ALTE BRILLEN
sie lernten in Moskau
den Winter, sie lernten
in Moskau den Schnee;
deuteten Ganggeräusche
des nachts: heute nicht,
mich nicht, es trifft
einen Genossen von gestern.
Den Richtigen – immer.
Komm ich an die Reihe,
ist’s nicht anders,
verging mich in Gedanken,
war nie aufmerksam
genug bei der Kontrolle
der Kämpfer neben mir,
gab das, was sie flüsterten,
nur unverständlich wieder
in der Kaderakte, & horchte nicht
heraus ihren Verrat in spe, weil
da noch ein zuckendes Ich war,
im Eigenmatsch. Wechselte
die Linie, japste es, manchmal;
zugedrücktes Sonnengeflecht.
Auch hieraus entstand
eine Republik, ein Schwarz,
ein Weiß, ein Grau;
Farbfilme, mit denen man
besser nicht angefangen hätte,
denn sie passten schlecht
zum kargen Land, zum
Nieseln in die Schnapsgläser,
zu den alten Brillen
mit dem Horn, der
eingeschränkten Weisheit.
In Lauchhammer schließlich
wurde Stalin eingeschmolzen,
nun steht er im Tierpark,
als bockiges Eselchen,
als Elch, als Säbelzahntiger;
die Arbeiter verabschiedeten
sich eh – ließen seine Nase
mitgehen, den Schnauzbart,
gingen rüber oder hier
bleibend rüber
oder machten noch mit
bei den Folkloreumzügen:
Winkelemente beim 1. Mai.
Die alten Kader, sie fielen
ab, in den Rollstuhl.
Wir machen hier eine
Hausdurchsuchung. – So so,
sagte der Staatsratsvorsitzende
von vorgestern, todkrank
kam er ein letztes Mal
aus dem Wandlitzwald.
–Dieter M. Gräfs Gedichte entwerfen ein grosses historisches Panorama. Es sind Stenogramme von der gescheiterten Idee des Humanen. –
Was kann man der Lyrik nicht alles vorwerfen! Dass sie weltfremd sei, meinen die Poesieverächter. Sie stossen sich daran, dass im lyrischen Sprechen die kleinen Dinge bis zu einer Grösse herausmikroskopiert werden, die sie im Leben nicht haben. Wenn aber das Gegenteil gelingt, wenn es gelingt, das Monströse in den wenigen Zeilen eines Gedichtes schrecklich funkeln zu lassen, dann ist das wie eine grosse Überraschung.
Falsches Rot, der neue Band des deutschen Lyrikers Dieter M. Gräf, ist so eine Überraschung. Es ist ein Marsch durchs Grosse und Ganze, ein Marsch durch die Geschichte, der eben alles andere als ein Spaziergang ist.
Der Titel Falsches Rot ist Programm. Es geht um eine politische Signalfarbe, die über Jahrhunderte aufgepflanzt war auf den Hügeln der Gewalt. Dass die Idee des Humanen sich eben in verschiedene Formen des Menschlichen aufspalten kann, in Gutes und Böses, Liebe und Verbrechen, steht auf jeder Seite eines Buches, dessen irrwitziger Anspruch jedenfalls nicht durch falsches Pathos gefährdet ist.
Dieses Buch hat die scharfen Kanten einer Sprache, in der es keinen Ton gibt, der erst rollenhaft zwischen Privatem und Politischem wechseln muss. Historiografisches und Autobiografisches sind in dieser lyrischen Ideologiekritik vereint, Lüge und Selbstlüge.
Vom 16. Jahrhundert geht es über Auschwitz und die Gewaltreservate des Kommunismus bis zu den Balkankriegen. Die RAF ist genauso Thema eines langen Gedichts wie Johannes R. Becher, der bürgerlich-verlogene Arbeiterdichter und Kultusminister der DDR. Im frühen 16. Jahrhundert war es die Stadt Münster, in der die sektenhafte christliche Nächstenliebe zum grossen Morden geführt hat, und wenn „Monster“ eine alte Schreibweise von Münster ist, dann ist in Gräfs Gedicht mit den langen Zeilen vieles davon enthalten. Reihenweise wurden die Abweichler geköpft. Im Namen einer Idee, die bis zum Tod geht. Bis zum Tod der anderen, muss man hinzufügen.
Im Stakkato der Wörter und Sätze und im Zeilenfall der Gedichte zeigt sich der Furor einer Idee:
Visionen in Strassen mit
neuen Namen, man schäumte, sah drei Sonnen am Himmel, einen
Reiter auf weissem Pferd mit dem Schwert in der Hand,
einen Mann hande vul blodes.
Der von Gräf ins Bild gebrachte apokalyptische Reiter ist die Vorhut späterer Geschichte. In den Gedichten, die von Auschwitz handeln, sind die Zeilen kurz wie in Epitaphen. Die Erinnerung an die Ermordeten wird in den Laptops eines Museums bewahrt, und auch die Überlebenden kommen zu Wort:
Die Überlebenden sind auf einer Scheibe
untergekommen, werden
eingelegt, erzählen.
Sie kommen
in den Laptop, sind aus dem Körper, sie sind das Licht des Museums.
Wie in einem Museum hat auch Dieter M. Gräf die Abschnitte seines Buches angeordnet. Es gibt drei Räume, die sich thematisch in die Gegenwart vorarbeiten und dabei auch zusehends privater werden. Vom Monster, das Münster im 16. Jahrhundert einmal war, geht es bis zum Liebesgedicht, das in gross gesetzten Buchstaben auf den letzten Seiten steht.
Dass die Farbe Rot auf dem privatpolitischen Schlachtfeld zum Symbol des Herzbluts wird, ist bei Gräf nicht unterschlagen. Vom Elternhaus und der sterbenden Mutter ist die Rede, wenn es heisst:
Ich war dabei, als ihr Körper,
vorsichtig, wie beim guten Sack,
auf die Tragbahre kam, & sah, dass wir eine Seele haben.
Mit Teilen ihrer Seele hing die Mutter im Krieg fest, hatte sich das Leben danach „abgeknapst“, so wie der Sohn versuchte, ein eigenes zu führen. Die Farbe Rot war auch im nachkriegsdeutschen Haushalt der Eltern präsent. Sie waren bodenständige SPD-Wähler und hatten ihren Günter Grass im Regal.
Die DDR war das ganz andere Land, an dessen Grenze der junge Mann einmal gescheitert ist, wie das Gedicht „Wo bitte ist das Kombinat?“ erzählt. Der Schüler wurde von den Soldaten mit den Worten abgewiesen:
Der Westen ist da drüben!
Wo bei allen Heilsversprechen die wahren Paradiese sind, fragt Dieter M. Gräf, geboren 1960 in Ludwigshafen, sich selbst, und er lässt dabei auch die Dichter Brigitte Reimann und Rolf Dieter Brinkmann träumen.
Typografisch entwickelt das Buch eine ganz eigene Rhetorik, die noch von Fotos des Autors gestützt ist. Im totgesagten Park der Ideologien stehen, ob im Westen oder im Osten, noch die Denkmäler falscher und gefälschter Hoffnungen. Marx und Engels in Bronze, eine Gedenkstätte in Sarajevo, das RAF-Gefängnis Stuttgart-Stammheim.
Die Fotos sind in strengem Schwarz-Weiss gehalten, während Dieter M. Gräfs Gedichte versuchen, die ideologischen Schattierungen dahinter zu zeigen. Weiter könnte diese Lyrik von der Weltfremdheit kaum entfernt sein, denn sie spiegelt die Zeiten und Orte, an denen die Welt sich selbst fremd wird.
– Der Dichter Dieter M. Gräf erkundet in seinem neuen Gedichtband die deutsche Unheilsgeschichte. Seit einiger Zeit kombiniert der aus Ludwigshafen stammende Autor Dieter M. Gräf seine Gedichte mit Fotografien. Auch in seinem neuen Band Falsches Rot folgen auf Gedichte Fotostrecken. Ausgangspunkt für die Geschichtslektion: eine Begegnung in Edenkoben. –
Es muss an einem Nachmittag in den frühen Neunzigerjahren gewesen sein, als Wolfgang Hilbig, einer der sprachmächtigsten deutschen Schriftsteller, in Edenkoben in das zitronengelbe Auto des Dichters Dieter M. Gräf stieg und sich auf dem Beifahrersitz niederließ. Die zwei literarischen Einzelgänger verbrachten etliche Autominuten miteinander. Der eine, der literarische Solitär Hilbig, konnte über viele Jahre hinweg in der DDR keine Zeile veröffentlichen, bis es ihn auf Umwegen 1988 nach Edenkoben verschlug, das sechs Jahre lang zu seiner Wahlheimat wurde und wo auch sein literarischer Erfolgsweg begann. Der andere, der in Ludwigshafen aufgewachsene Dichter Dieter M. Gräf, hatte sich 1994 in seinem Debütband Rauschstudie: Vater + Sohn in verstörenden Collagen mit den Urszenen deutscher Unheilsgeschichte beschäftigt und mit diesen ungefälligen Gedichten die Literaturszene aufgeschreckt.
In seinem neuen opulenten Gedicht- und Foto-Band Falsches Rot blickt Dieter M. Gräf auf diese Begegnung zurück und macht sie zum Ausgangspunkt einer fulminanten Geschichtslektion. „Wo bitte ist das Kombinat?“ heißt das lange Erzählgedicht, in dem sich Gräf den Brennpunkten der deutsch-deutschen Geschichte nähert und von seinen gescheiterten Versuchen berichtet, in die DDR zu reisen.
Hier kann man sehr gut das poetische Verfahren studieren, mit dem Gräf arbeitet: viele O-Töne, purer Geschichtsstoff, Materialien und Zitate aus Zeitdokumenten, Briefen oder Tagebüchern finden Eingang in die Gedichte, werden in schroffer Fügung verbunden und mit Reflexionen des Autors zusammengeführt. Seit einiger Zeit kombiniert Gräf seine Gedichte mit Fotografien, die er ohne großen artistischen Aufwand mit seinem iPhone herstellt. „Das Fotografieren“, so schrieb er 2016 in einem Essay, „entwickelte einen Sog, der mich verblüfft, und nun bin ich kein richtiger Dichter mehr (…), sondern einer, der schreibt, publiziert, fotografiert, postet und ausstellt.“ Auch sein neuer Band Falsches Rot ist in dieser Hinsicht ein Hybrid-Buch. In den drei großen Kapiteln des Bandes, hier als „Räume“ markiert, startet Gräf wieder seine geschichtsarchäologischen Expeditionen zu den neuralgischen Punkten deutscher Geschichte, wobei auf einzelne Gedichte jeweils eine Fotostrecke folgt.
So widmet er sich etwa den Apologeten des autoritären DDR-Sozialismus, in einem intensiven Stück auch dem „Hofdichter“ der SED, Johannes R. Becher. In diesem Gedicht lässt Gräf all die Wirrnisse des Parteikommunisten nochmals aufleuchten. Nach einer Phase übelster Drogensucht mutierte der begabte Expressionist Becher, der als Schüler seine Geliebte erschossen hatte, zum Parteigänger der KPD und verfasste später Hymnen auf Stalin. Aber auch die falschen Propheten des Westens haben in Gräfs Geschichtspoemen ihren Auftritt, besonders die schrillen Stimmen der RAF: Ulrike Meinhof und Andreas Baader. Eins der eindrücklichsten Gedichte des Bandes ist dem DDR-Maler Wolfgang Mattheuer gewidmet. Er hatte 1974 mit seinem Bild „Die Ausgezeichnete“ für Unruhe gesorgt, denn dieses Bild wandte sich demonstrativ ab von der Imago einer strahlenden Heldin der Werktätigen. Es ist eine Szene von großer Einsamkeit. Eine ältere Frau mit kurzen Haaren sitzt mit gesenkten Augen an einem Tisch, vor ihr ein bescheidener Blumenstrauß, ein paar rote Tulpen. Die Frau wirkt müde und erschöpft, das weiße Tischtuch, auf das ein Schlagschatten fällt, trennt sie von der Welt und von dem Betrachter. Die einsame „Ausgezeichnete“ projiziert Dieter M. Gräf nun in seinem Gedicht in die Zukunft des wiedervereinigten Deutschland. Im Westen, so suggeriert Gräf, hätte „die Ausgezeichnete“ gar keine Kontur mehr, stattdessen vollziehe sich ihre unaufhaltsame Auslöschung.
Am meisten berühren die sehr intimen Gedichte in „Raum Drei“, in dem der Dichter Abschied nimmt von seiner 2012 verstorbenen Mutter. Die zurückgelassenen Gegenstände im Elternhaus in Maudach werden zu stillen Trägern der Erinnerung. Der Dichter, der zuvor als kühl collagierender Chronist deutscher Geschichte auftritt, beendet sein Werk mit einem ergreifenden Klagegebet:
deine Hände, nah
wie der Tod, denn ich sehe dich zweifach &
mich: als den toten Vogel, als den, der dir schreibt.
Ein-aus: verrückt sein vor Atem
bist jetzt so zart
Wohin vergräbst du an anderen Tagen deine Güte?
Wer, wenn nicht du, bist die Beschützerin der Welt?
Gefördert vom Deutschen Literaturfonds e.V. und dem Land Berlin, reist der aus Ludwigshafen gebürtige Dichter Dieter M. Gräf nach Osten.
Das ist nicht unbedingt geografisch zu verstehen, denn da der Osten rot war, ja, alles Rote wie die Morgensonne aus dem Osten zu kommen scheint, befindet der Dichter sich auch dann im Osten, wenn er über die frühkommunistischen Wiedertäufer aus Münster schreibt. Deren Anführer Jan Matthys ist ihm deshalb ein „Ayatollah“ – man könnte auch sagen: Stalinist, SS-Mann, Terrorist. Gräf unterläuft hier keine Verwechslung, in seiner Nacht sind alle Schrecken fahlrot, bis hin zu dem von Erich Honecker unwaidmännisch erlegten Rotwild. Falsches Rot nennt Gräf sein Buch. „O falsches Rot“, heißt es bei Eichendorff, „Verblühen / Musst dieses Blütenmeer, / Wer dachte, dass dies Glühen / Das Abendrot schon wär!“
Es ist also eine Fahrt in die falsche Versprechung, ins einst Rote, nach Kaliningrad, mit Zwischenstopp in Auschwitz weiter in die DDR, nach Stammheim, die „Hauptstadt der RAF“, und am Ende zurück nach Ludwigshafen, wo er seiner Eltern und einer Geliebten gedenkt. Unterwegs treten auf: Johannes R. Becher, Brigitte Reimann, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Gisela Elsner, Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Rolf-Dieter Brinkmann. Es ist, zusammengefasst, in seinen ersten beiden Teilen oder „Räumen“ ein Gewaltritt durch Bluttaten, Gemeinheiten und Krankheiten aller Art, im letzten Raum, im schwach-sozialdemokratischen Ludwigshafen après Bloch, sind wir in die Melancholie des Westens zurückgekehrt, die nach so vielen Monstrositäten kommod wirkt.
Aber gesetzt, die Monster kommen aus dem roten Osten, wer hat sie geboren? Das beantwortet Gräf mit einem Zitat des aus Dresden stammenden Begründers des „Kapitalistischen Realismus“, Gerhard Richter, der vor „Ideen“ warnt, die „fast immer nicht nur gänzlich falsch und unsinnig sind, sondern vor allem gefährlich“. Die Warnung hat Georges Brassens mit mehr Witz formuliert, als er sang:
Für Ideen sterben, einverstanden, aber eines langsamen Todes!
In Wahrheit ist noch selten einer an einer Idee gestorben, aber stündlich sterben Menschen an der Ideenlosigkeit der Apparate und Verhältnisse. Handwerklich ist der Band hervorragend gemacht, wenn auch gelegentlich schlüpfrig („für sie gab es Schornstein“, heißt es über die Juden). Das Ganze kommt mal in Terzetten, mal in aufgesprengten Versen daher, mal dokumentarisch, mal in kecken Müllerismen:
im Freund
stank der Feind
Gekonnt auch die mit einem Smartphone aufgenommenen Schnappschüsse, die zwischen die Gedichte gesetzt sind; kalkulierter als die, mit denen Brinkmann seine Bücher zierte, aber von ebensolcher Tristesse. Sie sollen die Überbleibsel des ideologischen Zeitalters vorführen und sind in dieser Funktion selbst wieder ideologisch.
Es ist ein markanter Titel: Falsches Rot hat Dieter M. Gräf sein neues, aus Gedichten und eigenen Fotografien bestehendes Buch genannt, das sich mit Ideologien, Utopien und der deutschen Geschichte befasst. Gleichzeitig merkt Gräf bei seiner Lesung in der Galerie Zephyr der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen an, dass dieser Titel „vielleicht nicht zu sehr den Zugang zu dem Buch prägen“ sollte: „Das ist alles, finde ich, deutlich ambivalenter“, meint der Lyriker, der sein neues Werk im Begleitprogramm der Ausstellung Red Utopia vorstellt – der Schau, in welcher der niederländische Fotograf Jan Banning die Welt der kommunistischen Parteien 100 Jahre nach der Oktoberrevolution anhand ihrer Büros in verschiedenen Ländern zeigt.
Das Buch selbst sei „im Grunde aufgebaut wie eine Ausstellung“, sagt der 1960 in Ludwigshafen geborene, in Berlin lebende Gräf. „Es wird behauptet, dass es hier drei Räume gibt“, in welchen Bilder in verschiedenen Themenkreisen angeordnet seien. Der erste beschäftigt sich mit Osteuropa, („Es sind vorwiegend Reisegedichte“), der zweite Teil „sehr, sehr ausführlich mit der DDR“; und im dritten gehe es um die Bundesrepublik, fokussiert insbesondere auf die RAF-Jahre.
– Drei Lyriker machen eine Ausstellung. Sie heißt Falsches Rot. Was damit gemeint ist, bleibt offen, die SPD ist es aber nicht. Als Vertreter der „Roten“ kommt Martin Schulz, Buchhändler und vehementer Verteidiger der Idee von Europa. –
„Die Lösung ist Teil des Problems!“, ruft ein Schild den Besuchern des Literaturhauses zu, das wie für eine Demo in der Ecke des Treppenabsatzes parat steht. Unter den Fenstern zwei Zitate, wie auf rotes Packpapier gedruckt, etwas verblichen, ausgerissen und an die Wand gekleistert. „Einen Satz zu verstehen heißt, wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist“, sagt rechts Ludwig Wittgenstein. Links kontert Gudrun Ensslin:
den sinn eines satzes verstehen heißt, wissen, wie die entscheidung herbeizuführen ist, ob er wahr oder falsch ist.
Mit viel Witz und Ironie haben sich die drei Lyriker Frank Witzel, Ulf Stolterfoth und Dieter M. Gräf in der Ausstellung im Literaturhaus Stuttgart durch die Absonderlichkeiten der Zeitgeschichte gearbeitet, denen sie in ihrer Sozialisation und danach begegnet sind. Geboren zwischen 1955 und 1963, wuchsen sie hinein in die „bleierne Zeit“ des „Deutschen Herbstes“, Nachgeborene der 68er-Revolution, die sich diese Entwicklung nicht ausgesucht hatten. Den Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ nahmen sie verwundert zur Kenntnis.
Falsches Rot heißt Gräfs jüngster Lyrikband, der wie Witzels letztes Buch in Stolterfoths Brueterich Press erschienen ist. Witzel ist besser bekannt durch seinen vor vier Jahren erschienenen Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Stammheim und die Gräber auf dem Dornhaldenfriedhof bestimmen denn auch einen großen Teil der Ausstellung.
Dies wäre weniger interessant, würde die Ausstellung nur in die große Erzählung vom Terrorismus einstimmen. Doch Gräf, Witzel und Stolterfoth haben die Zeit nach 1968, die schließlich in den Deutschen Herbst mündete, selber als rebellische Jugendliche, Anhänger linker und emanzipatorischer Bewegungen erlebt. Sie zeigen auch andere Seiten der Geschichte. So behauptet die Zeitung Die Welt 1977 dramatisch:
Jeder Bürger wird weiter damit rechnen müssen, dass ihm eines Tages der gewaltsame Tod in Gestalt eines jungen Mädchens gegenübertritt, das kein Erbarmen mehr kennt.
Im Zentrum steht eine „revolutionary jukebox“. An einem roten Telefonhörer kann man Gedichte der drei Autoren abhören, über ein Megafon RAF-Tondokumente und mithilfe von zwei Kopfhörern „revolutionäre Musik“, von „Revolution No. 9“ von den Beatles über Gil Scott-Herons „The Revolution Will Not Be Televised“ bis hin zu Tuli Kupferbergs Antwort auf die Beatles: „You Say You Want an Evolution?“ Hier waren Kenner am Werk. Red Crayola und Robert Wyatt sind vertreten, ebenso Franz-Josef Degenhardt und Ton Steine Scherben, F.S.K., Billy Bragg und Woody Guthrie.
Ein Plakat im Treppenhaus zeigt fünf Pistolen. Im Foyer stehen fünf Zielscheiben. „extrem-pietcong, korntal-münchingen“, heißt es in der Erläuterung zur ersten, „zur zeit der ausbildung 32 jahre alt, absolvent der flattichschule und mitglied beider jugendfeuerwehren, schweißerlehre beim alten beißner, marx-lektürekreis in ludwigsburg, gelungene selbstradikalisierung, taucht hinter schwieberdingen unter – und anschließend nie wieder auf.“ „target 5“ ist dagegen ein „blutjunger linksabweichler, final niedergestreckt auf der böblinger straße im frühjahr 1983.“
„Das falsche Rot besucht die SPD“, steht auf einem Plakat im Saal. Und nachdem Stolterfoth im Dezember bereits die Karlsruher Band Kammerflimmer Kollektief eingeladen hat, kommt nun auf Wunsch Gräfs der SPD-Mann Martin Schulz. „Ist Links museal geworden?“, fragt der Moderator Hubert Winkels, vom Thema zum Format Ausstellung assoziierend. „Es gibt nichts, was darauf hinweisen würde, dass einmal Lyrik zu meinem Lebensinhalt werden würde“, bekennt Gräf, der in Ludwigshafen als Sohn eines Maschineneinstellers und einer Krankenkassenangestellten geboren und aufgewachsen ist.
Schulz ist gelernter Buchhändler. In Würselen hat er 1983 eine Buchhandlung gegründet, die es heute noch gibt. Vier Jahre später wurde er Bürgermeister. Seine Eltern animierten ihn zum Lesen. „Sich für eine Stunde in einen Roman zu versenken“, sagt er, „ist wie eine Stunde Urlaub.“ Mit Lyrik tut er sich schwerer. Es sei früher Teil der Buchhändler-Ausbildung gewesen, sich auch mit Poesie zu beschäftigen. Für Gedichte brauche man Zeit und Geduld, man müsse sich zugestehen, nicht alles auf Anhieb zu verstehen. Vielen Menschen bleibe Lyrik fremd. So entstehe der „Anschein des Elitären“. Dabei kommt Schulz zu dem bemerkenswerten Schluss, Politikern, die operativ mit Sprache umzugehen gewohnt seien, könne Lyrik als Stärkung dienen.
Winkels fragt Gräf angesichts des irgendwie politischen Themas nach Erich Fried. Gräf versteht nicht ganz, was der Moderator von ihm will. Fried habe er als 24-Jähriger in der Frankfurter Rundschau verrissen. Näher stehe ihm Ernst Jandl: experimentelle Schreibweisen, die sich auch im Schriftbild zeigen, wie in der Konkreten Poesie. Allerdings mag Gräf – und hier setzt er sich zwischen alle Stühle – „Gedichte voll mit Hobelbänken und Kellerräumen“. Ein ganz kurzes hängt schon im Treppenhaus: „Die Busfahrer stammen von Busfahrern ab“, steht da, ganz groß auf zwei Buchseiten.
Da muss Winkels bei Schulz nachhaken: Wie steht es mit der Chancengleichheit, dem Versprechen Willy Brandts auf sozialen Aufstieg? Das sei „nach wie vor ein großes Problem“, antwortet der, und sagt nicht so genau, was seine Partei, die SPD, seit Willy Brandt getan hat, um es zu beheben. Bildung sieht er vielmehr als „zentrales Problem des 21. Jahrhunderts“. Die SPD und die Gewerkschaften seien als politische Vertretung der Arbeiterschaft entstanden, die aber im Abnehmen begriffen sei. Sie müssten auch prekäre Verhältnisse und die Generationengerechtigkeit in den Blick nehmen:
Wenn die Sozialdemokraten das nicht begreifen, haben sie keine Zukunft.
Mehrfach gewährt Gräf allen Beteiligten einen Zweiminutenurlaub, indem er aus seinen Gedichten vorliest. Über den Tod seiner Mutter – ein Gedicht, das Schulz sehr berührt. Über die DDR und den Umgang mit dem Palast der Republik:
Was sagt es über uns, ein Nachbauschloss als Mitte zu staffieren?
Oder über die „Rosen von Sarajevo“: Einschlaglöcher von Granaten im Asphalt, die von Bewohnern der Stadt immer dort, wo ein Mensch ums Leben kam, mit rotem Harz markiert wurden.
Zu Sarajevo hat Schulz einiges zu sagen. Unzählige Gespräche hat der frühere Präsident des Europäischen Parlaments in Bosnien-Herzegowina geführt, das ohne Hilfe der Europäischen Union nicht überlebensfähig sei. Er spricht vom „zum Teil nicht mehr erträglichen Zynismus des Teilgebiets Republika Srpska“ und kommt auf die AfD zu sprechen, die ausschließlich mit drei Code-Begriffen operiere: Migranten, die angeblich an allem schuld seien, 68-versifftes Rot-Grün und Lügenpresse. Damit führe sie mit leicht veränderten Begriffen – Lügen- statt Systempresse, rot-grün statt bolschewistisch, Migranten statt Juden – „dieselben Reden, die schon einmal gehalten worden sind.“
Winkels sucht den roten Faden wiederzugewinnen. Was ist eigentlich das falsche Rot? Sind Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit im Osten nicht aus den Ruinen des Kommunismus entstanden? Solche Tendenzen gebe es auch im Westen, meint Schulz und verweist auf Le Pen und die Brexiteers. Sicher ist er sich jedoch: Wenn die Sowjetunion das falsche Rot darstellt, könne er für seine Partei in Anspruch nehmen, das richtige Rot zu verkörpern – und er erhält spontanen Applaus aus dem Publikum.
Doch was ist mit Hartz IV? Hat die SPD etwa immer alles richtig gemacht? Warum sinkt die Partei dann immer weiter in der Wählergunst? Solche Fragen werden hier nicht gestellt.
Vielleicht liegt es daran, dass sowohl Schulz als auch Gräf aus einem traditionell SPD-nahen Arbeitermilieu stammen, aus dem sie aber längst herausgewachsen sind: „Meine Eltern sagten mir, dass ich es besser haben solle als sie“, wie sich Gräf ausdrückt. Ob die Ausstellung, die sich stark auf die 1970er Jahre konzentriert, nostalgisch sei, fragt Winkels. Nun, nach dem falschen Rot von RAF und DDR sehnt sich wohl kaum einer zurück. Vielleicht aber nach einem richtigen Rot in einer nebulösen Vergangenheit – das in Wirklichkeit nirgends zu finden ist.
Aus dem Publikum kommt am Ende nur eine Frage: nach dem Brexit. Schulz rollt die Augen, verweist auf die irisch-nordirische Grenze, geißelt die Lügen der Ausstiegsbefürworter, spricht von einem „Drama, das da abläuft“, und wirbt für die „Idee von Europa“. Die europäische Realität besteht freilich in einer wachsenden Ungleichheit zwischen Deutschland und den ärmeren Ländern.
Um bei den Busfahrern zu bleiben: Die von der EU eingeführte Ausschreibungspflicht im öffentlichen Verkehr führt dazu, dass sich die Unternehmen mit Billiglöhnen unterbieten. Busfahrer, die noch bereit sind, zu diesen Konditionen zu arbeiten, finden sich fast nur noch in Osteuropa. Ob ihre Väter schon Busfahrer waren oder nicht.
Dieter Gräf ist ein Meister der Wortstafetten und Experimente. Eine Textmaschine.
Was bei ihm früher in kurzen Texten gelang, gelingt ihm jetzt im Langgedicht.
Autoren.nfahren nannte er früher seine gekonnten, kurzen, artifiziellen Poeme. Er arbeitet mit Zeilensprüngen, technisch, was Word betrifft oder das jeweilige Schreibprogramm, sehr versiert.
Es fiel mir erst schwer einzusteigen, in diese Gedichte, da Herr Gräf sehr viel Fachwissen aufbereitet und Recherche für seine Texte betreibt.
Zum Beispiel in seinem Gedicht über die Wiedertäufer ersieht man Fachwissen über Kirche, Reformation, Kriege und vieles mehr. In seinem Langgedicht zum DDR Hymnenschreiber Becher zum Beispiel, merkt man, wie er auch angibt, dass Gräf sich mit den Tagebüchern Bechers beschäftigte. Man kann daraus lernen, muss aber ein gewisses Leselevel erreicht haben, was Gedichte angeht, um da mit diesen schnellen Sprüngen und verschiedenen Themen Schritt zu halten.
Gut finde ich, dass er sehr experimentierfähig und -freudig ist.
Negativ bleibt mein Unwissen. Ich schätze Gräf studierte Geschichte, denn Zeitgeschichte wie z.B. der Jugoslawien Konflikt oder auch die Nazizeit, beziehungsweise die Judenverfolgung beschäftigen ihn sehr.
Auch nicht zuletzt die RAF, sein Lieblingsthema,, mit Brinkmann macht ihm in seiner Wortverliebtheit Spaß, mit seinem Wissen zu spielen, mit Fremdworten zu jonglieren…
Am Ende des Bandes finden sich auch visuelle Gedichte. Gefüllt zudem ist das Buch mit seinen Fotografien, die er bei Stipendien schoss. Er ist leidenschaftlicher Fotograf.
Zu dem Band gab es z.B. in Stuttgart eine Ausstellung.
Ich selbst mag Herrn Gräf und bin für seine Hilfe dankbar. Wir unterhalten bei Facebook einen Briefwechsel von über 100 Seiten.
Ich will über seine anderen Bücher nun nicht mehr schreiben…
Das Buch Falsches Rot ist bei Gräf, denke ich, noch bestellbar.
Ich wünsche viel Lesevergnügen!
Martina Hefter und Jan Kuhlbrodt: Mailwechsel zu Dieter M. Gräf: Falsches Rot
signaturen-magazin.de
Stefan Schmitzer: „Going east, Mister?“
fixpoetry.com, 5.4.2018
Harry Oberländer: recension
faustkultur.de, 8.7.2019
Uwe Kraus: Rezension: Dieter M. Graf
publikum.net, 22.10.2021
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