GRIECHENTUM
Diese Bäume passen sich einem geringeren Himmel nicht an
diese Steine fühlen sich nicht wohl unter dem fremden Schritt
diese Gesichter können nicht anders als unter der Sonne sein
diese Herzen können nicht schlagen, wenn nicht im Recht.
Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen
es hält unter seiner Achsel das heiße Gestein fest
es hält in seinem Licht die verwaisten Ölbäume fest, mit den Zähnen
seine Weinstöcke. Es gibt kein Wasser. Nur Licht.
Der Weg verliert sich im Licht, und der Schatten der Mauern ist wie Eisen.
Die Bäume, die Flüsse und die Stimmen sind im Kalk der Sonne marmorn geworden.
Die Wurzel stößt sich am Marmor. Die verstaubten Seile.
Der Muli und der Fels. Sie hecheln. Es gibt kein Wasser.
Alle dürsten. Jahre schon. Alle kauen sie einen Bissen Himmel über ihre Bitterkeit.
Ihre Augen sind rot vor Schlaflosigkeit.
Eine tiefe Furche, eingekeilt zwischen ihren Augenbrauen
wie eine Zypresse zwischen zwei Bergen im Sonnenuntergang.
Ihre Hand klebt am Gewehr
das Gewehr ist die Fortsetzung des Armes
der Arm ist die Fortsetzung ihrer Seele
auf ihren Lippen haben sie den Zorn
und sie haben die Leidenschaft tief in den Augen.
Wenn sie die Hand ballen, ist sich die Sonne über die Welt gewiß
wenn sie lächeln, fliegt aus ihren Bärten eine kleine
Taube auf, fliegt aus der Hand des Morgens in den Wald
wenn sie schlafen, fallen zwölf Sterne aus ihren leeren Taschen
wenn sie fallen, zieht das Leben bergauf weiter mit Fahnen und mit Trommeln.
So viel Jahre hungern sie alle, dürsten und werden getötet
eingeschlossen zu Wasser und zu Lande
die Hitze hat ihnen die Äcker aufgefressen, und das Salz ist durch ihre Hauswände gedrungen
der Wind hat die Türen herausgerissen und den wenigen Flieder des Platzes
durch die Löcher ihres Überrocks kommt und geht der Tod
ihre Zunge ist rauh wie das Zypressenblatt
gestorben sind ihre Hunde, eingehüllt im eigenen Schatten
der Regen peitscht ihre Gebeine.
Auf den Gipfeln versteinert, rauchen sie die Nacht
schauend auf das tobende Meer, da gerade der zerbrochene Mast des Mondes unterging.
Das Brot ist alle, die Kugeln sind alle
sie füttern die Kanonen nur mit ihren Herzen.
So viel Jahre eingeschlossen zu Wasser und zu Lande
alle hungern, alle fallen, doch niemand ist gestorben
auf den Gipfeln leuchten ihre Augen
eine große Fahne, ein gewaltiges Feuer blutrot
und jeden Morgen fliegen Tausende von Tauben aus ihren Händen
zu den vier Toren des Horizonts.
Iannis Ritos
Deutsch von Thomas Nicolaou
nimmt die Dichtung Verantwortung von Jahrhunderten auf sich. Griechenland wies der Welt, wie Intelligenz und Leidenschaftlichkeit im Wort ihre Heimstatt haben konnten. Und die Worte zu Zeilen, die Verse zu Strophen, die Strophen zu Gesängen sich auszudehnen vermögen, die durch Jahrhunderte hindurch lebendig und wohltönend bleiben.
Wir sehen, wie die heutigen Griechen heilige Wurzeln haben. Ihre Flügel aber, im Wind der Epoche fliegend, sind unmittelbar vor uns, den Weg der Weisheit vorwärts treibend.
Wir sind verpflichtet, an die Gefangenschaft vieler dieser Stimmen zu denken. Nichts schmerzlicher, als in dieser Stunde diese Worte beschwören, da das griechische Leiden an die Stelle des griechischen Denkens tritt, und wir nicht denken können, nur verfluchen, da wir uns unfähig, ohnmächtig fühlen, die tragische Geschichte der Verfolgungen zu tilgen, die Griechenland erdulden muß. Uralte tyrannische Mythen umschnüren wie die Schlangen Laokoons diese strahlende Erde.
Wir, Amerikaner, wir kennen diese Schmerzen. In den rückständigsten unserer Republiken: in Guatemala, dem schönen, in Nicaragua, dem helltönenden, in Paraguay, dem tiefen, kamen kleine militärische Henker an die Macht, die für lange Jahre die Rechte und die Stimme der Völker begruben. Dichter und Revolutionäre wurden grausam gehetzt. Versumpfte Inseln und Erdstriche dienten den besten Männern dieser Länder als Gefängnis. Griechenland aber, das erhabene, vergötterte, das herrliche, kann es in diesem Augenblick, nahe schon dem Jahre 2000, gleich sein an Gewalttätigkeit und Grausamkeit den finsteren Tyrannen meines Kontinents? Wie nur kam Athen dazu, nicaraguensisch zu werden?
Ach, mögen andere doch diese schrecklichen Tatsachen untersuchen, diese unglaubliche Auferstehung der Finsternis.
Meinem Bruder Iannis Ritsos, allen, die da in den griechischen Kerkern leiden und kämpfen, unser bestes Wort, die flammendste Nelke unserer Tage. Denn sie sind das einzige, das wahre und ewige Griechenland für uns. Und mögen ihre Henker sich nicht täuschen: die ganze zaubermächtige Poesie dieses Buches, ein jedes Wort, jede Zeile, ist den Unterdrückern feind. Jede einzelne dieser Zeilen vereint dem Weltchor der Freiheit sich, in dem Griechenland, mit der Stimme seiner Dichter singend, wieder seinen Platz einnehmen wird.
Pablo Neruda, Isla Negra, Mai 1968
Deutsch von Erich Arendt
Hört, ihr Kinder der Hellenen,
nun ist da der Tag des Ruhmes!
Auf, uns gleich zu zeigen jenen,
denen wir entsprossen sind!
Laßt die Ketten der Tyrannen
festen Mutes uns zerbrechen,
laßt uns jeden Schimpf nun rächen,
jede Schmach des Vaterlandes…
Mit den von Leidenschaft und mitreißender Begeisterung erfüllten Versen eines Rígas Velestinlís, genannt Pheräos (1757–1798), reihte sich kraftvoll eine Stimme vom südlichen Balkan in den Chor ein, der Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Befreiung der Völker über den Kontinent erschallte. Sein Aufruf zum Sturz der türkischen Fremdherrschaft ertönte gleich einem Fanal, er verklang nicht ungehört im griechischen Volk. Noch bei einem späteren Dichter, bei Kostís Palamás, heißt es von ihm „Rigas Trompete schmettert hell“. Und wie Pheräos, so begannen in Griechenland nach Jahrhunderten der Knechtung sich auch andere der ruhmvollen Vergangenheit, der stolzen freiheitlichen Traditionen der Antike zu besinnen. Da ist vor allem der kretische Dichter Iánnis Vilarás (1771–1823) zu nennen, dem es gelang, die Schranke zu überwinden, die die Literatur der Fanarioten, der griechischen Beamtenschaft an der Hohen Pforte, zwischen gebildeter Oberschicht und einfachem Volk errichtet hatten. Seine Übertragung der antiken griechischen Homerparodie, des „Froschmäusekrieges“, ins Neugriechische stellte ein Meisterwerk dar, in dem der kretische fünfzehnsilbige Vers wieder Schönheit und Melodie gewann.
Die Hoffnung auf Freiheit, die sich allenthalben verkündete, fand kraftvollen Ausdruck besonders im Volkslied. In den Liedern der Klephten manifestierte sich freiheitliche Gesinnung in einer Weise, die ihnen auch außerhalb Griechenlands begeisterte Aufnahme verschaffte und zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zum Beispiel im Deutschen zur Übersetzung (u.a. Goethe) und Sammlung führte (am bekanntesten ist wohl die Sammlung von Wilhelm Müller, 1825) und sogar zu eigenen „Liedern der Griechen“ (ebenfalls W. Müller) anregte. Die typische Gestalt im neugriechischen Volkslied ist der Vassilís, ein armer, zu Frondiensten gezwungener Bauer, der Haus und Hof verläßt, um nicht länger Knecht der Türken und Sklave der Gutsbesitzer sein zu müssen, der in die Berge geht und Klephte wird. Das Klephtenlied ist erfüllt vom Haß und Zorn des unterdrückten Volkes, und es enthält zugleich seine Sehnsucht nach einem von Armut und Knechtschaft freien Leben. Der Drang nach Freiheit, der sich im Volkslied und in der Dichtung des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit aller Macht ankündete, löste den Befreiungskampf gegen die Türken (1821–1829) aus. Getragen von der großen Masse der verelendeten und landlosen Bauern und der Bourgeoisie, vorwiegend der Handelsbourgeoisie, die sich unter dem feudalabsolutistischen Regime des Sultans nicht entfalten konnte, leitete der Befreiungskrieg eine nationalstaatliche Entwicklung ein, die durch die Einverleibung Griechenlands in das Osmanische Reich seit dem 14./15. Jahrhundert unterbrochen war. Diese neue Epoche wird gekennzeichnet durch die Emanzipation. des Bürgertums zur herrschenden Klasse und durch die kapitalistische Form der Produktion.
In dem Maße, wie sich das griechische Bürgertum politisch und ökonomisch konsolidierte, wuchsen seine geistigen-kulturellen Potenzen. Die neugriechische Literatur, die mit Velestinlís ihre erste Blüte erlebt hatte, begann sich zu entfalten. Dionýsios Solomós’ (1798–1857) Hymne an die Freiheit von 1823 bedeutete die eigentliche Geburt der neugriechischen Lyrik. Der Dichter besingt die heldenhaften Kämpfer der Volkserhebung von 1821/22: den Fall von Tripolitsá, die Vernichtung des Drámalis auf dem Peloponnes und die Heldentaten der griechischen Seefahrer. Nach ihrer Veröffentlichung wurde die Hymne sofort in mehrere Sprachen übersetzt; seit 1863, nach dem Anschluß der Ionischen Inseln an Griechenland, bilden die ersten drei der insgesamt 154 Strophen der Hymne an die Freiheit in der Vertonung von Nikólaos Mántzaros (1795–1872), der wie Solomós aus Kérkyra stammte, die griechische Nationalhymne.
Auf den Ionischen Inseln, die unter italienischem Einfluß standen entfaltete sich das geistige Leben freier als in den Gebieten, über die der byzantinische Hof geboten hatte. Hier scharte sich um Solomós eine Gruppe von Dichtern und Kritikern, die als „Ionische Schule“ in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Zu ihnen gehören Gherássimos Márkoras (1826–1911), Lorénzos Mavílis (1860 bis 1912). Solomós, der in Italien aufgewachsen war und in Padua studiert hatte, war entgegen seiner vornehmen adligen Herkunft einer der liberalsten Männer seiner Zeit. „Die Nation muß lernen, das als national anzusehen, was wahr ist“, schrieb er. Und sein Streben nach Wahrhaftigkeit schloß das Bemühen um eine aus dem Volksidiom der Ionischen Inseln erwachsene, dem Volke zugängliche Literatursprache ein.
Einen etwas anderen Weg als die Dichter der „Ionischen Schule schlug der auf Zakynthos, ebenfalls einer Ionischen Insel, geborene Andréas Kálvos (1792–1869) ein. Sein Werk steht unter dem Einfluß der klassizistischen Dichtung Italiens und hat Themen der griechischen Antike zum Inhalt. Im Ausland, wo er die meisten Jahre seines Lebens verbrachte, in Italien, in der Schweiz, in Frankreich und England, wurde er als „der neue Pindar“ gerühmt. Begeistert begrüßte auch er den Aufstand von 1821. Von Zürich kehrte er nach Griechenland zurück, um sich am Kampf gegen die Türken zu beteiligen: „Die Pflicht ruft mich zurück in die Heimat , schrieb er in einem Brief. Doch blieb ihm im befreiten Griechenland – er ging nach Nauplion, der damaligen Hauptstadt des Landes, später nach Kérkyra, der Hauptstadt der Ionischen Inseln – ein Betätigungsfeld versagt. Verbittert verließ er Griechenland und verlebte seine letzten Jahre in England, wo aus Sehnsucht nach der Heimat einige seiner am tiefsten empfundenen Gedichte entstanden. Sein Wunsch: „Möge mir das Schicksal kein Grab in fremder Erde bescheren“, erfüllte sich nicht.
Daß Kálvos und die anderen Dichter der „Ionischen Schule sowie auch der ihnen verwandte Aristotélis Valaorítis (1824–1879) aus Leukas zunächst keinen Einfluß auf das kulturelle Leben des jungen unabhängigen Staates gewannen, liegt in der Entwicklung des Landes begründet, das nach der Befreiung auf Beschluß der „Schutzmächte“ Rußland, England und Frankreich 1832 der Herrschaft des Prinzen Otto von Bayern unterstellt wurde. Die Bayernherrschaft verstand es nicht, alle durch den Befreiungskrieg wachgerufenen Kräfte zusammenzufassen und zielstrebig den Aufbau eines Nationalstaates voranzutreiben, für dessen Entfaltung im Gegenteil erst nach der Vertreibung des bayrischen Monarchen (1862) freiere Bahn gegeben war. Seit Athen 1835 zur Hauptstadt geworden war, etablierten sich hier die neuen politischen Repräsentanten des Landes die sich in einer russischen, englischen und französischen Partei vereinigt hatten und mehr darauf aus waren, die Interessen der Großmächte zu sichern als die Belange der damals erst 600.000 Einwohner im befreiten Lande zu vertreten. Eine Lösung der dringlichsten sozialen Probleme, vor allem der Agrarfrage, blieb aus. Die bürgerlich-demokratische Revolution war nicht über ihre erste Phase, den nationalen Befreiungskrieg gegen die Türken, hinaus gelangt. Das Land drohte den Kolonialisierungsbestrebungen Großbritanniens, gegen die kein Geringerer als Karl Marx eine scharfe Feder führte, zu erliegen.
In Athen beherrschte eine Gruppe fanaríotischer Dichter das literarische Leben. Im Unterschied zu den Vertretern der „Ionischen Schule“ wurden sie die „Athener Schule“ genannt, der unter anderen Aléxandros Rangavís (1809–1892), der leidenschaftliche Antiklerikalist Andréas Laskarátos (1811–1901), Ilías Tandalídis (1818–1876) angehörten. Ihre zum Teil in der Tagespresse als politische Pamphlete und Polemiken abgedruckten Gedichte hatten nur Scheinprobleme zum Inhalt. Überschwengliches Pathos, Flucht in eingebildete Welten, tödlich ausgehende Liebschaften, Selbstmordgedanken, Klagelieder, nostalgische Sehnsucht nach der großen Vergangenheit, überhaupt eine gegenüber der realen Welt hilflose Einstellung waren typische Kennzeichen für die Dichtung dieser Zeit.
Diese Poesie blieb dem Volke, das in seiner Mehrheit ein einfaches bäuerliches Leben führte, fremd, zumal sich die Dichter der „Athener Schule“ der archaisierenden, dem Altgriechischen entlehnten und vom byzantinischen Beamtenapparat gepflegten „Rein“sprache, der Katharévussa, bedienten. Der Demokratisierungsprozeß innerhalb der griechischen Gesellschaft konnte auf kulturell-geistigem Gebiet nicht weiter voranschreiten, ohne daß das Sprachenproblem gelöst wurde. Der Volkssprache (Dimotikí) als Literatursprache zur Geltung zu verhelfen, stellte für jede progressive Bewegung ein Kardinalproblem dar, ging es doch dabei um die grundlegende Voraussetzung, für breiteste Schichten Zugang zu Bildung und Kultur zu schaffen, eine Forderung, die übrigens heute mehr denn je Gültigkeit hat. So gesehen, war die Sprachfrage zu keiner Zeit ein Problem, das etwa Linguisten oder Literaten hätte überantwortet werden können; in den Auseinandersetzungen um die Dimotikí gerieten die Anhänger der beiden Sprachformen bisweilen in regelrechten Straßenschlachten aneinander. Sie waren in erster Linie ein Ausdruck für die unterschiedlichen Auffassungen zwischen konservativem und liberalem Flügel innerhalb des bürgerlichen Lagers. Eine neue Etappe bei der Durchsetzung der Dimotikí markiert das Erscheinen von Iánnis Psycháris’ (1854–1929) Meine Reise im Jahre 1888. Dieses Buch des an der Pariser Sorbonne tätigen griechischen Professors für Sprachwissenschaft rief eine große Resonanz hervor, für die die schwärmerische Beschreibung in Das heutige Griechenland (1896) von Gaston Deschamps zeugt:
Alles in allem ist dieses Buch für die, welche in vertrautem Verkehr mit den Pallikáren gelebt haben, eine sehr angenehme Lektüre. Es erweckt köstliche Erinnerungen und Phantasien, weniger durch das, was es sagt, als durch die Art, wie es dies sagt. Das duftet nach frischen Oliven, nach Ziegenkäse und Tönnchen gesalzener Fische. Man findet auf diesen Blättern die Sprechweise und das Alltagsgebaren des griechischen Volkes wieder: seine aufgeweckte Lebhaftigkeit, sein mit Schelmerei gemischtes Pathos, seine Zweifelsucht und seine Begeisterung, seine gute Laune, der die schrecklichsten Wechselfälle nichts anhaben konnten, seine philosophische Verachtung gegen die zufälligen Eroberer, die ihr Zelt auf seinem Erbsitz aufpflanzten, seinen Stolz auf die Vergangenheit und sein heiteres Vertrauen in die Zukunft.
Diese Beschreibung laßt zugleich erkennen, wie als Reaktion auf den sterilen Akademismus, den die „Athener Schule“ pflegte, eine Hinwendung zur „neugriechischen Wirklichkeit“ erfolgte, eine Volkstümelei, die an der Realität ebenso vorbeiging. Erste sozialistische Gruppen, die gegen die politische und geistige Entmündigung der ausgebeuteten Klassen angingen, hatten sich 1878 in verschiedenen Gruppen gebildet. In der Literatur konnten sie sich mit ihren Ideen noch nicht durchsetzen.
In der Geschichte der neugriechischen Literatur bedeutet das Auftreten der „Zweiten Athener Schule“ um 1880 eine Zäsur. Gegenüber dem Purismus der „Ersten Athener Schule“ erreicht diese neue Richtung, die das Leben und die Gebräuche des einfachen Volkes zum Gegenstand der Dichtung macht und sich der Volkssprache bedient, eine Neubelebung der griechischen Literatur. Folgende Dichter sind ihr zuzuzählen: Kostís Palamás (1859–1943), Årjyris Eftaliótis (1849–1923), Jeórjios Drosínis (1859-1951), Miltíadis Malakássis (1869–1943), Lámbros Porfýras (1879–1932), Kóstas Kristállis (1868–1894), Ajis Théros (1885–1960). Das Haupt der „Zweiten Athener Schule“ ist Kostís Palamás, der der griechischen Dichtung in Europa zur Geltung verhalf. Er wurde in Pátras geboren und wuchs in Messolóngi auf, in dieser vielbesungenen Bastion des Befreiungskampfes. In Athen studierte er die Rechte und blieb in der Stadt zunächst als Publizist, später wurde er Generalsekretär der Universität und 1926 seit ihrer Gründung Mitglied der Akademie. Mit seinem lyrischen Werk, hier seien nur genannt Lieder meiner Heimat, Unwandelbares Leben, Dodekalog des Zigeuners, Die Schalmei des Königs, setzte er die progressiven Traditionen der neugriechischen Literatur (Volkslied, Solomós) fort. Erst die Generation, die um die Jahrhundertwende in die Literatur eintrat, zum Beispiel Rigas Gólfis (1886–1957), Galatía Kazantzáki (1887–1962), Téllos Agras (1899–1944), Jeórjíos Kotsioúlas (1909–1956), Napóleon Lapathiótis (1893–1942), löste sich von der Idealisierung des Hellenentums. Die „Große Idee“, die griechisches Wesen über alles stellte und ein Großgriechenland proklamierte, hatte sich nicht tragfähig erwiesen, eine Erneuerung der griechischen Gesellschaft und einen Ausgleich der ihr innewohnenden Gegensätze herbeizuführen. Neue Töne klangen in der Dichtung erst auf, als es gelang, mit nüchterner Sachlichkeit Ausschnitte der griechischen Wirklichkeit zu erfassen.
Einen selbständigen Platz innerhalb der neugriechischen Lyrik nimmt Konstantínos Kaváfis (1863–1933) aus Alexandria ein. Als Ägypten Ende des 19. Jahrhunderts seine Tore dem Handel mit anderen Ländern öffnete, entstand in Alexandria eine griechische Kolonie von Kaufleuten, die schnell zu Einfluß gelangte. Kaváfis stammte aus einer solchen wohlhabenden Kaufmannsfamilie, bezog jedoch eine Abwehrstellung gegen diese prosperierende Schicht. Aus einer Außenseiterposition erwuchs sein poetisches Werk, das für ihn eine Lebensbewährung darstellte. Erst als altersreifer Mann, nachdem er die klassizistische Kunstsprache aufgegeben hatte und sich der Sprache seiner Zeit zu bedienen begann, fand er in der locker gefügten Struktur des spruchartigen Gedichts seinen eigenen Stil und gewann besonders nach 1930 bedeutenden Einfluß auf die neugriechische Lyrik.
Die in ihrem Grundzug pessimistische Lebenssicht, wie sie sich im Schaffen von Kaváfis und auch von Kóstas Ouranís (1890–1953) sowie von dem bedeutenderen Kóstas Karyotákis (1896–1928) offenbart, hat ihre Wurzeln nicht zuletzt in der gesellschaftlichen Entwicklung Griechenlands in den ersten Dezennien unseres Jahrhunderts. Im Verlaufe der Balkankriege, des ersten Weltkrieges und des griechisch-türkischen Krieges, der mit einer Katastrophe endete, verschärften sich die politischen und ökonomischen Widersprüche. Die halbkoloniale Abhängigkeit Griechenlands von Großbritannien, die unterentwickelte Volkswirtschaft und die zum Teil noch unter feudalistischen Verhältnissen arbeitende Landwirtschaft sind Hauptursachen für die Notlage des Volkes. In dieser Zeit formieren sich die Kräfte, die die Nation aus der sich nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland weiter vertiefenden allgemeinen Krise des Kapitalismus herauszuführen gewillt waren: 1909 wurde die Griechische Sozialistische Partei gegründet, 1918 folgte die. Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Griechenlands, die 1920 als Sozialistische Arbeiterpartei (Kommunisten) der Kommunistischen Internationale beitrat und sich 1924 in Kommunistische Partei Griechenlands umbenannte.
In den sich in der griechischen Gesellschaft vollziehenden Polarisierungsprozeß ist auch die Entwicklung der Literatur einbegriffen. Es entstehen keine neuen Schulen, die in stärkerem Maße hervortretenden Begabungen ganz individueller Natur verfolgen eigene Wege. Von ungewöhnlicher Kraft, geistiger Tiefe und lyrischer Schönheit ist das Werk des Ángelas Sikelianós (1884–1951) aus Lefkadjá. Seine humanistische Haltung, die ihn in den schweren Jahren des zweiten Weltkrieges zu einem streitbaren Verfechter der Sache seines Volkes werden ließ, verschaffte ihm und seiner Dichtung hohe Achtung. – Wegen seiner Bedeutung für die neugriechische Literatur sei hier auch der aus Kreta gebürtige Nikos Kazantzákis (1883–1957) erwähnt, obwohl er eigentlich als Prosaiker weltliterarischen Rang genießt. Sein großes episches Gedicht Odýssia enthält aber lyrische Partien ganz eigenartigen Wertes und wurde deshalb in einem Auszug in diese Anthologie aufgenommen. – Von ähnlichen Positionen wie Kaváfis und Karyotákis ausgehend, fand Kóstas Várnalis (geb. 1884) den Weg an die Seite des jungen griechischen Proletariats. Ein Sarkast, dessen Ironie zutiefst verletzend wirkt, ein Verneiner der bürgerlichen Welt und ihrer überholten Werte, wurde er zum Kämpfer für ein neues, besseres Griechenland. Entscheidend für seine weltanschauliche Wandlung war ein Aufenthalt in Paris, wo er mit dem revolutionären Gedankengut der Arbeiterklasse bekannt wurde und sich der Arbeiterbewegung anschloß. Faschismus, Krieg, Bürgerkrieg und erneute Verfolgung durch die Militärjunta konnten ihn nicht beugen. Für seine aufrechte Haltung wurde ihm 1959 der Internationale Lenin-Friedenspreis zuteil. Várnalis gilt heute als Vater der sozialistischen Literatur Griechenlands.
Die gewaltige Volksbewegung zur Befreiung von den faschistischen deutschen Okkupanten und zum Sturz des faschistischen Regimes aktivierte die Schriftsteller des Landes, die sich in überwiegender Mehrzahl dem Befreiungskampf anschlossen. Die Werke der griechischen Schriftsteller aus dieser Zeit gehören zum Besten, was vor und während des zweiten Weltkrieges an antifaschistischer Literatur geschrieben wurde. Dichter wie Myrtiótissa – eigentlich: Théoni Drakopóulou (geb. 1883), Vassílis Rótas (geb. 1889) haben sich einen festen Platz innerhalb der neugriechischen Lyrik erworben, Seine Befreiung hatte das griechische Volk, das sich in der Nationalen Befreiungsfront (EAM) 1941 eine einheitliche Organisation aller patriotischen Kräfte geschaffen hatte und in der Volksbefreiungsarmee (ELAS) eine ausgezeichnet organisierte Garde besaß, im Herbst 1944 aus eigener Kraft errungen. In der Nationalen Befreiungsfront waren die Kräfte formiert, die nach der Befreiung vom Faschismus eine grundlegende Veränderung der griechischen Gesellschaft hätten herbeiführen können. Die militärische Intervention Großbritanniens und der Terror gegen die demokratische Bewegung lösten einen jahrelang währenden Bürgerkrieg aus. Dichter wie Kostas Jannópoulos und Revolutionäre wie Nikos Belojánnis wurden Opfer der Reaktion. Eine große Zahl von Angehörigen der breiten demokratischen Bewegung wurde vertrieben. Als nach Jahren tiefer politischer Krise durch den Willen des Volkes eine liberale bürgerliche Regierung zustande gekommen war, unter der sich die demokratischen Kräfte freier betätigen konnten, inszenierte das nordamerikanische Monopolkapital aus Furcht vor der anwachsenden demokratischen Bewegung am 21. April 1967 einen Militärputsch und errichtete eine faschistische Diktatur. Diese extrem reaktionäre politische Entwicklung verlangt den Zusammenschluß aller patriotischen Kräfte in einer antifaschistisch-demokratischen Front, zu deren Herold die Dichter heute – wie im Befreiungskampf gegen die Türken vor hundertfünfzig Jahren – berufen sind.
Eine Anthologie neugriechischer Lyrik vermag vor Augen zu führen, welche großen demokratischen Traditionen die neugriechische Literatur aufzuweisen hat, Traditionen, die auch nach dem zweiten Weltkrieg fortgeführt wurden. Heute wird die neugriechische Lyrik durch Dichter wie Kóstas Várnalis, Iánnis Rítsos (geb. 1909), Nikifóros Vrettákos (geb. 1911), Odysséas Elýtis (geb. 1911), Jeórjios Seféris (1900–1971) repräsentiert. Stilauffassung, Thematik, Engagiertheit sind bei ihnen höchst unterschiedlich ausgebildet. Der Einfluß der modernen französischen (Eluard, Aragon) und englischen Lyrik (Eliot) und ebenso Lorcas, Nerudas, Hikmets, Majakowskis ist unverkennbar. War das griechische Gedicht bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts zumeist auf nationale Probleme festgelegt, spannte sich seitdem der Bogen weiter, und die griechische Lyrik fand steigende Beachtung außerhalb des Landes. Werke von Palamás, Kaváfis, Karyotákis, Seféris, der 1963 den Nobelpreis erhielt. Elýtis, Várnalis, Rítsos erschienen in mehreren Sprachen.
Die Unmittelbarkeit, die die griechische Dichtung während der Zeit des nationalen Befreiungskampfes gewonnen hatte und die, wie bei Sikelianós, Várnalis, Rítsos, Vrettákos, die Verantwortung des einzelnen für die Gesellschaft voraussetzend, diese gleichzeitig zur Forderung erhebt, blieb auch danach erhalten. Die hier aufgenommenen Beiträge von Téfkros Anthías (geb. 1903), Mélpo Axióti (geb. 1905), Tássos Livaditis (geb. 1922), Kóstas Iannópoulos (gest. 1948), Vassilis Vassilikós (geb. 1930) geben Beispiele für eine Literatur, deren Wirkung auf die Beförderung des gesellschaftlichen Fortschritts zielt. Eine breite Resonanz erlangte seit den fünfziger Jahren das vertonte Gedicht. Besonders Gedichte von Iánnis Rítsos wurden zu wahren Volksliedern und erreichten eine Ausstrahlungskraft, mit der sie revolutionierend wirkten.
Der 1909 in Monemvassiá geborene Iánnis Rítsos hatte sich durch seine schon in früher Jugend begonnenen poetischen Versuche frühzeitig den Blick für die ihn umgebende Wirklichkeit geschärft. Mit geradliniger Konsequenz schloß er sich der kommunistischen Bewegung an. Seine in den dreißiger Jahren erschienenen Bücher wurden unter der faschistischen Metaxas-Diktatur verboten, von 1948 bis 1952 wurde Rítsos selbst von der monarcho-faschistischen Regierung auf den Verbannungsinseln Límnos, Makrónissos, Ájios Efstrátios festgehalten und nach dem 21. April 1967 von der Obristenjunta sofort wieder in Konzentrationslager (Léros, Sámos) geworfen. Seine Dichtung ist vom Reiz der mediterranen Welt erfüllt, ihre Struktur wird von der Sphäre der modernen Technik geprägt. Sie ist ein er Poesie entgegengerichtet, die sich in beziehungsloser Idyllik und im formalen Experiment verliert. Metaphern aus Gedichten von Elýtis und Seféris übernehmend, macht er deutlich, welch großer Kontrast zwischen „Ägäis-Poesie“ und griechischer Wirklichkeit besteht; sein Gedicht „Die Wurzeln der Welt“, das in der Übersetzung von Vagélis Tsakíridis zitiert wird, ist hierfür ein Beispiel:
Einige verbrannte Binsen in der Achselhöhle des Sommers
einige Salbeipflanzen
Thymian.
Sehr gedürstet haben wir.
Wir haben sehr gehungert.
Wir hatten Schmerz.
Niemals haben wir geglaubt
an solche Härte unter Menschen.
Niemals haben wir geglaubt
unser Herz könne so fest sein.
Unrasiert
mit einem Stück Tod in der Tasche
– wo ist denn jetzt eine Ähre, die „Guten Tag“ sagt?
Es wird Abend.
Die Dämmerung, eine im Sand versteckte Feldflasche.
Der Mond ruht sich an einer anderen Küste aus
das stille Wasser rollte ihn mit dem kleinen Finger –
an welche Küste? welches stille Wasser?
Sehr gedürstet haben wir,
am Stein gearbeitet, den ganzen Tag.
Unter unserem Durst
wachsen die Wurzeln der Welt.
Eine Übersicht über die Geschichte der neugriechischen Lyrik vermag nur anzudeuten, in welchem Maße das verpflichtende Erbe der Antike, ein die Dichtung aller Mittelmeervölker bestimmendes Naturgefühl, der in allen Epochen vorhandene Einfluß fremder Literaturen und im besonderen die spezifischen gesellschaftlichen Voraussetzungen das Werk der einzelnen Dichter geformt haben. Wollte man aber noch so ausführlich auf die hauptsächlichsten Entwicklungslinien und wichtigsten Komponenten eingehen, bliebe immer noch der Rang unbestimmt, den die neugriechische Lyrik beanspruchen kann. Die Poesie, die im geistigen Leben dieses Landes immer eine vorrangige Stellung innehatte, zeugt heute für das wahre Griechenland.
Thomas Nicolaou, Drispeth, Juli 1970, Nachwort
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