– Zu Reiner Kunzes Gedicht „Nachtmahl auf dem Acker“ aus Reiner Kunze: ein tag auf dieser erde. –
REINER KUNZE
Nachtmahl auf dem Acker
Wenn großvater am abend
das kräutichtfeuer schürte,
machte er die sterne,
die später über unseren köpfen standen
Wir erkannten sie wieder
Und der mond war ein armer bruder,
der zur sonne betteln ging
(manchmal bekam er etwas,
manchmal nicht)
Ich wußte noch nicht, daß der mond
das vorweggenommene antlitz ist
der erde
Ich war noch nicht Adam,
und großvater ähnelte gott
Damals, als ich noch vom himmel aß
Es gibt Menschen, die noch wissen, wie nach einem anstrengenden Tag des Kartoffellesens auf dem Acker ein Kartoffelfeuer in der herbstlichen Luft roch und wie sie schmeckten, die sehr heißen, aus der verkohlten Kruste geschälten Kartoffeln. Und wenn wir sie bitten würden, dieses abendliche Mahl zu beschreiben, vielleicht würden sie sagen: es war paradiesisch. Und wir verstehen: sie meinen damit nicht nur, was sie gegessen haben, sie meinen den Moment inniger Verbundenheit mit der Welt, als sie die Früchte ihrer Arbeit genießen konnten, über sich nichts als den Himmel. Und es gibt Menschen, die die Erfahrung eines Kartoffelfeuers nicht gemacht haben. Aber auch sie können dieses Gedicht verstehen und wissen, wovon es spricht. Denn auch ihnen kann die unmittelbare und treffende Sprache der Dichtung in die Kindheit leuchten. Und wenn auch der eine oder andere keinen Großvater hatte, der für ihn eine Geschichte erfand, wie der arme Mond zur Sonne betteln gehen muss, um ein bisschen Licht zu erhalten – oder wenn manch einer nicht sagen würde, dass es der Apfel vom Baum der Erkenntnis, den Adam aß, war, der ihn aus dem Zustand der Einheit mit der Welt gerissen hat, so wird er doch wissen, was es heißt, als Kind in einer Welt zu leben, in der die Erzählungen das Leben durchdringen. Einer Welt, in der ein Großvater Wunder vollbringen kann, kurz, in der das Zauberhafte mit dem Gewöhnlichen im Bunde ist. Das vermag ein Gedicht. Und der es schrieb, Reiner Kunze, ist ein Dichter, dessen ganzes Werk davon getragen ist, diese Erfahrungen in eine Sprachform zu bannen, die uns berührt und die wir so schnell nicht vergessen.
Daniela Danz, aus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018
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