SONNENJAHRE
Zähle die Wandlungen der Sonnenjahre
an den Traumfurchen der Masten
an den Verästelungen des Ölbaums
an den Jahresringen der Birke
an den Verwitterungen der Steine am Weg
an den Muscheln die den Rückzug des Meers vom
aaaaaLand verbergen
an den Rostschichten auf den Trägern der Mole
an den Ablagerungen in der vergessenen Erde
Zähle die Lockerungen von einst
Segelboote die nicht zurück zum Ankergrund wollen
Übersetzt von Erich Fried
Wenn ein Mensch sich selbst nicht richtet, richten
ihn alle Dinge, und alle Dinge werden zu Boten Gottes.
Rabbi Nachman
Nicht jedes Gedicht, das die Distel und den Fels, den Ölbaum und das Schilf beim Namen nennt, läßt sich dem zuschlagen, was in Deutschland Naturlyrik heißt. Einer Poesie, die uns aus andern Räumen, aus fremden Sprachen zukommt, sollten wir es lieber ersparen, sie auf den ersten flüchtigen Blick hin einem Herbarium einzuverleiben, dessen Schaustücke nur in unserer eigenen Tradition so recht haben gedeihen können. Deutsche Empfindsamkeit und deutsche Romantik, zuweilen eingeschrumpft zur kunstgewerblichen Reminiszenz, sind die historische Substanz, von der unsere Naturlyriker, von Lehmann und Huchel bis zu Britting und von der Vring, zehren; was aber bei René Char der Blitz, bei Rafael Alberti das Meer, was bei Saint-John Perse der Schnee und bei William Carlos Williams der Steinbrech zu bedeuten hat, das ist aus solchen Voraussetzungen nicht abzuleiten. Hat man es gar mit einer Poesie zu tun, deren Herkunft und Gegenwart uns so unvertraut ist wie die der hebräischen Moderne, so empfiehlt sich wenigstens ein zweiter Blick auf den Text, ehe man ihr einheimische Namen anhängt.
Ein zweiter Blick auf David Rokeahs Gedichte genügt, um ihre Distanz von jener sentimentalischen Kunstübung zu ermessen, die bei uns im Schwange war und immer noch ist. Schilf, Sand und Stein sind darin von der dunstigen Aura gänzlich frei, mit der die romantische Empfindung für uns das Naturding begabt hat. Es wird hier weder verbos beschrieben, noch mythologisiert oder beschworen, sondern gleichsam naiv beim Wort genommen; und dieses Wort ist außerordentlich sparsam, knapp und schmucklos. Auch spricht Rokeah, wenn er von der Pinie spricht, nicht von deren Wesen, meint keine platonische Idee, hat durchaus nicht die Pinie „überhaupt“ im Sinn; sondern einen Baum, den er gesehen hat, ruft er herbei. Nicht eigentlich Natur also ist hier gemeint (und am allerwenigsten als Ausrede vor der Zivilisation), sondern Landschaft, bewohnt, beschritten, erfahren. Die Grenzen dieser Landschaft, und zugleich ihr Horizont, sind Meer und Wüste. Sie sind, wie Adriaan Morrien bemerkt hat, die beiden großen Symbole, die man in Rokeahs Versen antrifft; aber zuvor und zunächst geben sie auf das genaueste die Grenzen des Landes an, in dem der Autor zu Hause ist: die Grenzen Israels. Leer ist ein dichterisches Symbol, das sich nicht, wie der zerbrochene Ring, jederzeit handgreiflich zusammenfügen ließe: der Atlas zeigt die konkrete Hälfte der Landschaft, von der Rokeah spricht. Und ihre Geschichte belehrt uns über den Sinn seines Unternehmens: seine Gedichte vergewissern sich durch die Sprache der Gebirge, der Seen, der Küsten eines sehr alten Landes, das zu einem sehr neuen Gemeinwesen geworden ist. Sie sind eine poetische Landnahme.
„Man hat mir“, sagt Rokeah selbst, „zuweilen verübelt, daß ich in meinen Gedichten nicht deutlich Stellung nähme zu den Problemen des Augenblicks. Ein aufmerksamer Leser wird ihnen Tag für Tag meinen Standpunkt ablesen können. Ein Vers wie der folgende: ,Die Wüste soll nicht aus dem Negev verschwinden / ehe sie nicht aus den Herzen verschwunden ist‘, – ein solcher Vers hat auch auf die aktuelle Situation Bezug, aus der heraus er geschrieben ist. Das ist die Regel, nicht die Ausnahme.“ Nicht anders, wo Rokeah von „der Mauer“ spricht. Sie taucht in vielen seiner Gedichte auf; keine unverbindliche Metapher, sondern eine steinerne Realität in Jerusalem, der anderen zweigeteilten Hauptstadt der Gegenwart. Vergebens wird man in den Werken dieses Autors den Schrei, den Schlachtruf oder die politische Parole suchen; er äußert sich beharrlich, aber verschwiegen, mit jener Deutlichkeit, die des Fanatismus entraten kann: der Deutlichkeit des Selbstverständlichen. So ruft Rokeah auch den historischen Auftrag seiner Poesie nicht aus, weil er ihm selbstverständlich ist.
Er erzählt:
In der Schweiz wollte ich einmal meine Armbanduhr reparieren lassen. Ich betrat das Geschäft eines Uhrmachers, der Meister sagte mir, er repariere keine modernen Uhrwerke, nur alte, deren eine Anzahl in seinem Laden hing: Uhren mit Pendeln, die die Zeit hörbar machten. Was der Mann wollte: die Zeit hörbar machen, das ist es, was auch ich mit meiner Poesie anstrebe.
Nicht also Naturlyrik auf der Jagd nach der Chimäre des „Zeitlosen“; im Gegenteil.
Mit alledem ist indessen noch nicht bestimmt, was die Dinge belebt, die in Rokeahs Gedichten eine so auffallende Rolle spielen. Fast jede menschliche Beziehung scheint verzaubert in eine Beziehung zwischen Dingen:
Die Hand die Liebesschwüre niederschreibt
wird nicht Verrat üben. Nicht verraten
wird der Fels die Zypresse.
Oder:
Weiter von dir
kaut das Meer die Nachtmuscheln
… Kies der mit Zähnen knirscht
am Strand.
In dem Gedicht „Sand“ schreit die unbelebte Materie, entsinnt sich ihrer Körner, bietet dem Wind die Stirn. Hat man es hier mit konventionellen Metaphern zu tun, Projektionen der Innerlichkeit auf die Außenwelt, die gleichsam annektiert, vermenschlicht wird? Liegt der Vergleich zugrunde: Die Hand, die Liebesschwüre niederschreibt, ist wie der Fels, der die Zypresse, die auf ihm wächst, nicht verrät? So könnte es scheinen; aber damit wäre das Naturding nicht mehr es selber, es wäre erniedrigt zum Haken, an dem die Poesie beliebig ihre Vergleiche aufhängen könnte. Was Rokeahs Poesie von aller metaphorischen Rhetorik dieser Art unterscheidet, was sie unvergleichbar macht, ist sein Glauben an die Lebendigkeit der Welt. Er ist, im Schillerschen Sinn, ein naiver Dichter. Was er vom Sand, vom Meer und vom Felsen sagt, das ist durchaus wörtlich gemeint; man könnte den Satz wagen, daß er überhaupt keine Metaphern kennt, weil er ihrer nicht bedarf.
Der stumme Stein ist in Rokeahs Augen des Schmerzes ebenso fähig wie ein Mensch. Der Satz: „Der Sand schreit“ ist kein Vergleich, sondern eine Feststellung; seine Wurzel ist nicht rhetorisch, sondern religiös. Vermutlich ist sie sehr alt; vermutlich liegt sie in der Tradition der jüdischen Mystik. Daß in allen Dingen, auch den scheinbar unbelebten, ein Funke des Lebens wohne, lehrt der Baalschem; der große Historiker dieser jüdischen Tradition, Martin Buber, sagt der chassidischen Lehre nach, ihre panentheistischen Elemente hätten ein System von monumentaler Kraft und Einheit gebildet. Nur wer es genau kennt, wird den Zusammenhang präzisieren können, der sich hier andeutet. Erweisbar aber ist, daß David Rokeah im Bann der ostjüdischen Überlieferung aufgewachsen ist.
Er ist im Jahre 1916 in Lemberg zur Welt gekommen. Die Jahre seiner Kindheit verbrachte er in einer abgelegenen Kleinstadt im Südosten Polens, die von ausgedehnten Wäldern umgeben war. In Lemberg ging er zur Schule; schon damals hat er seine ersten Gedichte publiziert, die heute verschollen sind.
Mein Vater liebte die strengen, rationalen Traktate des Talmuds. Er war ein Freund der schönen Literatur und kannte viele deutsche Werke, vor allem die der Klassiker. Er hat mich von frühester Jugend an im Hebräischen unterwiesen. Mein Großvater aber war ein wohlbekannter Kabbalist, der sich nebenbei auch mit Malerei und Architektur beschäftigte. Seine Vorstellung von der Baukunst gewann er vor allem aus der Bibel und aus dem Talmud, der den Bauplan des Tempels zu Jerusalem genau beschreibt. Diesen Tempel malte er, und es war sein Ehrgeiz, ihn so naturgetreu wie möglich wiederzugeben. Ich erinnere mich noch deutlich der kleinen Brücke, die auf seinen Bildern in den Tempel führte. Über diese Brücke bin ich nach Israel gekommen.
An der Jerusalemer Mont-Scopus-Universität begann Rokeah im Jahre 1934 hebräische Literatur zu studieren. Weil er kein Geld mehr hatte, mußte er dieses Studium aufgeben; er ging als Taglöhner in die Orangenplantagen von Kfar Saba, auch war er eine Zeitlang Straßenarbeiter. Später besuchte er ein Jahr lang die Hochschule für Rechtswissenschaft in Tel-Aviv. Schließlich entschloß er sich zu einem Studium der Elektrotechnik am British Institute und wurde Ingenieur. Diesen Beruf übt er heute noch aus. Sein erstes Buch erschien im Jahr 1939. Als er, während des Krieges, von der Ausrottung der Juden in Europa hörte, schrieb er nicht weiter. Er verlor seine Familie, er verlor seine Freunde. Tausende seiner früheren Leser waren unter den Opfern. Er hat zwölf Jahre lang geschwiegen. Heute lebt David Rokeah in Tel-Aviv und Jerusalem. Die Poesie, heißt es, sei heute in Israel die blühendste Gattung der Literatur. Die Bücher der bekannteren Dichter erreichen verhältnismäßig hohe Auflagen; die Zeitungen räumen dem Abdruck neuer Gedichte einen hervorragenden Platz ein, ebenso das Rundfunkprogramm. Ein großes Publikum beschäftigt sich mit der jüngsten Produktion; es kommt vor, daß ein neuer Text zum Tagesgespräch wird. Das hängt vielleicht mit der Situation der hebräischen Sprache zusammen; ebenso wie das Land, in dem sie gesprochen wird, ist sie uralt und zugleich im Werden. Der Poesie kommt hier, mehr noch als in anderen Ländern, sprachschöpferische Bedeutung zu; neue Erfahrungen und Begriffe verlangen nach einer produktiven Verwandlung des alten Hebräisch, das in einem ausgezeichneten Sinn eine sakrale Sprache war. „Die moderne hebräische Literatur setzt voraus, daß der Sakralsprache Gewalt angetan wird“, schreibt Professor Kurzweil, ein Literaturwissenschaftler, der an der Bar-Ilan Universität in Ramat-Gan lehrt und dem ich das wenige verdanke, was ich darüber weiß. Dieser dialektische Prozeß mit der Überlieferung, der die Bibel ebenso einschließt wie Midrasch und Talmud, hat nicht mit Rokeah begonnen, sondern mit den Pionieren der modernen hebräischen Poesie, mit Grinberg, Shlonski und Altermann. Rokeah zählt zur dritten Generation der heutigen israelischen Literatur. Die deutschen Versionen, die hier von seinen Gedichten vorgelegt werden, bedürfen einer Rechtfertigung. Für sie zeichnen nicht allein die Übersetzer verantwortlich, die in den meisten Fällen des Hebräischen nicht mächtig sind, sondern auch der Autor selbst. Rokeahs Reisen führen ihn oft nach Europa; in Zürich, London und Paris hat er, der ausgezeichnet deutsch und englisch spricht, seinen Übersetzern unermüdlich zu einem genauen Verständnis seiner Texte verholfen und sie bis ins Detail der Grammatik und der Etymologie hinein erläutert. Dabei waren viele Schwierigkeiten zu überwinden. Zum strukturellen Unterschied der beiden Sprachen kam die spezifische Situation des modernen Hebräisch, für die es im Deutschen kein Analogon gibt. Die Reibung zwischen uralten und neuen Momenten der Sprache kann keine Übersetzung wiedergeben. Im übrigen erlaubt gerade die Vielzahl der beteiligten Übersetzer eine gewisse Kontrolle der Ergebnisse, zu denen die hier versuchte, ungewöhnliche Methode der Übertragung geführt hat. So verschieden das sprachliche Temperament der Übersetzer ist, auf dem Grund der deutschen Texte tritt, als ihr Gemeinsames, die Eigenart Rokeahs deutlich genug hervor. Er ist ein Einzelgänger. „Einflüsse“ sind ihm kaum nachzuweisen; ja man mag sich fragen, ob Rokeah seinen Eliot und seinen Apollinaire, seinen Pound und seinen Neruda, die Pflichtlektüre der modernen Poesie, überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Spezifisch für das Land, in dem er lebt, ist die Herkunft und der Auftrag seiner Dichtung. Wenn sich dennoch in diesem Besonderen das Allgemeine so deutlich ausdrückt, daß mancher Vers von Rokeah wie eine Antwort, aus anderem Ursprung, aus anderen Zonen, auf jene Stimmen, die Stimmen Chars und Eluards, Aleixandres und Paveses klingt, dann drückt eine solche Begegnung nicht Abhängigkeit aus, sondern ihr Gegenteil: den freien Wortwechsel einer Poesie, die bei sich ist und überall zugleich.
Hans Magnus Enzensberger, Nachwort
der Gegenwart ist universell und provinziell zugleich: beides im vornehmsten Sinn; sie ist gebunden an ihre eigene Sprache, aber auch an ein gemeinsames Bewußtsein; im Besonderen bringt sie das Allgemeine an den Tag. Die Sammlung „Poesie“ setzt deswegen stets neben die Übersetzung das Original. Immer noch fehlen uns unentbehrliche Werke der modernen Poesie, besonders aus jenen Sprachen, die schwer zugänglich sind. Hier sollen sie vorgestellt werden: die alten Meister der Moderne und unter ihren jüngeren Nachfolgern die, deren Werk sich in solcher Nachbarschaft behaupten kann.
David Rokeah ist in Lemberg zur Welt gekommen. Mit siebzehn Jahren ging er nach Israel; diese Reise schildert er mit den folgenden Worten:
Mein Großvater war ein wohlbekannter Kabbalist, der sich auch mit Malerei und Architektur beschäftigt hat. Es war sein Ehrgeiz, so genau wie möglich den Tempel von Jerusalem zu malen. Ich erinnere mich noch gut der kleinen Brücke, die auf seinen Bildern in den Tempel führte. Über diese Brücke bin ich nach Israel gekommen.
„In diesen Gedichten wird das Naturding beim Wort genommen; und dieses Wort ist außerordentlich sparsam, knapp und schmucklos. Rokeah meint die Natur nicht als Ausrede vor der Zivilisation, sondern als Landschaft. Die Grenzen dieser Landschaft, und zugleich ihr Horizont, sind Meer und Wüste. Rokeahs Poesie vergewissert sich durch die Sprache eines sehr alten Landes, das zu einem sehr neuen Gemeinwesen geworden ist. Sie ist eine poetische Landnahme Israels.“ Hans Magnus Enzensberger
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1962
Wer sich heute (aus welchen Gründen auch immer) für israelische Literatur in hebräischer Sprache interessiert, wird schnell fündig: Der gerade verstorbene Romancier und brillante politische Essayist Amos Oz ist mit seinem gesamten Werk ebenso präsent wie der etwas jüngere David Grossman, die auch beide den Friedenspreis in Frankfurt erhalten haben; die messerscharfen Analysen des Verhältnisses von Mann und Frau in Israel in den Romanen von Zeruya Shalev werden ebenso regelmäßig übersetzt wie die politischen Analysen von Orly Castel-Bloom; die sehr witzigen Geschichten aus dem Alltagsleben von Etgar Keret finden so viel Beachtung wie die unerschrockenen Beobachtungen von Nir Baram. Und schließlich hat auch die unvergessene Autorin von intelligenten Kriminalromanen, Batya Gur, in Dror Mishani einen würdigen Nachfolger gefunden. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs, wenn dieser Begriff hier ausnahmsweise erlaubt ist. Es gibt viele andere Schriftsteller, auch von Kinderbüchern, die stolz darauf sind, in hebräischer Sprache, also von rechts nach links zu schreiben und nicht ins Englische zu wechseln (wie so viele der indischen Autoren, die auf diese Weise Teilnehmer am globalen Markt der Literatur sein wollen). Für den wegen seiner klugen Kommentare von mir oft vermissten Amos Elon war die perfekte Viersprachigkeit normal: Deutsch war die Kindersprache, Hebräisch die Sprache des Exils, Englisch war die Sprache seiner Berufstätigkeit, Italienisch die Sprache seines nicht ganz freiwillig gewählten Wohnorts in der Toskana. Wenn ich ihn fragte, in welcher Sprache er träume, antwortete er: Ich habe es mir abgewöhnt zu träumen, weil ich gerne durchschlafe. Zu meinem, unserem Glück gibt es nun auch eine Reihe von literarisch interessierten Literaturwissenschaftlern, die die reiche, von den Nazis abgewürgte Geschichte des Jiddischen rekonstruieren und die in jiddischer Sprache geschriebene Literatur zugänglich machen; ich denke vor allem an die editorisch wunderbar aufbereiteten Werke von Mendele, dem Buchhändler, von Moische Kulbak und Scholem Jankew Abramowitsch durch die in Amerika lehrende Susanne Klingenstein; und an die gar nicht genug zu rühmende Studie von Efrat Gal-Ed über den großen Dichter Itzik Manger, Niemandssprache, und die Übersetzung von dessen Gedichten. Jiddisch existiert fast nur noch als akademische Disziplin, nachdem nun die meisten der über die ganze Welt verstreuten Emigranten aus Mitteleuropa verstorben sind. Aber immerhin wird es als eigenständige Kultursprache wahrgenommen und kann an einigen Universitäten studiert werden.
Leider gibt es bei uns weder einer Anthologie jiddischer Poesie (sie ist aber im Entstehen!) noch eine umfassende Anthologie der hebräisch geschriebenen Poesie von den Anfängen bis heute, also von den Psalmen bis Agi Mishol und Yitzak Laor, wie sie in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der israelische Dichter T. Carmi für den Penguin Verlag in New York zusammengestellt und kommentiert hat. Es wäre mir in meinem „deutschen“ Herzen wohl, wenn noch zu meinen Lebzeiten ein solches Buch erscheinen könnte.
Auf den folgenden Seiten will ich ein paar Begegnungen mit (israelischen) (in Israel gestrandeten) jüdischen Dichtern und mit hebräischer Poesie schildern. Ich bin, wohlgemerkt, kein Akademiker. Ich habe nur das Glück gehabt, als Verlagsmensch und Zeitschriftenherausgeber viele in Israel lebende Dichter und Schriftsteller kennenzulernen, und ich denke an keine der Begegnungen mit Schrecken zurück.
Ende der hektischen sechziger Jahre, als alle Welt am Sinn und der Bedeutung von Literatur zweifelte und sich sogar die Deutschlehrer lieber mit der Interpretation der Überschriften der BILD-Zeitung beschäftigten als mit einem Gedicht von Ingeborg Bachmann oder Peter Huchel, erhielt ich an einem Freitag einen dringenden Anruf. Ich weiß noch, dass es ein Freitag war, weil ich eigentlich am Wochenende nach Berlin fahren wollte, um noch zurückgelassene Bücher zu holen, denn natürlich hatte ich bei meinem Umzug nach München die falschen mitgenommen. Ich brauchte meine Bücher von Hofmannsthal und von Rilke, um gegen die Zumutungen der politischen Literatur gewappnet zu sein, die damals im Schwange war. Und ich wollte George wieder lesen, der – wie Rilke – in München gelebt hatte. Der Anrufer musste mich unbedingt an diesem Wochenende sehen, weil es sein letztes Wochenende in Deutschland sei und er am Montag zurückfahren müsse. Ein Israeli; sein Name: David Rokeah, Beruf: Dichter. Michael Hamburger hatte ihn geschickt, der Freund und Hölderlin-Übersetzer und Dichter aus England. Natürlich blieb ich in München, denn nicht nur musste etwas an ihm dran sein, wenn Michael ihn geschickt hatte, sondern ich war noch nie in Israel gewesen und hatte auch noch nie einen israelischen Dichter kennengelernt. Ich war also dementsprechend neugierig. Und schließlich war es der jiddische Sound in seiner Stimme, der mich von Anfang an für ihn einnahm. Aber erst, nachdem ich aufgelegt hatte, dämmerte es mir, wer mich demnächst besuchen würde: denn ich war einer der glücklichen Besitzer der zweisprachigen Poesie-Reihe, die Hans Magnus Enzensberger bei Suhrkamp herausgegeben hatte, die ich auch deshalb so liebte, weil ich in ihr zum ersten Mal in meinem Leben auf den Namen Fernando Pessoa gestoßen war. In dieser Reihe, von der ich sogar wusste, wo in dem herrschenden Chaos sie stand, gab es auch einen Band von David Rokeah, übersetzt von Hans Magnus selber, und von Werner Bukofzer, Erich Fried, Nelly Sachs und Paul Celan. Den las ich von vorne bis hinten – und ganz besonders das schöne Nachwort von Hans Magnus, in dem er die emblematische Natur-Poesie von Rokeah von der deutschen Innerlichkeit unterscheidet –, und als am nächsten Tag David Rokeah vor der Tür stand (es war Samstag, Schabbat), wusste ich alles über den hellen Stein, aus dem Jerusalem erbaut war, und über den dünnen Schatten, den Tamarisken werfen, über die Pinie und den Sand, dessen Körner nicht einmal Gott zählen kann. So begann eine Freundschaft, die bis zu Davids Tod andauerte. Tatsächlich gibt es wohl keinen größeren Unterschied als den zwischen dem geheimnisvoll rauschenden Wald der deutschen Romantik und den vom Wind gezausten Bäumen Israels, und wo in den deutschen Gedichten von Boden, Erde, Krume und Heimat die Rede ist, wo es magisch zugeht und flüstert und wispert und haucht, wird bei Rokeah immer wieder ein Gebiet abgesteckt. Magnus nennt diesen Vorgang eine „Landnahme“.
David war klein, aber kräftig und hatte eine mächtige Haartolle, wie auch Canetti (den David auch kannte, wie ich von Kurt Weiss erfahren habe) sie bis ins hohe Alter hatte. Sein Gepäck bestand aus einer unförmigen prallen Aktentasche, die unsereiner nicht mehr zu tragen wagte (spießig), und mehreren Tüten und Beuteln, wie ich das von Erich Fried oder Robert Jungk kannte (der mir seine Tüten einmal auf dem Flughafen in Berlin überließ, um sich die Schuhe zu binden, dann aber mit einem Bekannten ins Gespräch kam und mich und die scheußlichen Tüten vergessen hatte). Aus diesen Behältnissen zog David Geschenke – ich erinnere mich an eine Spieluhr, wie man sie auf Jahrmärkten kaufen konnte, Kugelschreiber oder auch Schokolade, immer hatte er, der aus der großen Welt kam, etwas für die Kinder dabei, die im Dorf zurückbleiben mussten und sehnsüchtig auf seine Rückkehr warteten. Bis zu unserem letzten Treffen 1985 hatte er an dieser Geschenkzeremonie festgehalten, und manchmal fragte ich mich, was er wohl von Deutschland für seine Kinder zu Hause mitbrachte? Kaum hatte man sich gesetzt, wurde ohne lange Vorreden die unförmige Aktentasche geöffnet, aus der wie eine Schar Schmetterlinge Unmengen von Durchschlagpapier gleichsam hervorbrachen, auf dem er in hebräischer Schrift seine Gedichte notiert hatte. Und ohne lange zu fackeln, nahm er eines dieser feinen Blättchen heraus aus dem Stapel und begann es vorzulesen, dann noch eins und noch eins, und wenn die Blätter auf dem Küchentisch in einer Teepfütze landeten, war das kein Grund für großes Theater. Diese Gedichte waren haltbarer als der Grund, auf dem sie standen. Nach zehn Gedichten hatte ich den Sound im Ohr und den Rhythmus, und dann konnten, nein: mussten wir mit der Arbeit beginnen. Er war ja nicht gekommen, um mit mir beim Tee über die Probleme der Studentenproteste zu reden, über meinen Liebeskummer oder andere randständige Angelegenheiten, sondern um zu arbeiten. Seine Zeit war kostbar. Was auf den dünnen Durchschlagpapieren stand, mochte in einer Sekunde der Inspiration entstanden sein, der konzentrierten Verzückung, wenn dieser petrarkistische Ausdruck erlaubt ist, aber die Übersetzung bedeutete harte Arbeit, und am Montag flog er zurück. Es hatte, offen gesagt, etwas vollkommen Verrücktes, wie wir da an meinem kleinen Küchentisch in der Herzogstraße saßen, ein mir vollkommen unbekannter Dichter aus Jerusalem, Jahrgang 1916, im vielsprachigen Lemberg, am Rand des großen und (leider nur) in mancher Hinsicht liberalen Habsburgerreiches, geboren, das ich natürlich nur dem Namen nach kannte, und ich, der bei jedem Wort fragte und ausführlich Antwort erhielt, weil eines aus der Bibel kam und das andere aus der jüdischen Mystik, und eine Wendung war übernommen aus dem Talmud und eine andere aus dem Midrasch. Davids Großvater war, wie ich nebenbei erfuhr, ein bekannter Kabbalist, so dass der Bub mit der ostjüdischen Tradition wohlvertraut war. Dabei war David alles andere als ein gläubiger Mensch, jede Orthodoxie war ihm fremd, im Gegenteil, nicht nur durch seinen Beruf als Techniker war er in seiner Gegenwart verankert. Aber die Tradition war andererseits das einzige Band, das ihn mit seiner Herkunft, seiner Jugend, seiner Familie, mit seinem kulturellen Milieu verband. Das war seine Schule, die er – so oder so – nicht vergessen konnte. Wahrend es für uns ein Leichtes ist, durch hemmungslose Lektüre auf die Suche nach geeigneten Wahleltern zu gehen, und wir uns entscheiden können, entweder mehr bei Pavese oder bei Baudelaire zu verweilen oder eben doch auf Mörike zurückzugreifen, hatte er „nur“ die reiche, verzwickte und nach komplizierten Regeln des Überlebens organisierte jüdische Tradition seiner Vorfahren zur Verfügung. Sein Kollege Jehuda Amichai etwa, aus Würzburg gebürtig, hatte es da entschieden leichter: Er konnte sich umstandslos auf Heine berufen, den er nicht nur zitieren konnte, sondern den er „draufhatte“ – wie so viele Emigranten mich oft genug beschämten, wenn sie ellenlange deutsche Gedichte auswendig hersagen konnten. Das kennst du doch sicher? pflegte Marcuse zu sagen, ja, natürlich, war meine Antwort, wobei ich hoffte, dass ich es nicht rezitieren musste.
Wie lange saßen wir da wohl zusammen wie zwei Bibelgelehrte über der Heiligen Schrift? Am Abend wollte ich ihn zum Essen einladen, um ihn nun endlich über seine Herkunft und über Israel auszuquetschen, aber er wollte nicht. Er schien sich bei mir zwischen all den nur halb ausgepackten Bücherkisten wohlzufühlen. Also kochten wir Reis und Gemüse, er trank Wasser, ich Wein, und plötzlich fielen ihm buchstäblich die Augen zu. Also rollte er sich auf dem Sofa zusammen (wenn dieser Ausdruck für das ausgeleierte Möbel erlaubt ist), zog sich die Decke über den Kopf und war schon eingeschlafen, bevor ich das Zimmer verlassen hatte.
David war erstaunlich. Er war noch zu k.-u.-k.-Zeiten in Lemberg auf die Welt gekommen, zu Hause wurde Polnisch, aber vor allem Jiddisch gesprochen, auf der Straße hatte er Deutsch und in der Schule Englisch gelernt; eben eines dieser begabten mitteleuropäischen Kinder, die Hitler und seine deutschen Anhänger ausrotten wollten, weil von ihnen angeblich eine große Gefahr ausging, besonders für das sogenannte Deutschtum. Und natürlich auch für die deutsche Dichtung. Was für unsere Eltern noch unmittelbare und in manchen Fällen blutige Erfahrung war, war für mich, gerade noch im Krieg geboren, aber im Frieden aufgewachsen, unbegreiflich. Ich konnte mir den Hass, die Blutgier, die Feindseligkeit nicht vorstellen. Offen gesagt, kann ich das bis heute nicht. Nach wie vor glotze ich fassungslos im Fernsehen auf die Bilder von Leichenbergen, die das 20. Jahrhundert in schöner Regelmäßigkeit aufgeworfen hat, und auf die zufrieden dreinblickenden Soldaten am Rand, die nur ihre Arbeit getan haben.
Ich habe mir manchmal vorzustellen versucht, was aus diesen Dichtern von der Peripherie des Habsburgerreiches ohne Hitler (und unsere Eltern) geworden wäre. Waren sie, wie Kafka und Zweig und Werfel oder Rilke und Freud und all die anderen auch, weltberühmt geworden? David wanderte 1934 nach Palästina aus, wie es so leichthin heißt, mit achtzehn Jahren, die Mitglieder der Familie und die Schulfreunde, die noch eine gute Meinung von den Deutschen hatten und sich das Schlimmste nicht vorstellen konnten, wurden in Auschwitz umgebracht. Als Handlanger und Gelegenheitsarbeiter hat er sich von Sommer zu Sommer durchgeschlagen, beim Straßenbau wurden Leute gebraucht und beim Apfelsinenpflücken, dann wurde er Elektroingenieur und arbeitete schließlich für einen größeren Betrieb, für den er einmal im Jahr nach Europa fahren musste. Diese Reisen benutzte er, um seine Freunde in London, Paris, Genf oder Berlin zu treffen und mit ihnen zu arbeiten, und irgendwie haben sich offenbar alle die Zeit genommen, mit ihm seine wunderschönen, manchmal elegischen, dann wieder das Licht und die Luft preisenden Gedichte, die eigentlich alle versteckte oder offene Liebesgedichte sind, zu übersetzen. Nach welchen Gesichtspunkten er die Übersetzer, die ja allesamt kein Hebräisch konnten, auswählte, weiß ich nicht; nur manchmal ließ er durchblicken, dass schon ein anderer Nudnik sich an diesem einen Gedicht versucht hätte, aber nicht zu Davids Zufriedenheit. Da musste man noch einmal nacharbeiten. Aber da er von entwaffnender Offenheit war, konnte man sich auch nicht ausgenützt fühlen – man arbeitete eben in einem großen Kollektiv, das über ganz Europa verstreut war, an der deutschen Fassung der hebräischen Verse von David Rokeah aus Lemberg. Aber waren es „osteuropäische“ oder gar israelische Gedichte? Ich glaube, die fragile Kraft, die seine Verse bei aller Traurigkeit ausstrahlten, kam aus diesem Zwischenreich zwischen Herkunft und Gegenwart. Wunderbar sind, das will ich nicht vergessen zu erwähnen, die Vertonungen von Davids Versen durch den Schweizer Komponisten und Oboisten Heinz Holliger, der dieses Zwischenreich zwischen den Kulturen auf besondere Weise hörbar gemacht hat.
Als Rachel Salamander 1982 ihre dem jüdischen Dichten und Denken gewidmete Literaturhandlung in der Fürstenstraße in München eröffnete, lud sie David (und mich) zur ersten Lesung ein. Ich werde nie vergessen, wie wir etwas zu früh in die Straße einbogen und zufällig sahen, wie ein Mann in seinem parkenden Auto eine Waffe justierte, ein kompaktes Ding, so etwas wie ein stupsnasiges Gewehr. Eine nicht gerade beruhigende Szene. Gilt das uns? fragte David, der sich mit Waffen besser auskannte als ich Peacenik, und beschleunigte seine Schritte, während ich mir Mühe gab, so zu tun, als sei so etwas auf unseren Straßen mittlerweile selbstverständlich. Es war ein Polizist in Zivil, der auf Rachels Laden und auf uns aufpassen sollte, weil damals durchaus damit zu rechnen war, dass einem gnadenlosen Irren es nicht in den Kram passte, dass in der ehemaligen Hauptstadt der Bewegung eine Buchhandlung für das Judentum existieren sollte. David las in der rappelvollen Buchhandlung (an deren Wänden Rachel die Aquarelle des Poeten aufgehängt hatte) seine Gedichte, ich las die Übersetzungen von mindestens zehn deutschen Übersetzern, von Nelly Sachs bis Paul Celan; damit war die Buchhandlung, die bis heute existiert, eröffnet; und leider hat sich auch der Antisemitismus so lange gehalten.
Auf eine verwickelte Weise ist es richtig, dass David Rokeah, der zunächst jiddisch, dann hebräisch schreibende Dichter aus Jerusalem, während einer Lesereise 1985 in Duisburg gestorben ist. Er liebte, so seltsam es klingt, Deutschland. Er war viel mehr als wir davon überzeugt, dass sich die Deutschen geändert hätten. Übersetzungen seiner Gedichte waren auch in anderen Ländern und Sprachen erschienen, aber in keinem Land war er der israelische Dichter seiner Generation. Und während seine Gedichte in Israel in zweihundert Exemplaren verbreitet waren, wurden sie in Deutschland in den angesehensten Verlagen veröffentlicht.
Als ich viele Jahre später nach Israel reiste und die Auszeichnung „Friend of Jerusalem“ erhielt, sprach ich im Rathaus, das aus dem hellen Sandstein erbaut ist, aus dem auch die Gedichte Davids bestehen, über den kleinen exzentrischen Dichter aus Lemberg – aber außer Rachel kannte ihn schon keiner mehr. Deshalb soll hier wenigstens ein Gedicht von ihm stehen:
PAUL CELAN
Als Paul Celan nach Jerusalem kam
verstreuten sich die Schlüsselworte seiner Gedichte
zwischen dem Tor des Erbarmens
und dem Tor der Löwen
und kehrten nicht zurück zu ihm
bis zum Tag seines Todes
Manchmal, in Jerusalem,
sehe ich ihn streicheln
das schwarze Haar eines jemenitischen Mädchens
und seine großen Augen
sprechen aus die Trauer einer versäumten Liebe
Die Worte, die er zusammenfügte
wie in einem Notarikon
die Stürme, die sich heraufziehen
zwischen den Worten
und den Warnzeichen an der Wand
und das Verstummen dann
und das Gedicht dann
(…)
Michael Krüger, aus Michael Krüger: Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen, Suhrkamp Verlag, 2023
erkenntnisreich, danke