DER NACKTE GINSBERG
ist auf das Feuerleiter-Z geklettert,
zeigt denen, die unter ihm wohnen:
Ich habe Gott gesehen! Immer
noch dort, auf der Höhe eines
niederen Seraphim, ungefähr
in der Sphäre der sechs Gesims
engel des Bayardbuildings;
ihre weit ausgebreiteten Arme,
als würden alle gemeinsam
herunterspringen. Altmodisch
ist die Stadt geworden,
spätestens seit die Fedayin-Piloten
ihre Filme echteten, toppten,
seit das 21. Jahrhundert sein Colosseum
reinschlug als Grube, Nichts.
Die Entkommenden sahen
aus wie ein Stamm.
Sonne, Mond und Sterne
sind nach wie vor Wolkenkratzer,
und auf denen, die den nackten Ginsberg
beherbergen, wachsen Bäume.
Selbst gewaltigere spenden farbiges Licht.
Solche Gebirge, nebelverhangen,
und aus den Gullys der Schluchten
steigt Dampf, in die Madison Ave.,
in die Fifth Avenue. Donald Trump
verkündet, die Twin Towers nach
bauen zu wollen, höher! Derweil
in einem Shabu Shabu Restaurant
sitzen, am Haus von Edgar Allen Poe
der berittenen Polizei zusehen.
John Lennon ist tot. Das verstehen
wir alle, unter und über den Wassertanks.
der vierte Gedichtband von Dieter M. Gräf, beginnt im September 2001 inmitten eines Taifuns in der taiwanesischen Metropole Taipeh, mit den CNN-Bildern von 9/11 im Hintergrund, und endet in New York, vor Ground Zero.
Der traumatische Beginn des neuen Jahrhunderts zieht sich durch diesen Band, der Poesie als zeitgenössische Kunstform positioniert. In vier Kapiteln, zwischen dem südostasiatischen Auftakt und dem amerikanischen Finale, wird die alte Welt vornehmlich in Venedig, Rom und Vézelay erkundet. Immer wieder geht es dabei auch um den Tod, von dem aus ein Leben neu ausgeleuchtet wird. So begegnet man dem Kunsthistoriker Winckelmann und dem Filmemacher Pasolini, dem linksradikalen Verleger Feltrinelli oder dem faschistischen Diktator Mussolini sowie der Black-Muslim-Ikone Malcolm X.
Im Umgang mit Leitmotiven, Metaphernflächen, Bildclustern ist Buch Vier ein sprachästhetisches Statement, das aus Orten Strukturen entwickelt, und ein Versuch, das deutschsprachige Gegenwartsgedicht zu hinterfragen.
Frankfurter Verlagsanstalt, Ankündigung
– Typographie ist noch keine Poesie, modische Mätzchen kann man sich dabei sparen: Dieter M. Gräf dichtet gegen den Feind als diskretes Pixel-Objekt an. –
Warum soll man Lyrikbände nicht mit Opus-Zahlen versehen? Die Lyra legt es doch nahe. Dieter M. Gräf jedenfalls folgt dieser Idee und nennt seinen neuen Gedichtband Buch Vier – nämlich nach Rauschstudie: Vater + Sohn (1994), Treibender Kopf (1997) und Westrand (2002). Wer nun in Gräfs neues Opus hineinblättert, könnte in der wechselnden typographischen Gliederung der Seiten so etwas wie Sprachpartituren sehen. Dieser Eindruck wird durch die Abwesenheit von Reim und Versmaß noch unterstützt. Ist Buch Vier, das sich in vier Kapitel aufgliedert, so etwas wie eine Sinfonie in vier Sätzen oder zumindest eine Analogie zu T.S. Eliots Four Quartetts? Der Anspruch auf eine großangelegte Komposition ist jedenfalls unübersehbar.
Buch Vier ist ein Stück Programmmusik – poetisch eine global gedachte lyrische Reportage. Sie beginnt inmitten eines Taifuns in Taipeh, unter dem Eindruck der CNN-Bilder vom Einsturz der Twin Towers, und endet in New York, im Anblick von Ground Zero. Weitere Stationen ergeben sich durch die zahlreichen Stipendienaufenthalte, die Gräf absolviert hat, unter anderem in der Villa Aurora in Los Angeles und der Villa Massimo in Rom oder als Gast der Deutschen Festspiele in Indien.
Dennoch täuscht die international illuminierte Szenerie. In Taipeh besucht Gräf eine Napoleon-Ausstellung, aber das Gedicht darüber schreibt er in Köln. Die Twin-Tower-Gedichte entstehen in Köln und Berlin, wo Gräf lebt. Die alte Welt ist immer noch das Zentrum seiner Bilder und Ideen. Die Galerie seiner Protagonisten, allesamt gefährdete und todessüchtige Figuren, reicht von Winckelmann zu Pasolini als den Opfern sexuell bestimmter Gewalt, vom linksradikalen Verleger Feltrinelli zur Black-Muslim-Ikone Malcolm X. Recht eindrücklich unter diesen Todesballaden ist die an Ezra Pounds Cantos geschulte Geschichte Claretta Petaccis, der letzten Geliebten Mussolinis. Ihr grausames Sterben wird als „bibel / schlimme / gnade“ glorifiziert.
Viel ist von Tod die Rede, viel von Gewalt; und auch die Heiligen haben dazu ihr Teil beizutragen. Der heiligen Elisabeth und weiteren Heiligen gilt eine bemerkenswert lange Anmerkung im Anhang des Bandes. Aber das Gedicht selbst ist eher kurz, eine Art Haiku oder ein Poundsches „image“:
DIE BRUSTWARZEN DER HEILIGEN
Elisabeth wurden abgeschnitten
von Verehrern ihrer Keuschheit.
Schutzheilige
der…, so
weit ist der Mantel
offen.
Das ist schon raffiniert gemacht. Es spart alles aus, was an kulturellem Wissen zitierbar wäre. Es sucht den Effekt: den fast voyeuristisch-intimen Blick auf den offenen Mantel.
Solche Effekte belegen Gräfs Virtuosität. Sie gelingen immer dort, wo der Autor seiner Obsession von Sex, Gewalt und Tod folgen kann. Wenn er schon Hölderlin zitiert, dann seinen Tod fürs Vaterland; und auch Theodor Körner, der Dichter der Freiheitskriege, erscheint als probater Zeuge für den soldatischen Opfertod. Er figuriert freilich äußerst verfremdet, nämlich in einem modischen typographischen Mätzchen aus Strichbalken, wie sie an automatisierten Kassen abgelesen werden. Dazu passt dann der Titel: „Der Feind als diskretes Pixel-Objekt.“
Und der Schluss opfert den Ernst des Themas einem Kalauer:
Tapete
im koernigsten Videostill.
Armer Körner.
Tapete, so darf man sagen, ist kein schlechter Begriff für das typographische Arrangement mancher Textflächen. Wo Gräfs Texte nicht klanglich und bildlich tragen, also keine Partituren, keine Musik sind, bleibt von der Poesie nur das Muster von Textclustern zurück. In „Vézelay Dschihad“ wird eine langsame Welt beschworen. Aber die Wortfolge „die langsame Welt die langsame Welt die langsame Welt“, die noch sechsmal wiederholt wird, hebt uns diese Langsamkeit nicht ins Bewusstsein. Typographie ist noch keine Poesie – umso weniger, wenn sie sich an einem Gegenstand wie 9/11 versucht. Dort, in einem lettristischen Arrangement, soll die Zerbröselung der Wörter und Satzzeichen (etwa „aHRldDogAschewolkeTWFsB“) den Einsturz der Twin Towers vergegenwärtigen – typographische Mimesis eines Grauens, das sich solchen Sprachexperimenten entzieht.
Dabei sind Gräfs Intentionen hochgespannt und achtbar. In seinem in Taipeh spielenden Gedicht „Taifun“ formuliert er sie schön und prägnant:
In herbeizitierter Landschaft
eine neue eröffnen, zum Singen,
während die Instrumente
in den Boxen bleiben.
Wie wahr, wie richtig. Vielleicht sollte Gräf manche seiner modisch-glatten Instrumente tatsächlich in den Boxen lassen. Vielleicht lassen sich Landschaften nicht herbeizitieren, wohl aber beschwören.
Manche Passagen bei Gräf leisten solche Beschwörung und kommen dabei dem Gesang nahe. Buch Vier hat durchaus sein Thema: Tod und Gewalt. Im „Appendix“ lesen wir zu „Taifun“:
,Tod‘ (szu) und ,vier‘ (szu) sind im Chinesischen synonym, einschließlich des Tons, in dem die Silbe gesprochen wird.
Manchmal macht der „Ton“ in Gräfs Buch Vier tatsächlich schon die Musik. Das macht auf Opus 5 neugierig.
– Gut verriegelt: Dieter M. Gräfs Gedichtband Buch Vier. –
Buch Vier heißt der – Überraschung! – vierte Gedichtband von Dieter M. Gräf, und so unprätentiös der Titel zunächst scheint, so zeigt sich doch, dass auch Kürzelhaftes, ins Äußerste getrieben, einen geradezu barock-überbordenden Eindruck machen kann. Nicht blumige Fülle verursacht in diesen Gedichten ein beinahe Übelkeit erregendes Völlegefühl, sondern der durch und durch manierierte Gestus der Verknappung.
„N. überquert die Alpen, Taipeh“ heißt eines, „Der Pockennarbige tötet W.“ ein anderes. Nicht, dass man von Napoleon und Winckelmann schon genug gehört hätte, das wohl auch, aber warum, fragt sich der vielleicht zu unbescholtene Leser, steht da bloß das Initial? Warum diese Verrätselung, wenn die Abkürzung im „Appendix“ des Buches, den man ehrlicherweise wohl Anmerkungsapparat nennen müsste, aufgelöst wird? Genauso verhält es sich mit einigen Motti, die einzelnen Gedichten vorangestellt sind. Als Autoren werden da „P.P.P.“ und „R.D.B.“ ausgewiesen. Am Ende des Buches werden die Namen von Pier Paolo Pasolini und Rolf Dieter Brinkmann dann ausgeschrieben.
Überhaupt diese Anmerkungen! Es ist durchaus üblich, dass ein Lyriker ein paar Bezüge kennzeichnet, Quellen offenlegt, allein schon, um sich nicht des Plagiats verdächtig zu machen. Was Gräf da aber alles hineinschreibt, wirkt überaus eitel, ganz als wolle er sich als sein eigener Philologe betätigen. So knapp seine Gedichte sind, so wuchernd ist ihr Kommentar. Zu „Die Brustwarzen der Heiligen”, einem bloß sechszeiligen Gedicht, liefert der Autor gar eine ganze, eng bedruckte Seite.
Und sonst? Unzugänglich wie ein Tresor wirkt Gräfs Lyrik. Mit jedem Vers hört man einen Metallbolzen, wie er sich ins Schloss schiebt. Der Verdacht aber bleibt, dass hinter der sorgsam verriegelten Tür Leere herrscht, nur das „sich aus / drücken in ein glänzen / des Nichts“. Gerne übrigens setzt Gräf den Zeilenbruch mitten im Wort: „hin / gegen“, „Froh / locken“ „Gott / heiten“. Auch das äußerst manieriert.
Thematisch, so weit man das sagen kann, steht in Buch Vier der Tod im Vordergrund. Gleich zu Beginn montiert Gräf ein Gedicht aus einem Bericht über eine malaiische Ameisenart, die zur Feindabwehr Selbstmordattentate begeht, und Friedrich Hölderlins „Der Tod fürs Vaterland“. Es endet so:
von der Basis der Kiefer
bis zum hinteren Körper
ende) sterben lieb’ ich nicht,
doch lieb’ ich zu fallen
auf den Feind gespritzt
werden am Opferhügel
fürs Vaterland, zu bluten – –
Soll das nun ironisch sein? Grotesk? Oder ist es doch bloß Kunsthandwerk, billig verschraubt? Da will einer ganz viel, so der Eindruck, und bleibt doch ganz – steril.
– Dieter M. Gräf erkundet in seinem Gedichtband Buch Vier das Zeitalter der Extreme. –
Das 21. Jahrhundert beginnt in diesem Buch mit einem kleinen Weltuntergang. Zwei Katastrophen, eine vom Toben der Naturmächte ausgelöste und eine von Selbstmordattentätern produzierte, fesseln die Aufmerksamkeit des lyrischen Subjekts. In einem verbarrikadierten Hotel in Taiwan beobachtet das Ich auf zwei Bildschirmen synchron den Zusammenbruch der Neuen Welt. Eine Sintflut in Taipeh überkreuzt sich mit den Angriffen auf das World Trade Center – und aus der Zerstörung des Alten wächst das furchtbar Neue…
Noch immer gehört die schroffe Fügung disparaten Sprachmaterials im Gedicht zu den bevorzugten Strategien des aus Ludwigshafen stammenden Dichters Dieter M. Gräf – die bewusst herbeigeführte Frontalkollision heterogener Redeweisen und Sprachfragmente sorgt auch in seinem neuen Buch für Hochspannung und verbale Reibungshitze.
Aber Gräfs Gedichte in Buch Vier verweigern in noch radikalerem Maße den Kulturgehorsam als die vorangegangenen Bücher des Autors. O-Töne, Zitate und Sprachteile aus der Alltagswelt und aus einer traditionsschweren Literaturgeschichte ragen wie erratische Blöcke in die Gedichte. Hinzu kommen typografische Hierarchisierungen, unterschiedliche Gewichtungen von Versen durch verschiedene Schriftgrößen, schließlich wird selbst sinnleerer Datenmüll in die Gedichte geschleust. Diese Gedichte versuchen etwas Elementares, Fundamentales, etwas, das tief einschneidet nicht nur in unser Verständnis von „Dichtung“, sondern in die Koordinaten unserer Weltwahrnehmung. Die Ich-Identität des Subjekts wird sofort in Frage gestellt mit dem Eröffnungsgedicht „Damit Ich aufbricht“. Dieser Text, der eine populärwissenschaftliche Studie mit einem Hölderlin-Gedicht verschränkt, bezeichnet die Intention des ganzen Bandes: Das Ich wird fundamentalen Erschütterungen ausgesetzt – und es sind oft grelle Visionen, mystische Offenbarungen und katastrophische Erleuchtungen, die das Gebäude der Subjektivität zum Einsturz bringen. Der Taifun in Taipeh ist nicht nur eine naturgeschichtliche Gewalt, sondern eben auch ein mystischer Blitz, der die Wahrnehmung des Ich erst einmal aus den Angeln hebt.
Das alte Ich wird in Buch Vier in Trümmer gelegt, es sinkt in den Staub wie im ersten Kapitel die Türme des World Trade Center. Die scheinbar rein funktionale Titelgebung Buch Vier meint nicht das banale Faktum, dass der Autor seinen vierten Gedichtband vorlegt, sondern erscheint als mythische Chiffre. In einem lehrreichen „Appendix“ erläutert Gräf die fast unheimliche phonetische Identität der chinesischen Wörter „Tod“ (szu) und „Vier“ (szu). Der Tod und die mit ihm verbundenen Verwandlungen stehen denn auch im Zentrum dieses Gedichtbuches.
In vier Kapiteln werden politische Ikonen, zwielichtige Märtyrer und auch katholische Heiligengestalten aufgerufen: Es geht um den linken Verleger Giangiacomo Feltrinelli, der bei der Sprengung eines Hochspannungsmastes ums Leben kam, um den katholischen Anarchisten Pier Paolo Pasolini oder um den buddhistischen Beat-Poeten Allen Ginsberg – sie sind Ausgangspunkte starker Energieströme, mit denen Gräf seine Gedichte auflädt. Aber es gibt auch dämonische Schlüsselfiguren der Zeitgeschichte: Benito Mussolini und seine Geliebte Claretta Petacci etwa, oder der Kampfflieger und Literaturvisionär Gabriele D’Annunzio. Im „italienischen“ Kapitel des Bandes scheint es mitunter, als schleudere hier ein lyrischer Wiedergänger von Rolf Dieter Brinkmann seine erkenntniswütigen Lamentationen in die Welt. Gräf webt aus zeitgeschichtlichen Stoffen komplexe Texturen, die sich manchmal als düsteres Echo aus Bekenntnissen der porträtierten Figuren ausweisen. In einigen besonders finsteren Gedichten löst sich das Gedicht aus den vertrauten Formen und geht über in ein traumversunkenes Murmeln, ein litaneihaftes Repetieren von magischen Formeln.
Am Ende treibt der Autor sein Gedicht ins Kryptische: Die Verse werden von undurchdringlich codierten Buchstabenketten und typografischen Mustern umgeben. Im letzten Gedicht läuft die Sprache parallel zu einem Strichcode aus der Warenwelt. Ein optimistischer Ausblick in die Zukunft der Gattung ist das nicht.
Christoph M. Gerhardt: Vom Einsturz der Neuen Welt
Mannheimer Morgen, 30. 12. 2008
Martin Zingg: Land für Schiffbrüchige
Neue Zürcher Zeitung, 28. 7. 2009
Die Premiere von Dieter M. Gräfs Lyrikband Buch Vier ist Gespräch des Monats. Er sprach am 10.2.2009 mit Maike Albath in der Literaturwerkstatt Berlin.
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