich nehmen zu müssen, die mit dem rasanten Wandel der gesellschaftlichen Umgangsformen ebenso wie der kulturellen Codes nach der politischen Wende in Rumänien das alltägliche Leben prägen. Wie spricht man, wenn alles plötzlich sagbar erscheint und keiner mehr zuhört? Was ist noch irgend geeignet, als provokativ empfunden zu werden, wenn die orthodoxe Kirche unbeanstandet Flugschriften gegen Homosexuelle, Juden und Freimaurer verbreitet, Politiker ohne einen Skandal zu erregen, in der Öffentlichkeit den Holocaust leugnen und jüdischen Verschwörungen alle Übel und Krankheiten der Welt zuschreiben, wenn die Werbung vor Sexualisierung kaum noch erkennen lässt, dass sie Zahnpasta und nicht willfährige minderjährige Mädchen verkaufen will? Was hat als obszön zu gelten, wenn die alltäglichen Lebensverhältnisse längst die Grenze zur Obszönität überschritten haben?
Kann Poesie unter solchen Umständen einen Raum schaffen, in dem Kultiviertheit, Zartgefühl und Verantwortlichkeit überwintern können? Wo Schönheit ihren angestammten Ort findet, herstellbar und vermittelbar bleibt? Und wenn, wie könnte, wie müsste eine solche Poesie aussehen? Vielleicht enthalten Daniel Bănulescus Gedichte hie und da eine der möglichen Antworten auf die eine oder andere dieser Fragen. Vielleicht sind sie so, wie sie sind, um von alledem das vom Gedicht gerade noch zu Tragende aufnehmen und weiterreichen zu können an jemanden, der sich einnehmen lässt von ihrer irritierenden Gestalt, der durch seine Verstörtheit hindurch lesend mit- und weiterdenkt.
Gedichte werden allerdings nicht geschrieben, um als gesellschaftliche Therapeutika zur Anwendung zu gelangen. Sie sind a-sozial: Selbsterfindungsprotokolle, Aufschrei, Einspruch, Beschwörungs- und Verführungsrede Zauberspruch gar. Sie folgen gewissen Regeln und durch ihre eigene Tradition vermittelten Herstellungsweisen und fordern doch gleichzeitig ihrem Autor eine individuelle Prägung ab, den eigenen Ton, die Identifizierbarkeit hier etwa in Gestalt des Bănulescu-Sounds, der all das in sich aufnimmt und in seinem Dahinfließen mitspült, was das Ich dieser Texte wahrnimmt, was ihm zusetzt, es euphorisiert oder empört. Daniel Bănulescus Gedichte markieren gewiss eine Randzone; den Rand, den das wache Individuum immer und unter allen Umständen selbst darstellt. Sie erzählen von der erfundenen Autobiografie des Dichters und schwemmen in ihrem Sprechen all die Bedrängnisse mit, die der Freiheit zur Selbsterfindung entgegenstanden. Sie verzeichnen metaphorisch diese Bedrängnisse und stellen Momente von Zärtlichkeit und Empathie her, in denen blitzartig alles zu einem guten Ende zu kommen scheint, aufgehoben in Texten, die von ihrer Begrenzung wissen und deshalb wahrscheinlich nach einem Pathos suchen, das wie von ferne an die großen Zeiten der Dichtung erinnert, als François Villon mit Vladimir Majakowski am Kneipentisch saß und sie nächtelang über Unschuld sprachen, wobei sie sich so hoffnungslos im Buchstabieren dieses Wortes verhedderten, dass sie beschlossen, so lange weiter zu trinken, bis da einer käme, der – ja was wohl?
Ernest Wichner, Nachwort
bezeichnet Ernest Wichner, der Daniel Bӑnulescus Gedichte in ein mal zartes, mal beinahe verstörend rohes Deutsch übersetzt hat, das Werk des Rumänen. Was schön ist und dem Daniel gefällt ist eine Melange aus Liebevollem und Erotischem, Derbem und Befremdlichen, verwebt Poesie und Narration, Spott und Verzweiflung. Selbstironisch collagiert Daniel Bӑnulescu eine fiktive Autobiografie, lässt den Leser teilhaben an der Selbstfindung und Selbsterfindung des lyrischen Ichs, das zwischen Selbstgewissheit und Verzweiflung versucht, sich einen individuellen Raum abzustecken. Wie soll Individualität, wie soll Dichtung gesellschaftliche und poetische Tabus brechen, wo keine mehr sind? „Wie spricht man“, fragt Ernest Wichner in seinem Vorwort, „wenn alles plötzlich sagbar erscheint und keiner mehr zuhört?“
merz&solitude, Ankündigung
Johann-Heinrich-Voß-Preis 2020 an Ernest Wichner Laudatio: Lothar Müller
Miniinterview 2010 mit Daniel Bănulescu.
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