– Zu Dieter M. Gräfs Gedicht „Damit Ich aufbricht“. –
DIETER M. GRÄF
Damit Ich aufbricht
ziehen ihre Bauch
muskeln so heftig
zusammen O nimmt
mich, nimmt mich mit
dass ihre Körper
wand in die Reihen
auf, damit ich aufbricht
und die Sekrete (zwei
riesige Drüsen verlaufen
einst
nicht sterbe
gemeinen Tods! Umsonst
von der Basis der Kiefer
bis zum hinteren Körper
ende) sterben lieb’ ich nicht,
doch lieb’ ich zu fallen
auf den Feind gespritzt
werden am Opferhügel
fürs Vaterland, zu bluten —
Bert Hölldobler / Edward O. Wilson
AUS: AMEISEN. DIE ENTDECKUNG EINER FASZINIERENDEN WELT
Das größte Opfer für das Gemeinwohl besteht darin, während der Verteidigung der Kolonie Selbstmord zu begehen und dadurch Feinde zu vernichten. Viele Ameisenarten sind bereit, diese Kamikazerolle auf die eine oder andere Weise zu übernehmen, aber keine in einer so dramatischen Form wie die Arbeiterinnen einer Camponotus-Art, die zu der saundersi-Gruppe gehört und in den Regenwäldern Malaysias lebt. Wie die beiden deutschen Insektenforscher Eleanore und Ulrich Maschwitz in den 70er Jahren entdeckt haben, sind die Ameisen in ihrer Anatomie und ihren Verhaltensweisen als lebende Bomben angelegt. Zwei riesige Drüsen, die mit giftigen Sekreten gefüllt sind, verlaufen von der Basis der Kiefer bis zum hinteren Körperende. Wenn die Ameisen während eines Kampfes entweder von feindlichen Ameisen oder einem angreifenden Räuber arg bedrängt werden, ziehen sie ihre Bauchmuskeln so heftig zusammen, daß ihre Körperwand aufbricht und die Sekrete auf den Feind gespritzt werden.
Aus dem Amerikanischen von Susanne Böll. Birkhäuser Verlag, Basel 1995
Friedrich Hölderlin
DER TOD FÜRS VATERLAND
Du kömmst, o Schlacht! schon wogen die Jünglinge
aaHinab von ihren Hügeln, hinab ins Tal,
aaaaWo keck herauf die Würger dringen,
aaaaaaSicher der Kunst und des Arms, doch sichrer
Kömmt über sie die Seele der Jünglinge,
aaDenn die Gerechten schlagen, wie Zauberer,
aaaaUnd ihre Vaterlandsgesänge
aaaaaaLähmen die Knie den Ehrelosen.
o nimmt mich, nimmt mich mit in die Reihen auf,
aaDamit ich einst nicht sterbe gemeinen Tods!
aaaaUmsonst zu sterben, lieb’ ich nicht, doch
aaaaaaLieb’ ich, zu fallen am Opferhügel
Fürs Vaterland, zu bluten des Herzens Blut
aaFürs Vaterland – und bald ist’s geschehn! Zu euch
aaaaIhr Teuern! komm’ ich, die mich leben
aaaaaaLehrten und sterben, zu euch hinunter!
Wie oft im Lichte dürstet’ ich euch zu sehn,
aaIhr Helden und Dichter aus alter Zeit!
aaaaNun grüßt ihr freundlich den geringen
aaaaaaFremdling und brüderlich ist’s hier unten;
Und Siegesboten kommen herab: Die Schlacht
aaIst unser! Lebe droben, o Vaterland,
aaaaUnd zähle nicht die Toten! Dir ist
aaaaaaLiebes! nicht Einer zu viel gefallen.
1800
„Damit Ich aufbricht“ entstand als Reaktion auf den 11. September und setzt meine Arbeiten fort, die auf Fremdtexten basieren. Sieht man von Anspielungen und kleinen Zitat-Sequenzen ab, nimmt diese Werkgruppe von ihrem Umfang her nicht viel Raum ein, hat aber dennoch für mich eine besondere Gewichtung, nicht zuletzt deshalb, weil die mit diesem Verfahren erstellten Texte oft besonders heikle Themen verhandeln.
Ich setzte bereits in meiner frühen Arbeitsphase das mehr oder weniger stark bearbeitete Ready-made ein, und zwar bei den (unveröffentlichten) Texten „Der Gummibär“; den ich mit der Aktionsgruppe Buero für angewandten Realismus gegen Ende der 8oer im Kulturzentrum Alte Hauptfeuerwache Mannheim als Performance realisierte, ausgehend von einer Serie der BILD-Zeitung zu Aids, sowie in MOSE MONO LOG, in dem ich die paranoiden Hass-Energien des Mose-Gottes deutlich zu machen versuchte, ein Textprojekt, das ich dann in den 90er Jahren im Bibel-Museum Münster als Sprechveranstaltung präsentierte (sehe noch den mir geltenden Hass in den Augen eines der Zuhörer). In Rauschstudie: Vater + Sohn ( 1994), meinem ersten Gedichtband aus der Zeit der „Textmaschinen“, ist es ein Unterkapitel, das dem Poesiefreund Fremdblöcke zumutet, beispielsweise aus „Das Fachwissen des fortschrittlichen Fleischers“, und dadurch den oft pastellgetönten Vorstellungen des Gewerbes zuwiderläuft – ein Arbeiten an einer Form jenseits säuselnden Kunstgewerbes. Und auch in Westrand (2002) setze ich dieses jeweils variierte Verfahren ein anhand eines für den Band zentralen Textes „R. H.: Ich musste (ich durfte nicht)“ basiert auf einer minimal gekürzten Passage aus den Aufzeichnungen des KZ-Kommandanten von Auschwitz. Ich stellte eine szenische Passage voran und betonte die rhythmische Struktur, um den Zwangscharakter von Rudolf Höss deutlich zu machen.
Ausgangspunkt ist jeweils ein Fundstück, von dem mir eine so starke Energie auszugehen scheint, dass ich damit arbeiten will. Hier sehe ich es als meine Aufgabe, eine Fassung zu erstellen, in der die Wirkung, die Strahlung des Ausgangsdokumentes gehalten oder noch verstärkt werden kann. So könnten scheußliche Diamanten, schlimm schneidende Sprach-Steine entstehen, die dazu beitragen mögen, den Erkrankungsprozess klarer wahrnehmen und dadurch womöglich heilen zu können – im Sprach-Modell wird er verstärkt zum Ausdruck gebracht, so dass für die Operation (oder für welche Behandlungsmethode auch immer) das verborgen Wütende an die Oberfläche kommt. Jedenfalls scheinen mir die Energien, die von den Funden ausgehen, so stark und fordernd zu sein, dass ich es für vermessen und sinnlos hielte, sie ersetzen zu wollen durch Fiktionales. Es sind dann just diese Texte, auf die Menschen besonders intensiv und nachhaltig reagieren, jenseits der Gepflegtheiten der Kunstszenen, mitunter irrational, erbost, hasserfüllt, unvorhersehbar – etwas Schwelendes, Tickendes kann in Gang kommen, das sich dann entlädt. Solche Texte können mitunter etwas auslösen, das tradierte Kunstwerke nicht zu leisten vermögen. Mag sein, dass mich eine illegale Performance der 80er Jahre, vom Buero für angewandten Realismus im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen, auf diesen Weg gebracht hat – eine Aktion, wäre sie abgesprochen gewesen, wohl achselzuckende bis anerkennende Wörtchen im Lokalteil erhalten hätte, so aber als überfallähnliche Störattacke gewertet in einen Polizeieinsatz mündete, demaskierend und atemberaubend und wirklich, im plötzlichen Freitreten von Aversionen gegen das Umfeld der Moderne.
„Damit Ich aufbricht“ arrangiert als Reaktion auf den 11. September einen Crash zwischen zwei Textsorten: Hölderlins „Der Tod fürs Vaterland“ ist das schwarze Flugzeug fehlgeleiteter Hochkultur, das in eine leicht umgebaute populärwissenschaftliche Passage aus der Ameisenforschung einschlägt (in eine Spezies, die sich als letzte Verteidigungsmaßnahme selbst aufsprengt). Obgleich das Verfahren den Text in konservativerer Sicht womöglich als kaum diskutabel erscheinen lässt, entsprechen sich just so Gestalt und Gehalt. Hölderlin, ein gänzlich unverdächtiger Autor… die (eigene) Totschlägerreihe, von der Kafka sprach, aus der man herauszutreten habe, ist lang, und der „Fall“ beweist, dass kaum ein Zarter davon Abstand nehmen wollte. „Todbereitschaft“ (Benn) gehörte zum guten Ton der abendländischen Kultur, und zum Glück, dass sich das geändert hat, darf nicht das Unglück stoßen, zu vergessen, dass unter dem Pflaster nicht zwangsläufig Strand ist. Der Pennäler Brecht schrieb 1915 in einem Schulaufsatz, der seine Lesebücher weit hinter sich ließ:
Der Ausspruch, daß es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, kann nur als Zweckpropaganda gewertet werden. Der Abschied vom Leben fällt immer schwer, im Bett wie auf dem Schlachtfeld, am meisten gewiß jungen Menschen in der Blüte ihrer Jahre. Nur Hohlköpfe können die Eitelkeit soweit treiben, von einem leichten Sprung durch das dunkle Tor zu reden, und auch dies nur, solange sie sich weit ab von der letzten Stunde glauben. Tritt der Knochenmann aber an sie selbst heran, dann nehmen sie den Schild auf den Rücken und entwetzen, wie des Imperators feister Hofnarr bei Philippi, der diesen Spruch ersann.
Die Gesundheit dieses Schülers stand einer hochgradig verseuchten Hoch- und Tiefkultur entgegen, die dem Leben gegenüber stets fremdelte. Nicht alle freilich nahmen das Schild auf den Rücken. Die Götterdämmerung des NS-Staates ist ohne Todbereitschaft nicht vorstellbar, und in abgeschwächter Form, als Splitter, begegnet sie uns wieder bei den Akteuren der RAF und deren Ekstasen. Nun eröffnete sie ein neues Jahrtausend, als Bedrohung in der Form eines islamischen Fundamentalismus und somit als denkbar weit entfernter Top-Feind unserer derzeitigen Spaßkultur und ihren Vitaminpräparate schluckenden Ich-AG’s. Das gesamte Umfeld des fundamentalistischen Phänomens im Nahen wie im weit Entfernten ausmachen zu können nährt die Chance, das Wesen dieses Befalls zu verstehen und dazu beitragen zu können, ihn aufzulösen.
Das Hölderlin-Gedicht entdeckte ich vor Jahren als potentielles Material; der 11. September gab den Anlass, sich den Text neu anzusehen. Der Schritt zur Ameisenforschung hin geschah aus der Intuition heraus, der ich mich anvertrauen möchte ohne nachgereichte Eigen-Interpretation. Die künstlerische Arbeit sehe ich zwar auch als eine gelegentlich intellektuelle, die aber nur Vorarbeit zu sein hat, Gerüst. Letztendlich aber folge ich dem, wohin es mich so vorbereitet plötzlich zieht. Ich mache, möchte, will dies oder jenes – aber im Grunde entsteht aus dem Arbeiten heraus etwas, das man nicht machen kann. Voraussichtlich erscheint „Damit Ich aufbricht“ – aufgrund seiner Crash-Struktur artifizieller wirkend als andere der erwähnten Material-Texte – in meinem nächsten Gedichtband, im Appendix dann mit Benennung seiner Ausgangsmaterialien. Es steht jedem Interessierten frei, sich mit ihnen zu befassen, oder aber den Text ohne Hintergrundrecherche auf sich wirken zu lassen. Das Lesen ist freilich jeweils ein anderes.
Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005
Schreibe einen Kommentar