Die eigene Stimme

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Die eigene Stimme

Die eigene Stimme

ERFÜHLUNG

des wir gewahr werden
sind wir gewarnt
die ohren hörig
nach aller verheissung
süchtig das auge
nach dem augenschein
bedeuten wir nichts
da wirs nicht fassen
wenden, denn wenn
der sinne gesundheit
uns tröge, trüge
was wir ersinnen
sich wirklich zu
so wäre zu schicken
uns gewissen bestimmt
ins gebenedeite
und unsere sendung
empfänger bezahlt.
unruhig jedoch
nach aller verheissung
zutiefst bewegt
von jedem augenschein
deuten wir alles
um und für uns
es warm zu machen
trägt das ersonnene
sich wirklich zu
je nach geschick
kehren wir um
kommen wir an
adresse unbekannt
erfühlens, erfüllens

Stefan Döring

 

 

 

Auf den Leser zugeschrieben

– Vier Jahrzehnte in einer Lyrik-Anthologie. –

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.

Dieses Brecht-Gedicht über „Vergnügungen“ kann man nach eigenem Gusto weiterführen. Zu finden ist es ziemlich am Anfang des über 400 Seiten starken Bandes „Die eigene Stimme“, mit dem Gedichte aus vier Jahrzehnten unserer Republik vorliegen (Aufbau-Verlag). Beabsichtigt ist „die Spiegelung der gewachsenen Strukturen und Veränderungen, eine Dokumentation literarisch relevanter Leistungen aus heutiger Sicht“, wie die Herausgeber Ursula Heukenkamp, Heinz Kahlau und Wulf Kirsten im Vorwort erklären.
Lese-Vergnügen, verbunden mit dem des Nachdenkens, auch des Sicherinnerns, stellt sich beim behutsamen Erkunden dieses Lyrik-Gebirges mit seinen weit über 300 Gedichten ein. Schon rasche Streifzüge lassen Kraft und Schmerz, Weisheit und Frohsinn, Widerspruch und Ermutigung, Warnung und Besinnung, Zärtlichkeit und Trauer empfinden. Und man möchte diesen flüchtigen Eindruck vertiefen. Gedächtnis beschwören — wie sich gesellschaftliche und individuelle Entwicklungen vollzogen — ist ein von dieser Anthologie ausgehender Impuls, natürlich vorrangig von Zeitzeugen wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Louis Fürnberg, Georg Maurer, René Schwachhofer. „Abschied und Wiederkehr“ (Becher) gibt den Auftakt, und ganz lebendig wirkt in uns sein „Friede, Friede sei auf Erden / Menschen wollen Menschen werden“ aus „Im Frühling“.
„Frühling wurd’s im deutschen Land“, so beginnt auch Brechts geißelnde Darstellung faschistischer Menschheitsverderber „Anachronistischen Zug oder Freiheit und Democracy“. Für den jüdischen Dichter Isaak Babel schrieb Bobrowski „Holunderblüte“, ein Wortbild für Nichtvergessen, für Anwesenheit, Leben: „Leute, es möchte’ der Holunder sterben / an eurer Vergeßlichkeit.“
Es sind die geradezu zu Klassikern gewordenen Dichter der aus dem Widerstand hervorgegangenen ersten Generation, die Nachkriegs- und Aufbaujahren in Versen fesselnd Ausdruck gaben. Erich Weinert bekennt sich zur neuen Welt. Walter Dehmel wird populär mit „Diese Zeit braucht deine Hände“; der Leser hat nachdenkliche Wiederbegegnungen mit Hans Lorbeer, Max Zimmenng, KuBa (Kurt Barthel). Von Erich Arendt („Spätbegegnung“, „Troja“, „Danach“) blättert man zu den ganz Jungen, am Schluß des Buches. Gibt er doch als indirekter Mittler einen Anstoß, sich in das Geflecht ungewohnterer Poetik zu wagen, die ihren Reiz und Sinn nicht immer beim ersten Lesen offenbart. Die Generation der Thomas Rosenlöcher, Uwe Kolbe, Bert Papenfuß-Gorek, Stefan Döring, Steffen Mensching brechen mit tradierter Dichtkunst, sie verwickeln den Leser in Sprachexperimente, anreißende Wortlust.
Ihre eigenständigen Welt- und Umweltsichten gerinnen mit bewußter Subjektivität in adäquate Formen, wie bei Kathrin Schmidt (geb. 1958): „… ich bring mich im Wechsel der Stoffe / drei schritt zu mir hin“. „Entwarnung meiner Gedichte“ — ein Sprachbild Holger Teschkes (geb. 1958) in seinen alptraumhaften „Landschaften des dritten Weltkrieges“ als Ausdruck kämpferischer Hoffnung. Für seinen Sohn schrieb Dieter Kerschek (geb. 1953) ein „Heranwachsgedicht“, das programmatisch endet:

wer auch immer er ist
er ist einer
er kommt auf sich zu
& er kommt zu sich
er wird was
& er wird was er will
:mensch

Direkt für Kinder nahmen die Herausgeber keine Gedichte in ihre Sammlung auf. Eigentlich schade, sie hätte zur feierlich-ernsthaften Komponente eine heitere und bunte hinzugewonnen. Allerdings wurde Satirisches und Humorvolles sparsam eingefügt. „Der Geistergeburtstag“ Peter Hacks’ z.B. bringt spritzig-intellektuelles Amüsement. Volker Braun schreibt z.B. plastisch über das „Jugendobjekt“ Rhinluch, wo „unter der Sonnenfahne“ mühselige Arbeit geleistet wurde.
Das Erbe der revolutionären Kämpfer der vor 70 Jahren gegründeten KPD klingt in Manfred Streubels „Rosas Briefe“ an, die dem Autor das Gefühl geben, „als wären sie direkt an mich geschrieben“. – Auf vielfältige Weise haben 90 Lyriker auf den Leser zugeschrieben.

Uta Kolbow, Berliner Zeitung, 26.11.1988

„die wirklichkeit ist scharf umrandet“

Jede Lyrikanthologie ist ein Wagnis, ein Experiment, geprägt von der Auswahl der Herausgeber. Immer die Frage: Wie ordnen? Was wird eingetragen an Stofflichem, an neuen poetischen und gesellschaftlichen Sichten und Zusammenhängen? Gibt es bei der Konfrontation von Vergangenem und Gegenwärtigem parallele Akzente? Und nicht zuletzt: Welche Aspekte dichterischer Qualität werden zur Geltung gebracht?
In unserer jüngeren Verlagsgeschichte finden sich Anthologien, die prononciert lyrischen Anspruch verteidigten: Brücken des Lebens (1969), Herausgeber Heinz Czechowski, oder Das Wort ,Mensch‘. (1972), besorgt durch Bernd Jentzsch. Da wurde weit zurückgeschritten in deutsche Dichtung – bis hin zu Walther von der Vogelweide. Und wenn für diese Sammlungen beide Male, das sich in Zeit und Gesellschaft widerspiegelnde Menschenbild als Kriterium galt – der Mensch mit all seinem Gefühlsreichtum: Trauer, Verzweiflung und Entsagung, Freude und Zuversicht, Arbeit und Muße, Versagen und Sieg –, so nicht von ungefähr. In unserer Gesellschaft, die lange Kollektives überbetont hatte, mit dem für Nachgeborene nur noch historisch rezipierbaren Pathos der Aufbaujahre, rückte spätestens Anfang der Sechziger die Rolle des Individuums wieder eindringlicher ins Blickfeld. Die Anthologie Die eigene Stimme – der Titel ist programmatisch – will vornehmlich das Menschenbild, die schöpferische Leistung des einzelnen bei seiner Selbstverwirklichung in der Gesellschaft erkunden.
Schon dadurch unterscheidet sie sich von ihrer Vorgängerin, mit dem sachlichen Titel Lyrik der DDR (1970), die bei ihrer Erstveröffentlichung noch mit 52 Namen auskam und bei folgenden Auflagen dem steten Zuwachs an Debüts entsprechend aufgestockt wurde. Den drei neuen Herausgebern – ich halte es für gut, daß den beiden Lyrikern Ursula Heukenkamp zur Seite steht – geht es um eine Bilanz der DDR-Lyrik aus vierzig Jahren. „Beabsichtigt ist die Spiegelung der gewachsenen Strukturen und Veränderungen, eine Dokumentation literarisch relevanter Leistungen aus heutiger Sicht“, heißt es im Vorwort. „Größtmögliche Objektivität“ sei angestrebt worden, man wolle das Miteinander, Nebeneinander und Nacheinander der einzelnen Gedichte mehrerer Autorengenerationen sichtbar werden lassen innerhalb einer Literaturperiode, die keineswegs komplikationslos verlaufen ist.
Die Präsentation der 90 (!) Lyriker strebt keine strenge Chronologie nach Geburtsjahren an.

Um die Entwicklungslinie von bereits historisch gewordenem Gedicht bis hin zum hoch unmittelbar wirkenden Text möglichst getreu reproduzieren zu können, wurde versucht, der Wirkungschronologie zu folgen.

Die Herausgeber sprechen von „generativen Blöcken und Gruppierungen“. Von vornherein aber erweist sich: Jede Anthologie, die sich an eine Abfolge der einzelnen Autoren gebunden fühlt und deren Gedichte jeweils geschlossen vorstellt, hat es schwerer als eine thematisch „gebaute“, die, wie bei einer Sinfonie, von der Ouvertüre bis zum Schlußsatz mit etlichen Höhepunkten ihr Material kontrastreich in Kapiteln versammeln kann. Adolf Endlers und Karl Mickels Auswahl In diesem besseren Land (1966), Leistungen der DDR-Lyrik aus den ersten zwanzig Jahren resümierend, ist noch heute beispielhaft. Sie beschränkte sich auf 36 Autoren und bot – bei rigorosem Qualitätsanspruch – in vielfältiger, Verzahnung erregende Realitätsausschnitte. Nur „die stärksten und besten Gedichte, die seit 1945 entstanden sind“, erhielten eine Chance.
Bei vielen Beispielen ist Die eigene Stimme mit bisherigen Anthologien deckungsgleich: Franz Fühmanns „Der Nibelunge Not“, Bertolt Brechts „Der anachronistische Zug“, Heiner Müllers „Tod des Odysseus“, Georg Maurers „Poetische Betrachtung über die Weltraumfahrt“, Stephan Hermlins „Die einen und die andern“, Karl Mickels „Der See“, Volker Brauns Rhinluch-Gedichte… Bei anderen schlagen die Herausgeber konsequent einen neuen Weg ein. Schon das Entree mit Johannes R. Becher zeigt die Richtung. Manchem Leser, dem schulische Pflichtlektüre die Begegnung mit dem Dichter vergällt haben mag, wird eine bislang nicht wahrgenommene Sensibilität aus „der Perioden Aufschwung und Gefälle“ zugänglich.
Mit dieser Vorstellung von Becher gewinnen die „generativen Blöcke und Gruppierungen“ Profil. Der „als ein anderer wiederkam“, sah sich konfrontiert mit unsäglichem Leid, das der Faschismus auch in seiner Heimat hinterlassen hatte. er sah Berlin in Trümmern, sah einen „Seiltänzer über Ruinen“. Seine Dichtergeneration, vorwiegend aus dem Exil zurückgekehrt, mit höchster Anstrengung den Zeiger für die „ersten Stunden“ stellend, nahm wahr, wie schwer es ist, mit Menschen, die soviel Schuld auf sich geladen hatten, einen neuen Staat zu schaffen. Das Alte schwelt. Der Schoß ist fruchtbar noch… „Auf einmal gab’s in Deutschland nichts als Opfer“, heißt es bei der Verantwortung für das Erich Weinert.
Wie bei diesem Arbeiterdichter („Wo Nacht und Enge, ist nun Licht und Weite“) auch bei anderen das hymnische Hervorheben der neuen antifaschistischen Aufgabe: „Wir haben Mai, in jeder Hinsicht Mai: / Ich sehe mich und meine Kameraden frei“ schreibt Wilhelm Tkaczyk und feiert die „Fabrik als Kathedrale“. Ein Singen, das – wie in Kubas die Generationen überspannenden Versen – Künftiges anvisiert:

Sagen wird man über unsere Tage.

In dieses lichtere Morgen schickt auch Louis Fürnberg „Ahornträume“ der Kinder. Selbst das Wiedererblicken bekannter Bäume erhält bei Georg Maurer, dessen philosophischer Gestus einen großen Einfluß auf die nachfolgende Dichtergeneration ausübt, eine politische Funktion:

Verändert ist der Gesellschaft Landschaft…

Individuell erfahrener Geschichte spürt diese Anthologie in hohem Maße nach. Erich Arendt, der zunächst eine Sonderstellung innerhalb unserer frühen sozialistischen Lyrik einnahm, dessen ägäische Antike-Aufnahme jedoch fortwirken wird, erinnert an Spaniens Bürgerkrieg („Ballade von der Guardia Civil“) und an den „Prager Judenfriedhof“. „Der Worte Wunden bluten heute mir noch immer“: Stephan Hermlins Gedichte warnen vor dem Vergessen. Birkenau, Lidice, Hiroshima, Vietnam dann – Signalworte, die auch Jahre danach, weil sich niemand aus der Verantwortung für das Weiterleben menschlicher Existenz herausmogeln kann, von den nachgeborenen Dichtergenerationen eindringlich befragt werden. Nach Auschwitz mußte man wieder Gedichte schreiben. Ein Schweigen hätte tödlich ausgehen können.

… du bist mündig geworden,
du kannst
dein eigenes Bild
in der Asche zertreten,
im Staub der Erde
den Rosenstock pflanzen.
(Hanns Cibulka)

Die zweite DDR-Dichtergeneration kommt, will sie ihre eigene Stimme finden, nicht umhin, „Abrechnung“ zu halten. (Jo Schulz: „Im Namen meiner Brüder und Schwestern / spreche ich mich schuldig.“) Erschütternd, im Ensemble herausragend, die Zeugnisse der frühverstorbenen Inge Müller, die im „letzten Aufgebot“ der Faschisten in den Krieg mußte („Mich trägst du nicht, Tod, / ich mach mich schwer…“) Und einzigartig die sarmatischen Verse des Johannes Bobrowski, der wie kein anderer vor ihm ein dauerndes poetisches Programm erwählt, „auf dem endlosen Weg / zum Hause des Nachbarn“ gehend. Günter Kunert schickt 1964 verheißungsvoll Ikarus auf die Flugbahn:

Ein Horizont zeigt sich immer.
Nimm einen Anlauf.

Unübersehbar schließlich die Zäsur zu Beginn der sechziger Jahre. Wir erinnern uns: Eine junge Dichtergeneration verschafft sich auf der Tribüne Gehör, ihre Lyrik hat immensen Zulauf – seit Weinert gab es keine vergleichbaren Auditorien. Jene „Lyrikwelle“, die ähnlich der in der Sowjetunion breite öffentliche Kreise zog, wie man sie für Poesie, oft Stiefkind des literarischen Interesses, kaum noch für möglich gehalten hätte, wurde vor allem von einem neuen Problembewußtsein getragen. Verhaltene und Heißsporne, denen das Mitmachen und Verändernwollen unter den Nägeln brennt, befragen kritisch unsere Gegenwart und die Welt.
Von hier aus haben sich mit den Jahren Volker Braun, Heinz Czechowski, Adolf Endler, Peter Gosse, Uwe Greßmann, Karl Mickel, Sarah und Rainer Kirsch, Wulf Kirsten, Kito Lorenc in die Literatur eingeschrieben. „Jetzt sprich deine Sprache, Land / Verschweig nichts / Mit postkartenreifen Idyllen“: In Czechowskis „Flußfahrt“ finden wir das Credo dieser Generation, die „So viele Antworten, / So wenige Fragen!“ vorfand und nun mit Sturm und Drang nachhakt, mit viel Phantasie und Metaphernfreude (Uwe Greßmann, Sarah Kirsch), zunehmend auch mit philosphischer Durchdringung und Antikerezeption (Braun, Mickel, Gosse). „die wirklichkeit ist scharf umrandet“ – nicht nur bei Wulf Kirsten. Auffällig ist die Traditionsaufnahme, sowohl der tradierten (Hölderlin, Klopstock, Gryphius) als auch der sozialistischen Dichtung (Brecht, Becher, Arendt, Bobrowski). Frühe Leistungen unserer DDR-Lyrik werden mit erstaunlicher Kontinuität fortgesetzt. Und in allem das Ergründen der Herkunft, eine zwingende Geschichtlichkeit. Ob Sarah Kirschs Legende über die Partisanin Lilja, Adolf Endlers Empörung über Chiles Junta, die im Stadion von Santiago mit Steinen gefüllte Schubkarren über Arbeiterrücken rollt („Ich hefte den Durchschlag dieser Notiz in all meine Mappen / Bei jeder Arbeit muß ich sie wiederfinden“), ob Volker Brauns eindringlicher Exkurs „Der Frieden“ – da ist ein weiter Bogen der Mitverantwortung für das Wohl und Wehe unserer Welt.
War die erste Etappe der DDR-Lyrik noch „reine Männersache“, so schrieb sich aus der zweiten Generation Inge Müller unvergeßlich in unser Gedächtnis. In jüngerer Zeit vertreten Dichterinnen sensibel und nuanciert ihren Anspruch; auch dieser poetische Zugewinn spiegelt gesellschaftliche Wandlung. Wer wollte an Eva Strittmatter, Gisela Steineckert, Brigitte Struzyk, Uta Mauersberger, Gabriele Eckart, Gisela Kraft, Christiane Grosz oder Annerose Kirchner vorübergehen.
Während die eigene Stimme der sozialistischen Klassiker ihre deutlichen Konturen hat und auch bei der Generation, der Sechziger die Leistungen überschaubar vor uns stehen, läßt sich über die Jüngeren so Endgültiges verständlicherweise nicht äußern:

Ob ein Vers
zu überleben vermag,
es läßt sich
mit Sicherheit nicht sagen.

(Uwe Grüning)

Manchmal wurden den Jüngeren nur ein, zwei Texte zugestanden. Geht man von den „Appetitshäppchen“ aus, die in vielen Fällen ein Thema quasi noch „bedienen“ sollen, so kann sich Begabung nicht voll offenbaren. Aber mit der Kenntnis dessen, was außerdem vorliegt, lassen uns Steffen Mensching, Hans-Eckardt Wenzel (er ist unterrepräsentiert), Uwe Kolbe, Richard Pietraß, Wolfgang Hilbig, Kerstin Hensel, Wilhelm Bartsch oder Thomas Rosenlöcher hoffen.
Die Stilmittel der Jungen sind variabler geworden, reichen von forsch bis nachdenklich, nehmen auch Skurriles und das Wortspiel (Bert Papenfuß) auf. Zunehmend wird Umweltproblematik zum Gegenstand gewählt. Und Welt reflektiert mancher Nachwuchsdichter über Bilder, die ihm das Fernsehen ins Haus trug. Während Endler und Mickel bei ihrer Anthologie noch für den Kompositionsraum des „Großgedichts“ warben, ist Anfängern dieser Sammlung selbst Aphoristisches zugestanden. Daneben aber stehen, als Ahnung des Möglichen, zwei große Entwürfe von Steffen Mensching: „Amtliches Fernsprechbuch“ und „World time table“.
Auch die Herausgeber dieser Sammlung werden, da die „eigene Stimme“ der jungen Generation an Kraft gewinnt, bei weiteren Auflagen ergänzen müssen, werden nicht umhin können, von neuem zu wägen und zu prüfen. (Haben sie beispielsweise bei Kristian Pech und Lothar Walsdorf, die nicht aufgenommen wurden, genau genug gesichtet?) Es bleibt also Arbeit. Aber Ergänzungsfähigkeit ist sicherlich nicht das schlechteste, was einer Anthologie attestiert werden kann. Es ist ein Kompliment.

Hannes Würtz, neue deutsche literatur, Heft 433, Januar 1989

Von Becher bis Mensching

1.
Anthologien, die den Anspruch erheben, „auf Repräsentanz aus zu sein“, können sehr langweilig geraten, zumal dann, wenn ein bravlineares Anordnungsprinzip die Möglichkeit verfremdender Schnitte ausschließt. Und „Repräsentanz“: Röche der Begriff nicht ohnehin nach Pomadigem?
Ursula Heukenkamp, Heinz Kahlau, Wulf Kirsten, die Herausgeber des Bandes Die eigene Stimme. Lyrik der DDR, wußten natürlich um die Bürde, welche sie auf sich nahmen: Ihnen oblag es, eine Anthologie zu fertigen, die Kontinuität bezeugen sollte. Und das meint, daß sie offensichtlich an einige konzeptionelle Vorgaben gebunden blieben, die von der einschlägigen Sammlung des Jahres 1970 (Lyrik der DDR) herrührten – das neue Projekt, so ist erkennbar; war als (fällig gewordenes) Nachfolgeunternehmen gedacht. Entsprechend begrenzt demnach der Spielraum, der sich gewinnen ließ. Ihn aber zu nutzen war doch das Bestreben der Authologisten; und mit „Repräsentanz“ vereinbarte sich für sie eine Textauswahl, welche den Vorbemerkungssätzen von 1970 kaum ungebrochene Gültigkeit bescheinigt. Man kann denn auch Entdeckungen machen. In meinem Falle, als Exempel: Jens Gerlachs Gedicht „mein vaterland II“. Ich kannte es nicht, las es erstmals hier; in seiner Hautlosigkeit traf es mich ebenso unerwartet wie unmittelbar:

dein name ist gelöscht
wie nenn ich dich mein vaterland?
ich krall mich in der erde fest:
was halt ich in der hand?

mein hirn ist hier mein herz ist dort
ich hatte ein zuhaus
ich irr durch eine schattenwelt
und kenn mich nicht mehr aus

kein horizont verheißt ein ziel
die straßen bleiben stumm
ich trink und eß und schlaf und wach
das heimweh bringt mich um

ich schau nicht rückwärts dort ist nichts
doch was ist vorn?
ein berg zum bersten angefüllt
mit scham und zorn!

Langweilig? Entdeckungen wie diese sorgten dafür, daß ich munter blieb.

2.
Aber es arbeitet der Munterkeit ja auch ein Interesse zu, das durch die dargebotene Zusammenschau angeregt wird: Man wird verlockt, die Wege einer Lyrik zu rekapitulieren, der die „ändernde Zeit“ (Herder) viel anhaben konnte, die auf diese Zeit ihrerseits viel zu wirken strebte – und die also tief in das verstrickt ist, was sich Goethes Faust als Magie erklärt. Die Neuanfänge in einer geschichtlichen Lage, die deprimierend und utopieträchtig in einem war: Bechers Leidens-, Bekenntnis- und Verheißungspathetik; Weinerts flutende Feierverse, die von glückhaftem Eintritt ins Elysium sangen; die besinnlichere, gemüthafte Zuversichtsdichtung Louis Fürnbergs. Aber die Verssprache Brechts doch auch, die sich Nüchternheit und gedankliche Schärfe bewahrte, die kunstvoll-amphibolisch hohe Rede Hermlins, die mythisch-zeichenhafte Erich Arendts. Und, nicht zuletzt, das Huchelsche Naturgedicht mit seiner Integrationskraft für Menschlich-Geschichtliches. (Leider fehlt Huchel in der Anthologie; dem Verlag wurde die erbetene Abdruckerlaubnis nicht erteilt.) Es ist ein anderes, daß seinerzeit vor allem die erstgenannten Autoren zur Breitenwirkung gelangten, daß vornehmlich sie in die Schulen drangen, ja daß sie Schule machten. Indessen: Vier große Lyriker waren da am Werk, deren künstlerische Subjektivität der Verführung zu Kurzschlüssigkeiten zuwider reagierte und die dem Gutgemeinten eine Gedichtfaktur entgegensetzten, welche von der zerklüfteten Erfahrungswirklichkeit nichts wegretuschierte. Und „Anfänge“ (der DDR-Lyrik) lassen sich mit ihnen identifizieren, denen gegenüber der höchste Respekt geboten ist – wie sie auf längere Sicht denn auch ihre Anregungskraft nachhaltig zu erweisen vermochten.
Die fünfziger Jahre. Maurer, Bobrowski. Kunert. Christa Reinig. Auch sie fehlt – und im Gegensatz zu Huchel kommentarlos – in der Anthologie. Nur weil sie hierzulande keine Möglichkeit hatte zu publizieren? Vielleicht ist das Gedicht, das ich jetzt einrücke, erst Anfang der sechziger Jahre entstanden, ich weiß es nicht. Ich wähle es aber, weil mir für den schwachen Rezensentenversuch, Christa Reinig in Erinnerung zu bringen, gerade dieses Gedicht – betitelt „Kassiber“ – als besonders geeignet erscheint:

Nein mich peinigt nichts mehr seit ich mir die
haut mit nägeln heruntergerissen habe

nur daß ich schweigen muß weil alle schreie aus
dem raum hinweggeatmet sind in die lungen
toter vordermänner

denn was mich so unerbittlich beschämt hat daß
ich hier zufällig bin und aufgegriffen von der
straße um die zahl zu erfüllen

allein ich sehe nurmehr das was nicht ist mir aber
auferlegt war

heute nacht hab ich unentwegt vom gärtner
Namenlos geträumt wie er auf der roten stadt-
mauer von Perleberg das gras absichelt

ihr warum weint ihr über ein geflecktes papier
das euch ins haus geschickt ist und hört nicht aus
allen wänden die empörten steine dröhnen
sie meine zungen

sie sagen ich lebe

Nein, wenn schon Bobrowski Schwierigkeiten hatte, in der DDR gedruckt zu werden, für Christa Reinig gab es keine Chance. Dieses rückhaltlos ichbezogene Sprechen, das im Grunde ein einziger Notschrei ist, verstieß auf elementare Art gegen jene Lyrikideologie, die sich mittlerweile etabliert hatte und die dann noch 1970 von Uwe Berger und Günther Deicke auf die Forderungsformel „volksverbunden, realistisch, aktiv parteilich“ gebracht wurde. Da ließ sich weit eher noch Maurer tolerieren, dessen bildungsgesättigt-reflektierender Neoklassizismus auf Ausgleich bedacht war: Der Mangel an „volksverbunden“-optimistischer Forschheit konnte als kompensiert betrachtet werden. „Oberlehrerpoesie“? Dieses auf Maurer gemünzte Wort stammt von Bobrowski (1960), greift aber zu kurz, verfehlt den geistig-künstlerischen Anspruch einer Autorschaft, die pseudorevolutionärer Plattheit tapfer die Stirn zu bieten suchte. Bobrowski selbst indessen, der die Tradition des mythischen Naturgedichts aufnahm und es einem elegischen Ausdruck individuellen Befindens in der geschichtlichen Welt gefügig zu machen wußte, konnte schließlich, von sehr vielen, nachgerade als ein Ereignis empfunden werden. Seinerseits durch Huchel angeregt, gewann er sich eine lyrische Impulskraft, die neben der des Älteren sowie neben derjenigen von Arendt und von Brecht noch erheblich zur Wirkung kommen sollte.
Zu lesen in der Vorbemerkung der Anthologisten:

Eine deutliche Zäsur bildet das Jahr 1960. Damals meldete eine neue Generation ihr Mitspracherecht an. Die erste Anthologie, in der sie zu Wort kam, trägt den programmatischen Titel Bekanntschaft mit uns selbst.

In der Tat: Es ist ein denkwürdiger Band, der damals, 1961, unterbreitet wurde; Herausgeber war Gerhard Wolf; dessen kurzes Nachwort begann übrigens mit einer Aussage von erstaunlicher Klarsicht:

Wir stellen sechs junge Autoren vor, deren Gedichte zeigen: Eine neue Generation von Lyrikern ist da.

Diese sechs, es waren Werner Bräunig, Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Karl Mickel, Klaus Steinhaußen. Gewiß, viele ihrer frühen Gedichte, noch stark agitprophafter Sozialismus-Idyllik verhaftet (am wenigsten bei Jentzsch), mögen dem heutigen Leser ein Lächeln entlocken; doch auch ein Text wie Mickels „Lamento und Gelächter“ (Erstfassung) findet sich unter ihnen, und nicht nur er kündigte bevorstehende Emanzipationsbewegungen an. Die freilich verbanden sich dann nicht nur mit den Autoren der Bände Alphabet des Morgens, Nachmittag eines Liebespaares, Lobverse und Beschimpfungen sowie mit dem Koautor des Bandes Gespräch mit dem Saurier, sondern noch mit weiteren. Mit Adolf Endler und Reiner Kunze, Sarah Kirsch und Volker Braun, mit Wolf Biermann, mit Kito Lorenc und Kurt Bartsch, schließlich mit Wulf Kirsten, Peter Gosse, Elke Erb. (Auch mit dem, der sich so konsequent im Hintergrund hielt: Richard Leising.)
Und viele von ihnen hatten sogleich, Anfang der sechziger Jahre, die Begegnung mit einer großen Öffentlichkeit, die hoch erwünscht war und stimulierend wirkte, dabei sich nicht etwa nur als ein freundlicher Resonanzraum erwies. Eine Öffentlichkeit, die der überväterlichen Leitung zu entstehen trachtete und Lust zeigte, auf die temperiert eigenen Worte, die zu hören waren, durchaus einzugehen – der mächtige Imperativ indessen blieb, nicht nur letztlich, in Kraft. Eine Feuer- und Wasserprobe war zu bestehen, die kaum mit dem Ausblick auf einen spannungsvoll-harmonikalen Zustand endete: Ein Maß von ideologischer, speziell von lyrikideologischer Verfestigung war zu registrieren, das den einzelnen – früher oder später – herausriß aus mancherlei Gewähntem. Hatte man vorher geglaubt, sich jugendlich in ein bewegliches Ganzes einbringen zu können, so erblickte, ja erfuhr man jetzt verfestigte Verhältnisstrukturen, angesichts derer kritisches Bewußtsein die Oberhand gewinnen mußte. Und im Zeichen solchartiger Ernüchterung vollzog sich hierzulande im, weiteren Verlauf der sechziger Jahre die Geburt einer lyrischen Moderne, welche nun nicht mehr nur an die Hervorbringung weniger einzelner gebunden blieb. Dabei wuchs diesen großen einzelnen der älteren Generation(en) geradezu zwangsläufig die Aufgabe von Geburtshelferschaft zu – wie hierzu auch die Dichter der lyrischen Moderne im internationalen Maßstab herangezogen wurden: Für die Generation, von der die Rede ist, war die Zeit ihrer künstlerisch-intellektuellen Emanzipation zugleich eine Zeit großer Entdeckungen. Und die wiederum waren faszinierend genug; um einen Überwältigungseffekt zu zeitigen. Daß er indessen nicht zustande kam, will als das eigentlich Buchenswerte erscheinen. Begründet lag die starke Widerstandskraft in der nachwirkenden Intensität jugendlicher Erwartungs- und Glaubensvergangenheit.
Es ließe sich auch so formulieren: Der individuelle Anspruch, der zugleich ein geschichtlicher war, wurde im Zuge jenes Emanzipationsvorganges keineswegs aufgekündigt; und jedenfalls blieb er einem künstlerischen Bewußtsein inhärent, das disparaten Erfahrungen, sich zwar weit öffnete, eben diese jedoch beharrlich dem Urteilsspruch der Idee unterwarf. Wobei deren (von der Verhältnisprosa in Frage gestellte) Gültigkeit noch dadurch erhärtet wurde, daß man sich aufklärerischer, klassischer, romantischer Tradition versicherte; charakteristisch denn auch diese eigentümliche Klassik-Moderne-Vermittlung, der man bei wichtigen Autoren der hier verhandelten Lyrikergeneration immer wieder begegnet. Daß aber der Emanzipationsprozeß zugleich als ein individualisierender verlief, ist nicht minder zu erinnern: In den Weisen, wie sich die große Spannung zwischen Idee und Erfahrungswelt niederschlug im Gedicht, manifestierten sich individuelle Haltungen unterschiedlicher Art. Mickels lakonischer, streng aufs Objektive gerichteter Klassizismus prägte sich aus, Brauns aufforderndes Insistiergedicht, Endlers spielerisch-artifizielle Verfremdungskomik, Czechowskis grimmig-melancholische Elegik, Kunzes grüblerische Sensitivität. (Ich widerstehe der Versuchung, die Benennungsreihe weiterzuführen: Jede Kennzeichnungsformel, einmal hergeschrieben, offenbart sogleich ihre Fragwürdigkeit.) Und so begann sich auch jene Opulenz anzuzeigen, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre der DDR-Lyrik internationales Ansehen gewann. Den ihr bis dahin anhaftenden Ruch von Provinzialität verlor sie.
Da war einer indes, der solcher Opulenz auf seine Art mit zugearbeitet hatte, bereits nicht mehr am Leben: Uwe Greßmann, zugehörig dieser Mickel-Czechowski-Generation und doch ein „anderer“. Dem sich der Weltblick eines Kindes mit der Weltreflexion eines sehr Einsamen und früh schon vom Tode gezeichneten Autodidakten verband. Er schrieb Gedichte, die in ihrer eigensinnigen Naivität etwas schmerzlich Berührendes haben – eine Wirkung, die ihnen über all die Jahre hinweg erhalten geblieben ist. (Die Anthologisten haben übrigens gut ausgewählt: „An den Vogel Frühling“, „Geometrisches Idyll“, „Großstadtliebe“, „An Arkadia“, „Eingang des Totenreiches“, „Einsamkeit“) Der zweite aber, der nachzutragen ist, Walter Werner, war ein Älterer; als er, angeregt durch die Begegnung mit den Versen Bobrowskis, aus der Provinzialität ausbrach, um seine Provinz sich zu finden, war er ein Mann in den Vierzigern. So trat er schließlich, nachdem sich eine regionsbezogene, dabei durch kritisches Bewußtsein „entheimatete“ Lyrik zur bemerklichen Richtung konstituiert hatte, als deren Senior in Erscheinung. Und diese Richtung selbst, aufnehmend die Tradition des Naturgedichts, wurde nicht zuletzt deshalb immer belangvoller, weil gerade sie geeignet war, das Sinnfällige einer sterbenden Landschaft: die Bilder katastrophal vernutzter Natur in den Vers zu holen.
Die Opulenz einer Lyrik, die in der Mannigfaltigkeit „eigener Stimmen“ doch jenen Spannungsrahmen, von dem die Rede war, ungesprengt ließ: Auch einige Nachwachsende stießen hinzu – wenngleich der ideelle Impetus bei ihnen von vornherein eine Gebrochenheit aufwies, welche sich bei etlichen der „Älteren“ erst sukzessive und im Zuge eines komplizierten Vorgangs ergeben hatte (bzw. ergab). Es wäre Walther Petri zu nennen, Friedemann Berger, Uwe Grüning, Jürgen Rennert, sie alle zwischen 1940 und 1943 geboren. Und aber Pietraß, Jahrgang 1946? Auch er freilich trat noch – und prägnant – zu einem Zeitpunkt hervor (Poesiealbum Nr. 82; 1974), da sich ihm ein Bandtitel wie Notausgang (1980) kaum zugedrängt haben dürfte: Das war dieser Zeitpunkt, der, zwischen 1971 und 1976, jenen Lyrik-Reichtum auch dadurch zu befördern vermochte, daß er künstlerisch-individuellem Verständigungsbegehren so unfreundlich nicht schien und zu mancherlei erneuerter Hoffnung (oder auch Illusion) verlockte. Deren Bewahrung allerdings mußte schwer genug fallen, da gegen Ende der siebziger Jahre die erschreckendsten Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen waren, provozierend die Erwägung, welche sich schließlich in Volker Brauns Gedicht „Gespräch im Garten des Chefs“ ausgesprochen findet:

Vielleicht war die Frage
Die große Frage Werwen
Eine Nummer zu klein, und die Schrecken
Von denen wir zehren
Sind nicht mehr das Wahre. Dergutemensch
Denkt an sich, selbst zuletzt.
Wenn die Wahrheit, Asche im Mund
In eure Türen fällt
Werdet ihr sie wissen.

Im übrigen der Einschnitt, der sich mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns verband. Das Klima, in dem ein VII. Schriftstellerkongreß stattfinden konnte, wich kaltem Nebel; und arg die Verluste, die das Land betrafen. Zwar „verarmte“ die DDR-Lyrik nicht, doch gerade sie erlitt schlimme Einbußen, auch dadurch nicht kompensiert, daß es – wiederum – einen Nachwuchs gab. Dabei war das, was etliche dieser nachwachsenden Autoren vortrugen, von Belang und von innovativer Kraft. Freilich bezeugte es ein Situationsbewußtsein, das von kanonisierten Erwartungsmustern nun ausgesprochen schroff abwich. Und dies führte zu ernstlichen Publikationsschwierigkeiten – so daß der neu sich entwickelnde Stimmenreichtum nur sehr partiell eine größere Öffentlichkeit zu erreichen vermochte: Das rigoros, sprachkritische und sprachexperimentelle Gedicht, welches nun gedieh, blieb nicht minder im Verborgenen als dasjenige, das sich – in durchaus „konventioneller“ Sprache – einer psychologisch genauen Topographie der gegebenen, als befestigt wahrgenommenen Lehensbedingungen zuwandte. Da war denn in solcherart Lyrik auch nichts mehr von einem Verheißungsglauben; Zukunft hatte sich verschüttet: das Gedicht kam dem Versuch von individueller Selbstbelebung und Selbstbehauptung in einer Gegenwart gleich, die vor allem durch die Herrschaft abtötender Zwänge gekennzeichnet schien. Es waren aber, die in kleinen Kreisen nun von sich reden machten, nicht nur solche Autoren, welche in den Zwanzigern standen. Denn fast zeitgleich traten Dichter wie Eberhard Häfner und Wolfgang Hilbig hervor, beide 1941 geboren. Und es wäre demnach falsch, wollte man allzu bündig das Kriterium der Generationszugehörigkeit in Anschlag bringen: Ältere, die bereits auf eine geheime Schreibbiographie zurückblicken konnten (zumindest bei Hilbig ist sie inzwischen nachvollziehbar geworden), trafen sich in puncto grundlegender Prämissen mit eben jenen Jüngeren, welche zu ihnen gewissermaßen ohne größere Umschweife gelangten. Dies hervorzukehren bedeutet nicht, daß die Frage der Generation von minderem Belang sei. Die in den fünfziger Jahren Geborenen waren natürlich in der Überzahl – Name auf Name begann sich einzuprägen: Matthies, Anderson, Döring, Papenfuß, Kolbe…
Just der Jüngste von ihnen stellt insofern die Ausnahme dar, als er schon 1980 einen Band publizieren konnte: Und dessen signifikanter Titel ist rasch in Umlauf gekommen: Hineingeboren. Drei Jahre später war es dann Hilbig, der – als schon Zweiundvierziger – in der DDR endlich verlegt wurde. (Wie für Kolbe, so hatte sich auch für ihn Franz Fühmann energisch engagiert.) Doch wiederum blieb diese Publikationsmöglichkeit ein Ausnahmefall – Jahr um Jahr verstrich, ohne daß sich für Häfner oder für Papenfuß (um nur diese zu nennen) etwas bewegen ließ; einzig in Zeitschriften und Anthologien vermochte der eine oder andere Text publik zu werden. Und wiederum: Verluste. Das Fortgehen von Autoren, deren ungebärdig oder auch sanft provozierende Rede als Ärgernis erschien.
Es wäre unsinnig, über diese neuerlichen Verluste hinwegzuschweigen. Sie fallen ins Gewicht, auch dann noch, wenn man bedenkt, daß die öffentlich gewordene DDR-Lyrik der achtziger Jahre an und für sich von bemerkenswertem Range ist. So gab es jedenfalls – außer denen von Kolbe und von Hilbig – Debütbände, die aufhorchen machten. Die je auf andere Art beherrschte Gedichtsprache von Pietraß, von Rosenlöcher, von Wilhelm Bartsch wurde vernehmbar. Thomas Böhme erbrachte zumindest einen deutlichen Talentnachweis (dem schließlich jener Akt dichterischer Emanzipation folgte, der sich im Band Stoff der Piloten manifestiert). Der schon ältere, ins Land gekommene Bernd-Dieter Hüge trat hervor. Steffen Mensching. Und sie alle, gewiß, neigten einem Sprechen zu, das verträglich scheinen mochte; gleichwohl hockte das Gespenst einer ebenso bleiernen wie bedrohlichen Zeit auch in ihren Versen – oder doch zwischen ihnen. Unterschiedlich die „Übungen“, die präsentiert wurden, es waren aber durchweg „Übungen im Joch“: Selbsthilfe in einer Situation, die im Gedicht ihren Abdruck findet, wie sie desgleichen „genichtet“ wird in ihm. Wobei dieser spannungsvollen Ambivalenz diejenige von Eng- und Weitzirkelung entspricht. Immer wieder das Ghettosyndrom – und immer wieder die Blickrichtung auf Vorgänge in einer Makrowelt, deren Wahrnehmung höchst dienlich ist, Empirisches zu orten, zu verfremden, es zu transzendieren. Eine bemerkliche Weite des literarischen Horizonts korrespondiert dem.
So steckt diese Lyrik mit ihrem Leibe tief in festgefrorenem Boden; ihr Kopf aber hält sich in freier Bewegung. Und indem sie solch freie Kopfbewegung bezeugt, will sie nicht zuletzt Lockung sein, impliziert sie ein Aufstörendes und Anstiftendes zugleich. Freilich ist dies eine verallgemeinernde Feststellung, die kaum weniger auch für die neueren Gedichte jener (verbliebenen) Autoren gelten mag, die der nun schon älteren Generation angehören. Nur gibt sich hier noch immer ein sentimentalisch gebrochenes Fortwirken dessen zu erkennen, was einstmals inspirierendes Ethos und verbindende Idee in einem war. Kein näheres Zeichen – schon dieser Czechowskische Bandtitel, artikulierend ein Manko, läßt solches Angedenken evident werden. Und Brauns Gedichte „arbeiten“ nachgerade mit ihm, beziehen aus ihm einen nach wie vor stark politischen Antrieb, der sich jedem Fixiertsein auf menschlich-individuelle Autonomie so strikt widersetzt. Letzteres vor allem bei Elke Erb. Ist deren überkonsequente Wegkehr von jeglichem, das als Nicht-Eigenes erscheint, nicht aber auch eine symptomatische Reaktionsvariante? Doch noch die hochkonzentrierte Paradigmatik eines Karl Mickel, eines Kirsch, Gosse stellt sich als eine Kunstleistung dar, die, indem sie auf Entsagung gründet, deren Bewandtnis mitnichten verleugnet. Und eine vergleichbare Bewandtnis offenbart sich hinter dem Närrischen, Clownesken, welches die Gedichte Endlers, die von Kito Lorenc charakterisiert. Schließlich die bitter beschreibende Melancholie Wulf Kirstens: Auch sie hält den Umlenkmechanismus im Bewußtsein. Demzufolge eine Mannigfaltigkeit der Stile; die doch ihr Gemeinsames hat. Es ließe sich auch so fassen: Die Gedichte fast aller dieser Älteren erwachsen kaum aus einem Anlaß, der nicht bereits seinerseits als ein vermittelter kenntlich würde. Und wenn jene Mannigfaltigkeit nicht etwa mit Fülle einhergeht, so dürfte sich dies aus dem Tatbestand solch permanenter, dabei wortlos bleibender Anlaßkritik hinreichend erklären. Das freilich heißt zugleich: Dem einzelnen Gedicht, das schließlich alle Sperren passiert hat, eignen deutliche Anzeichen von Haltbarkeit und dichter Fügung. Wobei sich darin wiederum ein beträchtliches Maß an Zuversicht ausprägt: Die auf Dauerhaftigkeit geprüften Gedichte widersetzen sich geradezu trotzig jenem Sog, von dem in ihnen so oft die Rede ist; sprechend von Erschreckenswürdigem, Gespenstischem, Katastrophalem, bauen sie doch auf Zukunft. Und auf eine solche, in der Lyrik gelesen wird. Ein verwegener Geist der Utopie, welcher derart sich Geltung verschafft. Er hat aber eine Anziehungskraft, der sich auch einige der Jüngeren nicht (mehr) zu entziehen vermochten, Ich verhehle nicht, daß dies meinen Beifall findet – und sollte doch wissen, daß „bannbrechende Opposition“ ihr Recht und ihre Notwendigkeit hat. Würde sie allerdings – unfrommer Gedanke! – zu frecher Operativität von Format gedeihen können, beim Zeus, ich geriete dann ernstlich ins Schwanken. Und am Ende erginge es mir wie dem Buridanschen Esel?

3.
Konnte ich, was ich skizzierte, aus der Heukenkamp-Kahlau-Kirstenschen Anthologie herauslesen? Gewiß, wenngleich nicht vollständig. Und jedenfalls bietet das Buch einen solchen Überblick, daß ein Leser, sofern er nur zu supplieren bereit ist, durchaus auf seine Kosten kommt. Erst recht gelangt man zu preisenden Worten, wenn man den Band mit seinem Vorgänger vergleicht: Der Zeitraum bis 1970 ist nun in einer Weise repräsentiert, die sich von der vormaligen wohltuend unterscheidet. Seinerzeit war ein polemischer Ansatz gewählt worden; die Auswahl hatte sich einem Kontrakonzept zu fügen; und dies war gerichtet gegen die von Adolf Endler und Karl Mickel besorgte Anthologie In diesem besseren Land (Mitteldeutscher Verlag; 1966). Nun also kein kunstideologisch forcierter Demonstrationswille mehr – und nicht nur Mickels Gedicht „Der See“ ward in seine Rechte gesetzt: Auch Richard Leising und Heiner Müller sind präsent; Huchel wiederum wäre es, wenn man (siehe oben) die Lizenz hätte erlangen können. Zimmering dagegen und Kuba erhielten bescheidenere Plätze als vor achtzehn Jahren; andere verloren ihren Platz völlig.
Zu denen zählt freilich leider auch Bernd Jentzsch. Womit denn das Lückenproblem überhaupt berührt ist: Es fehlt ja nicht nur er; und daß Kurt Bartsch, Kunert, Sarah Kirsch vertreten sind, kann über das Verschwiegenwerden anderer keineswegs hinwegtrösten. Dabei sollen gar nicht die Herausgeber die Kröte der diesbezüglichen Kritik schlucken. Doch wen kritisiere ich? Die „Verhältnisse“? Braun, Nr. 153: „Abgelehnt! – Wie? Ihr sagt? – Wir nicht… – Wer denn? – Still doch, niemand, / Doch die Verhältnisse… – Ach. Arbeiten sie schon allein.“ Nein, ich weiß keinen Adressaten. Es ist aber dennoch auszusprechen, daß Unwürdiges geschieht, wenn Dichter, welche die Lyrik dieses Landes mitgeschrieben haben, nachträglich ausgesondert und „vergessen“ werden. Ja, es sind Fortgegangene; und nicht jeder von ihnen verhielt sich in einer Art, die sanft zu nennen wäre. Doch kann das kein Grund sein, sie wegzuretuschieren aus der Geschichte der DDR-Lyrik – weil es einen vernünftigen Grund, dies zu tun, nicht gibt: Eine Gesellschaft, der ein Teil ihrer signifikanten Kunstleistungen vorenthalten bleibt, wird sich nie auf die mögliche Höhe des Bewußtseins ihrer selbst emporarbeiten können.
Aber es drängen sich auch einige Einwände zu, die mit dem hier erörterten Lückenproblem nichts zu tun haben. Da war aus der Erbmasse, die Becher heißt, eine Handvoll von Gedichten herauszufiltern, welche noch immer erinnernswert sind. Kein Zweifel, es lassen sich etliche finden. Selbst die Anthologie von 1970 enthielt übrigens ein Gedicht wie „Mitten im Gewitter“. Gerade das freilich übergingen die Anthologisten – wohingegen sie ein so unfreiwillig komisches Sonett wie „Auf die Grammatik“ favorisierten:

Ich bin dein Fall und bin der Fall der Fälle,
Bin Substantiv, bin Verb und Adjektiv…

Oder Maurer: Die Auswahl, die hier getroffen wurde, beleuchtet allzu rein nur den traditionsbewußten Harmonisten. Als hätte Georg Maurer nicht schon 1956 – auch – dieses „Sturm“-Gedicht geschrieben, das trotz seiner bildsprachlichen Umständlichkeit erinnert zu werden verdient:

Des Herzens Landschaft beginnt zu grünen…

Da schiebt des Bürokraten Amtstisch, das unselige Viereck,
wie der Zelle Fenster sich vor den unendlichen Himmel.
Vergittert atmen die Blumen. Die gewachsenen Schriften,
die das Leben künden, werden gepreßt in des Hirns Herbarium;
Farblos, ohne Saft, vergilben die Blätter. Das ausgestanzte Zitat
wird eingebrannt den lebendigen Körpern.
Die Wirklichkeit zuckt unter dem leblosen Prägstock.
Beim Abendbrot sitzt er der Frau gegenüber. Des Zweifels Schlangen
trinken das Blut seines Herzens…

Und geradezu unverzeihlich, daß das Gedicht „Metaphysische Augenblicke“ (1963) unberücksichtigt geblieben ist. Nur acht Verse: Was alles sie jedoch in sich bergen!:

Leicht bin ich wie Zwischenräume,
diese unangreifbaren Leeren,
wo die Salamander schlüpfen,
die die Feuer nicht versehren.

Heiter zwischen Flammenpunkten
wandle ich auf grünen Weiden,
wo man die Zusammenstöße
nicht mehr kennt und nicht die Leiden.

Ein drittes Exempel: Bobrowski. Der in der Anthologie mit den acht Gedichten, die ausgewählt wurden, gewiß „gültig“ repräsentiert erscheint – nur daß man sich über all jene Texte erhob, die vergleichsweise unmittelbar aus aktuellen Situationen schlimmer Verzweiflung erwuchsen:

Aber
wer erträgt mich,
den Mann mit geschlossenen Augen,
bösen Mundes, mit Händen,
die halten nichts, der dem Strom
folgt, verdurstend,
der in den Regen atmet die andere Zeit,
die nicht mehr kommt, die andre,
ungesagte, wie Wolken,
ein Vogel mit offenen Schwingen,
zornig, gegen den Himmel,
ein Gegenlicht, wild.

(„Gegenlicht“; 1959)

So fehlt der Bobrowski jener ungedämpften, ja schroffen Gedichte, die er doch auch schrieb, ganz und gar; es fehlt ein Gedicht wie „Stadt“ (1963), dessen „Hier“-Befund von schneidender metaphorischer Bezeichnungsschärfe ist:

Hier
springen die Steine, gemalte
Wände, die Treppe
bricht, um die Taubenkadaver.
– ihre Standarten –
stellen sich die Rattenheere auf.

In Hinblick aber auf die siebziger und vor allem auf die achtziger Jahre muß den Anthologisten ihre übergroße Toleranz vorgeworfen werden. Das meint: Dem Buche wäre zustatten gekommen, wenn sich die Auswahl stärker am Qualitätskriterium und weniger an dem der Namensquantität orientiert hätte. Ich unterlasse es, nun Namen zu nennen, die meiner Meinung nach zu Unrecht berücksichtigt wurden. (Und ich verzichte auch auf Anmahnungen der Art, daß ich den Anthologisten jetzt auflistete, wen sie bei ihren Maßstäben, indem sie ihn übergingen, denn doch sehr schnöde behandelten – man denke nur an Bernhof.) Ernstlich hervorzukehren ist indessen, was sich als Folge der Unentschiedenheit ergab: Ziemlich viele Autoren sind mit nur ein bis zwei Gedichten vertreten; Profile können sich so nicht herstellen; und es kommt dazu, daß sich die Anthologie schließlich ausgesprochen „verkleckert“. Mensching ist es dann, der, ans Ende placiert, mit einer Kollektion von drei Gedichten die Diffusion ein bißchen auffangen soll. Nun ja. Und der Bogen des Bandes spannt sich demnach von Becher bis zu ihm. Vielleicht, daß es damit sein Bewenden haben mußte; vielleicht auch, daß dies allenthalben akzeptiert und als selbstverständlich betrachtet wird. Ich selbst könnte allerdings für eine Anthologie, die von Brecht bis Papenfuß reichte, ein höheres Maß an Sympathie aufbringen. (Übrigens sage ich damit gegen den Autor Mensching nicht das mindeste.) Womöglich hat die Kompromißhaftigkeit des Buches auch damit zu tun, daß drei gewiß unterschiedlich disponierte Herausgeber am Werke waren und gütlich sich einigen mußten. Und die Kollektivität sicherte zwar eine relative Weite des Blickwinkels, doch wirkte sie zugleich profilnichtend. Dabei bleibt zu wiederholen, daß die Anthologie ihr Verdienstliches hat und keineswegs nur offene Türen einrennt: Zu dem, was sich die Auswählenden gegenseitig ablockten, zählt manches Gedicht, welches dem Band gut zu Gesichte steht. Aber gerade er regt nun kräftig den Wunsch nach einer solchen Sammlung an, die von subjektivem Format zeugt und sich vor Beiläufigem zu bewahren weiß – oder besser: den Wunsch nach mehreren solcher Sammlungen. Was Endler und Mickel seinerzeit unternahmen, es läßt sich mehr denn je als denkwürdiges Exempel begreifen; und es wäre schön, gäbe es in Zukunft einige vergleichbare Anthologien.

Bernd Leistner, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 1989

 

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