STRAFE MACHT FREI, DISZIPLIN STEHT IN’S HAUS
alle schleusen offen, ob das alles noch ofen hat
die plejaden versacken, die schlagbäume gehen hoch
das große mondjahr ist rum, die kommentare sind übrig
die deutschen überschagen sich, legen sie sich zusammen
oder hauen sie sich in die pfanne, bzw. den rest der welt
die untoten roten öffnen die arme, volksfest ohne erbarmen
jeder ausrutscher ein deutscher, sektgaben, freibier & gratis-sex
nichts bereuen & alles obendrein, dies ist der totale mumienschanz
Bert Papenfuß
ist eine abgeschlossene historische Epoche. Was bleibt haben auch die Dichter gestiftet. Der Prozeß der staatlichen Auflösung und gesellschaftlichen Umstülpung zwischen dem Herbst 1989 und dem Herbst 1990 war kurz und heftig. Für die kurze Zeit des Runden Tisches schien die DDR (entsetzlicher Gedanke!) zur Räterepublik zu werden; aber ehe der Schein dieser Radikalität Realität hätte werden können, begann die Annexion durch den real existierenden Kapitalismus. In dieser Zeit entstand die vorliegende Anthologie. Im aktuellen Wirbel liest sich die Lyrik aus den vier Jahrzehnten sozialistischer/unsozialistischer Gesellschaft irritierend neu. Reaktionen darauf, wie Nostalgie auf der einen und inkriminierender Hochmut auf der anderen Seite, im Feuilleton Tagesordnung, verboten sich von selbst. Unser Interesse gilt Gedichten, die das Politische nicht nur als bloßen Widerpart begreifen, sondern sich existentiell und ästhetisch mit der politisch reflektierten Realität verschränken.
Das Lebendige an der Kunst ist die Differenz zur Politik – das Kunstwerk weist sowohl auf den Terror der Verwirklichung als auch auf das Unwirkliche hin. (Heiner Müller)
Die Gedichte bewegen sich an der Nahtstelle zwischen dem Anspruch auf immanente Veränderung der Gesellschaft und fundamentaler Kritik. Die Arbeit, im Spagat, die Pole dieses Widerspruchs zusammenzuhalten: eine Arbeit der Sprache, bleibt unvollendet und vermittelt sich dem Leser als Aufgabe. Die Sprache bricht Illusion und Ideologie, der Blick fällt durch Eis; doch darunter fließt ein Wärmestrom, gespeist aus einer nicht erkannten Quelle. Unsere Auswahl verfolgt nicht das Ziel, einen Überblick zu verschaffen, „repräsentativ“ zu sein, schon gar nicht in dem Sinn, wie Sammlungen in der DDR unter den Bedingungen von Zensur und diplomatischer Rücksichtnahme sich verstanden oder verstehen mußten. Sie ist einseitig. Das Hohe Lied der Stagnation oder das Gedicht der gesellschaftlichen Nische oder der verächtlich zynische Abgesang auf den untergehenden Staat: das fehlt. Die andere deutsche Sprache, die uns interessiert, wird gesprochen von Autoren, die nicht einen Glauben an Fortschritt verdichten, aber an einer Hoffnung festhalten: „Keiner oder alle“, die nicht ideologische Gewißheit verbreiten, sondern die Sinne schärfen für das ungelebte Leben, für das historisch Uneingelöste. Diese Sprache fanden wir vor allem bei Dichtern, die in den dreißiger Jahren geboren sind: sie haben den Aufbruch in ein neues Deutschland wie die staatliche Pervertierung eines Menschheitstraums bewußt erfahren. Ihre Gedichte drängen nicht nur auf gesellschaftlich eingreifendes Handeln, sondern spiegeln auch die individuelle Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Staat. Fast bei jedem der Autoren kam es zu einem Bruch, innen oder/und außen. Die Widersprüche zerreißen den Autor und sein Gedicht. Wie der Bruch jeweils vollzogen wurde, ist auch eine Charakterfrage. Aber daß solche Brüche der Sprache eingeschrieben bleiben, steht außer Frage. Nachdem ein ganzer Parteitag der unsozialistischen Partei (der VII., 1967) sich wie ein Mann, nein wie eine ganze SA-Kaserne brüllend gekrümmt hatte unter den Witzen eines fetten Komikers, der fälschlich Quermann hieß, Witzen über die Dichter Stephan Hermlin und Günter Kunert, natürlich zwei Juden: nach diesem Ereignis wurde Kunert ein besserer Dichter, alle Anstrengung der Affirmation fiel ab von ihm; Hermlin war als Lyriker schon lange vorher verstummt. Oder Arendt: seit 1926 Mitglied der KPD, hat er in seinen letzten Lebensjahren, in einer kleinen Ladenwohnung auf dem Prenzlauer Berg, schallend gelacht (so wird erzählt), wenn das Wort Geschichte fiel. Seine Gedichte der sechziger Jahre sind der schwarze Untergrund dieses Gelächters. Also haben wir die Gedichte nicht angeordnet nach „historischen Perioden“, sondern das biografische Moment akzentuiert. Was wir an Gedichten aus der DDR aufheben wollten, hat zu tun mit der Realität konkreten Lebens.
Die Herausgeber, Vorwort, September 1990
1
Wer das Sammeln und Montieren einzelner Gedichte als seriöses Handwerk betreibt, muß sich einem besonderen Reiz hingeben: der von Pierre Bourdieu bezeichneten „Verabsolutierung der Verschiedenheit“ in Sachen Geschmack. Alles andere wäre Selbsttäuschung. Die Zeiten, in denen Anthologien als Kompendien lyrischen Sprechens einer abgeschlossenen Epoche Ewigkeitsanspruch erheben konnten, sind längst vorbei – was eine zeitgenössische Lyrikanthologie ausmacht, sind oftmals die Lücken: Kein Vorwort, in dem sich die Sammlung an der Mutter aller Florilegien, dem Kranz des Hellenen Meleagros von Gadara, mißt; kein Nachwort, in dem der Anspruch auf Vollständigkeit noch erhoben wird. Eine einzige Lyrikanthologie kann sich der Vielfalt einer poetischen Landschaft nicht mehr stellen. Vielmehr dienen die aus ihren vorgesehenen Kontexten gerissenen Gedichte als Illustrationsmaterial. Die Auswahl unterstützt, was durch Generations-, Stileinteilung oder Thesen vorneweg konstatiert worden ist, und behauptet sich durch diese Funktionalisierung, die von den „Konkurrenten“ gekontert und abgelöst werden darf. Nur auf diese Weise ist heute – so Bourdieu – Kulturvermittlung möglich.
Das bekannteste Beispiel dieser Funktionswandlung findet sich in Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung:
Der Herausgeber dieses Buches ist ein Gegner von Anthologien; – deshalb gibt er diese Sammlung heraus.
Pinthus sah sich 1920 außerstande, einen „Kranz“ aus expressionistischen „Blumen“ zu flechten, wollte statt Totalität eine Melange unterschiedlicher Dufttöne anbieten. Sein Kreuzzug gegen den Vollständigkeitsanspruch schmückte sich mit der an der Ästhetik der Avantgarde geschulten Kategorie des Bruchs. Nicht nur die Position des lyrischen Ichs oder des einzelnen Lyrikers, sondern auch die des Anthologisten geriet ins Wanken, er mußte die Lücken eingestehen, ja ästhetisieren, um den fragmentierten Textkorpus noch am Leben erhalten zu können. Er fürchtete das Mittelmaß des Geschmacks, dessen ästhetischer Tiefpunkt sich in der Kolportageliteratur à la „Gartenlaube“ und „Reader’s Digest“ erblicken läßt. Hermann Kesten bekräftigte 1963 Pinthus’ Standpunkt mit seiner zweibändigen Sammlung Europa heute. Prosa und Poesie seit 1945. In den Anmerkungen unterstrich er die Liberalität seiner Auswahl: Was fehlte, würde eine neue Sammlung ergeben, wofür ein anderer die Verantwortung übernehmen sollte, versteht sich. Dem Staffellauf der sich gegenseitig ausschließenden Auswahlen stand nichts mehr im Wege.
2
Zwei im Sommer 1990 fertiggestellte Sammlungen mit in der DDR geschriebener Lyrik setzen diese Stafette fort und unterstützen damit Bourdieus These von den feinen Unterschieden. Ein Blick in die Vor- und Nachworte lenkt die Aufmerksamkeit auf die Herausgeber-Intentionen. Die als „Gedichtband“ bezeichnete Textsammlung DEUTSCH in einem anderen LAND stellt (so der Untertitel) Die DDR (1949–1990) in Gedichten vor, will aber nach Angabe der Herausgeber Rüdiger Mangel, Stefan Schnabel und Peter Staatsmann nicht repräsentativ, sondern einseitig sein. Auch Peter Geists „Vor-Sätze“ seines „Lesebuchs“ der ostdeutschen Lyrik der siebziger und achtziger Jahre mit dem anarchisch anmutenden Titel Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante werden zu Negativ-Sätzen: Er will den Zeitabschnitt nicht vollständig dokumentieren. Es sollen keine Anthologien im ursprünglichen Sinne sein – schon die Charakterisierungen beider Sammlungen deuten auf das gemeinsame Bedürfnis hin, den Mut zur Lücke explizit unter Beweis zu stellen. Nicht Repräsentation, sondern eigenwillige Präsentation kennzeichnet die Auswahlkriterien. Und in der Tat, es kommt zu nur wenigen Textüberlappungen: Zwar treten bei Heiner Müller, Richard Leising, B.K. Tragelehn, Wolf Biermann, Kurt Bartsch, Volker Braun, Bernd Jentzsch und Thomas Brasch Dopplungen auf, jedoch nur mit höchstens drei Gedichten. Günter Kunert, Adolf Endler, Rainer Kirsch, Karl Mickel und Bert Papenfuß-Gorek sind in den beiden Sammlungen mit unterschiedlichen Gedichten vertreten. Diese auffällige Parallelität lehrt nicht nur, daß sich über Geschmack wirklich streiten läßt, denn das Lob der Differenzen in den beiden während der Wendezeit vorgelegten Ausgaben beschränkt sich nicht auf alternative Selektionen aus dem Kanon der DDR-Poesie. Wichtiger als die „Verabsolutierung der Verschiedenheit“ in der Textauswahl scheint mir das funktionale Moment, das in der Einseitigkeit der neuartigen Kontextangebote angelegt ist. So werden die überwiegend bereits veröffentlichten Gedichte in DEUTSCH in einem anderen LAND zum Beispiel in Beziehung zu Heiner Müllers Theaterstück Germania Tod in Berlin gestellt und kreisen als krisenbeständige Wortmeldungen (von Bert Brecht bis Bert Papenfuß-Gorek) um die in Müllers Stück von 1956 bis 1971 „besichtigten“ historischen Schauplätze Berlins. Die diesem Rahmen diachron zugeordnete Textreihe von achtzehn Autoren zeigt, daß diese ihre Feder in den sich häufenden Krisenzeiten nicht austrocknen ließen, sondern eher spitzten. In Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante befinden wir uns, zusammen mit neunundneunzig Lyrikern, in einem ganz anderen Areal, und zwar beim Besuch in der Werkstatt Jüngerer – nein, nicht nur im Prenzlauer Berg. Peter Geist durchbricht nämlich die Selbstgenügsamkeit jenes scheinbar geschlossenen „Szene-Interieurs“, indem er das subkulturelle Umfeld durch meist synchron angelegte lyrische Korrespondenzen mit der Poesie der Älteren bzw. mit der von der „Szene“ ausgeschlossenen Gleichaltrigen ergänzt.
Die Herausgeber funktionalisieren lyrische Texte; um zwei Lesarten von Geschichte anzubieten. In ihrer Einseitigkeit büßen sie jene Lücken, die die auf ihre Weise ebenso einseitige offizielle DDR-Historiographie hinterlassen hat. Nicht nur, indem sie die Biographien einiger zeitweilig totgeschwiegener Autoren (u.a. Bernd Jentzsch, Lothar Trolle und Frank Lanzendörfer) zum Leben erwecken, sondern unterschiedliche Wirkungsbereiche von Lyrik ausprobieren. Sie setzen die These von der Literatur als besonderer Form der Geschichtsschreibung in die Praxis um, und zwar in einer Zeit, in der die Gefahr droht, daß im Zuge einer von Archivierungswut begleiteten Vergangenheitsbewältigung eine untergegangene, jedoch unvollständig ausgeleuchtete Epoche deutscher Geschichte ad acta gelegt wird. Die Anthologisten lassen das lyrische Sprechen sich innerhalb unterschiedlich ausgefüllter, „konkurriender“ Bezugsfelder bewegen, woraus hervorgeht, daß es mehrere Geschichten der Lyrik aus der DDR zu schreiben gilt. Die Bemühungen der Sammler und Monteure, die Texte in unterschiedlichen Kontexten wirken zu lassen, wird – im nachhinein – von einem übergeordneten Kontext begleitet. Gemeint sind die 1990 und 1991/92 öffentlich ausgetragenen „Streitereien“ um Christa Wolf und Sascha Anderson, die aus der historischen Distanz – also von heute aus – gesehen mit dem neuen Lyrik-Angebot konfrontiert werden können. Obwohl beide Debatten sich nur schwer vergleichen lassen und einmal von Journalisten, ein andermal von den betroffenen Autoren selbst initiiert wurden, ist ihr Ausgang identisch: Ein Riß teilt das „Kulturschutzgebiet DDR“ (Bohrer) in hie Opposition und da Affirmation. Diese Bipolarität hat mit Literatur nichts mehr zu tun, vielmehr wird nach dem persönlichen Umgang mit der Macht gefragt. Die Notwendigkeit dieses Outings soll nicht in Frage gestellt werden, wohl aber die daraus resultierenden erschreckend banalen Pauschalverurteilungen, wodurch kulturelle Leistungen aus der DDR zum Anachronismus zu verkommen drohen. Die Konfrontation der eigenwilligen Konstellation ostdeutscher Artefakte von Geist und Mangel et al. mit der (später einsetzenden) Fixierung auf eine kulturelle Zweiteilung könnte neue Lesarten evozieren. Um dem immer häufigeren Wunsch nach neuer Lektüre der „Vor-Wende“-Literatur aus der DDR entgegenzukommen, lasse ich, zumindest was die Lyrik betrifft, die beiden Textsammlungen ins Handgemenge eingreifen: Aus meiner Lektüre einiger Texte in beiden Sammlungen entnehme ich, daß sich während der Wende eine Kontinuität lyrischen Sprechens in der brüchigen, an manchen Stellen bereits gebrochenen deutschen Kulturlandschaft durchsetzte.
(…)
4
Die Sammlung von Mangel, Schnabel und Staatsmann ermöglicht Vergleiche auf diachronischer Ebene und gibt Einblicke in die Brüche und Kontinuitäten eines Œuvres. Wir können Sprünge über die als Bruch affichierte Wunde wahrnehmen, etwa die von Volker Braun. Neu im Band ist das Gedicht „Das Eigentum“, das 1990 im Neuen Deutschland und in der Zeit erschien – damals noch als „Nachruf“. Es thematisiert jenen Umbruch in seiner Entstehungszeit und vermittelt eine individuelle Bewußtseinslage, nachdem die Medien ein karnevalistisches Bild vom Fall der Mauer überlieferten. Der 9. November 1989 zeitigte neben Freude vor allem auch Schockwirkung, weil das durch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Krisen erzeugte Vakuum abrupt freigelegt wurde. Das lyrische Ich in Brauns Text ist dem Schock ausgesetzt: Unter fast laborartigen Bedingungen kollidieren die Pole des Eigenen („mein“) und des „Anderen“ auf engstem Raum. Was das Gedicht interessant macht, ist nicht der Bericht über den wahren Ablauf der Geschichte, sondern die Gegengeschichte, die zur Gretchen-Frage provoziert:
Wie hält Braun es mit der Wende?
Das Abbröckeln des Kontextes DDR verursacht Unsicherheit, diese wiederum mündet in die mittlerweile oft zitierte Verszeile „Und unverständlich wird mein ganzer Text“. Der Text, „Das Eigentum“, wird in der Ausgabe DEUTSCH in einem anderen LAND mit einem drei Jahre älteren Text, „Das Lehen“, konfrontiert:
DAS EIGENTUM
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text.
Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
Volker Braun, 1990
DAS LEHEN
Ich bleib im Lande und nähre mich im Osten.
Mit meinen Sprüchen, die mich den Kragen kosten
In anderer Zeit: noch bin ich auf dem Posten.
In Wohnungen, geliehn vom Magistrat
Und eß mich satt, wie ihr, an der Silage.
Und werde nicht froh in meiner Chefetage
Die Bleibe, die ich suche, ist kein Staat.
Mit zehn Geboten und mit Eisendraht:
Sähe ich Brüder und keine Lemuren.
Wie komm ich durch den Winter der Strukturen.
Partei mein Fürst: sie hat uns alles gegeben
Und alles ist noch nicht das Leben.
Das Lehen, das ich brauch, wird nicht vergeben.
Volker Braun, 1987
Die vom „Gefühlsstau“ ausgelöste Selbstbefragung artikuliert sich in einem „Zeitstau“, in dem Bilder aufeinandertreffen und sich aneinanderreihen. Erinnerungen blitzen auf. Diese explosion of a memory evoziert den Schock, der das Ich beim Anblick des Bruchs hilflos erscheinen läßt, ja lähmt:
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
„Das Eigentum“ vermittelt aber nicht nur den plötzlichen, schmerzvollen Abschied, sondern setzt ein Programm fort: Nicht umsonst korrigierte Braun den Titel. Mit dem Vers „Und unverständlich wird mein ganzer Text“ verweist er einerseits auf den gebrochenen Kontext, andererseits auf sein gesamtes, als kontinuierlichen Text verstandenes Œuvre. Das zeigt die Korrespondenz der beiden Anfangszeilen: „Ich bleibe im Lande und nähre mich im Osten“, heißt es 1987 – „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen“, 1990. Die Bezugnahme auf den Vortext macht deutlich, daß das Ich sich in den drei Jahren in ein „Lehen“ bzw. „Eigentum“ verschanzt und eingerichtet hat, aus dem es nicht hervorzulocken ist. Diese „Bleibe (…) ist kein Staat“, wie Braun betont, sondern ein sprachlicher Bewegungsraum, in dem die Abbrucharbeit des Textes geleistet wird. Höhepunkte dieses Repertoires vorübergehender Bemühungen liegen in den Texten, die um die beiden Theaterstücke Die Übergangsgesellschaft (1987) und Transit Europa (1988) kreisen. Zu ihnen gehören auch die Materialtexte aus den drei Zyklen „Der Stoff zum Leben“. Die Devise des dem zweiten Zyklus zugeordneten Gedichtes „Burghammer“ lautet:
Hier ändre ich die Welt
Hier kann ich es.
Die gelungenen Handlungen des lyrischen Subjekts scheinen sich ausschließlich auf literarische Sujets zu beschränken, die Enge und Begrenztheit, etwa des Tagebaus Burghammer in der Niederlausitz, aufzeigen. Burghammer wird zur Metapher für jene Regionen, in denen altes Sprachmaterial herangeschleppt und durchwühlt wird, so daß der Autor sein Eigentum, sprich: Text, selbst „auf die Kralle“ bekommt. – Ein Akt der „Selbstzerfleischung“, wie Uwe Kolbe das nannte. Wollte Braun in den sechziger und siebziger Jahren dem Stillstand der Geschichte im Großraum DDR entgegenarbeiten, so begnügt er sich Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre mit einer abgesteckten Landschaft, in der fast nur noch die eigene Stimme ertönt.
(…)
Gerrit-Jan Berendse, Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1992
– Die DDR in Gedichten: Eine Anthologie literarischer Selbstbehauptungen. –
Achtzehn Autoren werden präsentiert auf 175 Seiten, im wesentlichen ein Freundeskreis unter Inanspruchnahme dreier Altvorderer: Bert Brecht, Erich Arendt, Peter Huchel. Sie figurieren als Leitbilder im weitesten Sinn; bleiben übrig fünfzehn Autoren. Kurzbiographien, Anmerkungen, ein Vorwort und ein Quellenverzeichnis bereichern die Auswahl, die ausdrücklich auf Vollständigkeit keinen Wert legt. An nicht aufgenommenen Arbeiten von Franz Fühmann, Georg Maurer, Sarah Kirsch, Johannes Bobrowski, Kito Lorenc, Thomas Rosenlöcher, Wulf Kirsten, Stephan Hermlin, Reiner Kunze, Walter Werner, Elke Erb, Wilhelm Tkaczyk, Uwe Greßmann, Heinz Czechowski, Lutz Rathenow – zum Beispiel wäre DEUTSCH in einem anderen LAND, so der Titel der bemerkenswerten Publikation, gleichermaßen deutlich geworden.
Schön, aus vollem schöpfen zu können. Die DDR (1949–1990) in Gedichten heißt das Buch im Untertitel. Entsorgung, ein Nachruf? Behüte. Ohne die Gabe der Prophetie strapazieren zu müssen: Probleme und Konstellationen, die diese Gedichte hervorbrachten, werden eine Fortsetzung finden, sicher in reichlich modifizierter Gestalt. Zumal die Biographie bei Lyrikern, stärker als in anderen literarischen Genres, zum Werk dazugehört. Die Sammlung entstand im Zusammenhang mit der Inszenierung von Heiner Müllers Germania Tod in Berlin an der Freien Volksbühne Berlin. Drei Herausgeber wurden tätig, B.K. Tragelehn, als finessenreicher Poet in der Sammlung vertreten, gab „wesentliche Anregungen“. Ist eine kleine Arbeit auf so viele Schultern gerecht verteilt, bleibt zuversichtlich zu hoffen: niemand hat sich überhoben.
Die Dichter und ihre Texte sind vielfach interessierten Lesern seit Jahren bekannt, einzig vielleicht Lothar Trolle stellt sich einem wünschenswert größeren Publikum als streitbarer Poet vor, mit vier schroffen Gedichten, dem bisherigen lyrischen Gesamtwerk (besonders prägnant und gegensätzlich „Walter Ulbricht und ich“). Problematische Existenzen, auf Schlimmstes gefaßt – wie wären sie sonst Dichter? –, geben in allerlei Verkleidungen, Maskierungen, Verschlüsselungen, in Gleichnissen, Bildern, Zitaten von haufenweise heiklem Bildungsgut, aber auch höchst direkt und zupackend mit wacher Intelligenz Auskunft über vierzig DDR-Jahre, halten Sein und Befinden der Gesellschaft, ihre Gesittung in dieser nun leidlich überschaubaren Zeit erinnerbar.
Es findet sich Wesentliches, Allmähliches, Plötzliches, Langweiliges, Kurzweiliges, Leerlauf, Krisen, Katastrophen, Frust, Visionen, Alpträume, Allotria und der Umgang damit. Verbriefte sensible Selbstversuche und -behauptungen, Auskünfte von Fremdgefährdungen, Unangepaßtheiten, Grabenkämpfen. Bei Adolf Endler gibt es die ungeheure Umgetriebenheit im Poetischen zu bewundern, den stattlichen Wurf, nichts da von behaglichem Eingewöhnen, keine Idyllen, Lauheiten; ein Ausstellen der Aggressivität in konturenscharfen Botschaften. Selbstverständlich darf in der Kollektion Wolf Biermann schwerlich fehlen, seine Ergießungen sind von gewohnt effektvoller Qualität. Singen und Sagen lassen das Herz nicht zur Mördergrube entarten. (Auffallend: „Vier Versuche, mit den alten Genossen neu zu reden“.) Seltsam nobel, blank und lebendig anrührend die Gedichte von Inge Müller (Freitod 1966) und Richard Leising. Allein die paar Seiten, die ihr Werk in dieser Anthologie beansprucht, lohnen die Anschaffung. Heiner Müller, der, wie erwähnt, mit seinem wunderlichen Stück den Vorwand für das Buch lieferte, beteiligt sich hier lyrisch. Meisterlich akribisch gemeißelt die vernunftpredigenden Verse von kalter Klassizität. Der Grundton ist tragisch, grimmig, zynisch. Der alte Heinrich Voß hätte, Müllers asketische Bosheit und fäkalischen Humor übersehend, ihm unbesorgt den Kranz gereicht. Kurt Bartschs distanziert skeptische Stimme ist leise, sie bereichert das Ensemble wesentlich. Innerer Widerwille gegen beinah alles und jedes, Witz und Vergnügen, anderen eine Nase zu drehen, pendeln famos ineinander.
Wenn Hilde, meine Frau, an die Macht kommt
Stelle ich meinen Ausreise-Antrag.
Oder:
Wir gruben die Stadt aus mit bloßen Händen.
Jetzt steht die Stadt. Ich bin eine Ruine.
Bernd Jentzschs ambivalente Dialogversuche haben Redlichkeit und Geist zu artigen Sekundanten; Güte. Ein schwaches Sentiment und so sind seine Hervorbringungen. KarI Mickels Gedichte gleichen mehrheitlich Kindergeburtstagen, sie beginnen gesellig rührend und enden fatal. Elegisch minutiös sprechen die Erklärungsmuster und Stundenpläne von Gefährdungen und Gefahren, anstößig Gespenstischem und Gespensterglauben, schlotternder Verstörtheit, Hell-dunkel-Stimmungen. Hauptsächlich am lyrischen Spätwerk von Goethe ist viel gelernt und aufgearbeitet. In Klopstocks „Gelehrtenrepublik“ gebührte diesem deutschen Hochschullehrer ein Bunkerstühlchen.
Die von Bert Papenfuß-Gorek für sich intelligent kultivierte Rätselgestalt des Gedichts, das schrullig genußvolle Spiel mit Paradoxen, die das Unbefriedigende der eigenen Existenz, die Reibungsflächen zwischen sich und der Welt ermitteln und zuverlässig entzifferbar über das persönliche Wünschen, die eigene Hypochondrie hinaus chic ausstellen, enden nicht perplex mit vierzig Jahren DDR. Bei Kurt Schwitters, Ernst Jandl fände man Fußspuren von Papenfuß-Gorek: „fortschreiten möchte man / und zwar möglichst fort“ „soziale marktmonarchie“.
Rainer Kirschs frühe Gedichte wirken brisanter, dynamischer, dickköpfiger denn seine heutigen gemäßigten Produktionen, die entfernt wie aus den Hauspantoffeln des berühmten August Graf von Platen-Hallermünde geschaffen anmuten. Das beweisen die Herausgeber schlüssig. Da die Sammlung keinen Wert auf irgendwelche Vollständigkeit legt, so tut es diese Empfehlung erst recht nicht. Selbstredend ist das Lesen (Wiederlesen) der gedankenvollen Beiträge von Thomas Brasch, Volker Braun und Günter Kunert anregend und gewinnbringend. Ihr Erfahren, Schauen, Verknüpfen, Entdecken, Erfinden, Zählen, Messen, Wägen waren und sind ihnen und ihren Lesern Heimat und Fluchtpunkt, Herberge, Schlitz und Zeichen der Selbstbehauptung. Wie schrieb Heinrich Mann?
Kampf allein tut es nicht, was bleibt denn von den Kämpfen. Fortzuleben verdienen die schönen Werke und fordern, daß ihrer gebrechlichen, bedrohten Ursprünge gedacht wird.
Aha.
Eckhart Krumbholz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.5.1991
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