– Zu Paul Wührs Gedicht „Ohne“. –
PAUL WÜHR
Ohne
Wo das Haus liegt
stehen ohne alle
Reisen wir
Im Freien wohnen
wir fort
– Wie soll man an ein solches Gedicht herangehen, in dem Wühr mit sehr wenig auskommt, fast mit „ohne“? – Zunächst müssen alle Maßstäbe bisheriger Beurteilungsstratagien außer acht gelassen werden: keine grammatischen, syntaktischen und orthographischen Kategorien des klassischen Bewertungsmechanismus. Wühr mißachtet sie eklatant. Sie würden nur etwas Nichtvorhandenes herausstellen. Wenn es also keine Satz- und Textgrenzen gibt, keine Syntaxeinheiten wie Haupt- und Nebensatz und andere Hilfskonstruktionen, so bleiben eigentlich nur noch semantische Überlegungen übrig. –
Die Semantik wird von Wühr in stärkstem Maße genutzt, strapaziert und niemals mißachtet. Die Wortbedeutung wird vielfach durch neue Wortkombinationen konterkariert. Die ursprüngliche semantische Aussage eines Wortes wird ad absurdum geführt oder in neue semantische Bereiche verlagert. Mehrfach überlappen sich semantische Auren der Worte und geben einen mehrdeutigen Wortsinn an. Zum Beispiel: „wohnen wir fort“, das ist eine antinomische Aussage zu „fahren wir fort“. Sie wird sofort ambivalent, weil wir bei „fahren wir fort“ wegfahren oder weitermachen assoziieren können. Entsprechend könnte es auch wegwohnen und weiterwohnen geben, was von Wühr sicher raffiniert kalkuliert wurde.
Zum „Wohnen“ gehört die Gegensatz, komponente „Reisen“. Es geht in diesem Gedicht nicht um Neutralisierung von Gegensätzen, sondern um ihre Postulierung. „Liegt“ und „stehen“ ist eine bewußt kalkulierte Diskrepanz. „Das Haus“ steht im Gegensatz zu „Reisen“. Es ist das Bewohnte und Gewohnte und wird dem „Reisen“, dem Unbewohnten und Ungewohnten gegenübergestellt. Gleichzeitig wird konstatiert (oder bedauert), daß wir „ohne alle Reisen“ dastehen. Das „Reisen“ (in seiner ursprünglichen Bedeutung von Aufbruch, Unternehmung, Heerfahrt, Kriegszug), das Wühr substantivisch gebraucht, also sozusagen bereits der actio enthebt, findet nicht mehr statt. Ein Verlust besteht wohl darin, daß wir nicht mehr abenteuerlich reisen können, sondern nur noch „fortwohnen“. Deshalb „stehen“ wir „ohne alle Reisen“ da vor den im Hintergrund „liegenden“ Häusern. Wir sind eben schon zu ver„wohnt“. Selbst „im Freien“ können wir nicht mehr anders, als weiterzuwohnen und vielleicht nur mit unseren Gedanken fortzuwohnen.
Das Gedicht „Ohne“ ist also nach meiner subjektiven Empfindung ein Zivilisationsgedicht, das die uns aufgesetzten Strukturen des Wohnens und des Gewohntseins semantisch angreift. Es konstatiert die Unfähigkeit des Reisens, des Außersichseins, des sich Versetzens in andere Dimensionen und verurteilt damit latent die physische und geistige Unbeweglichkeit. Wühr vermeidet alle moralischen und zivilisationskritischen Anspielungen. Die angebliche Wertfreiheit macht den Text beunruhigend und bohrend.
Wenn Wühr mit den semantischen Strukturen der Worte spielt, so zerstört er da, mit die sakrosankte Vorstellung von Poesie, er erschlägt den Leser in seinem konventionellen Bewußtsein von Sprache, seiner festgelegten Semantik und seiner tradierten Vorstellung von Literatur. Seine Mittel sind handfeste kalkulierte Widersprüche. Ein von Wühr kreiertes Wort ist meist ein Oxymoron. Das Gedicht „Ohne“ ist deshalb in konventionellem Sinne alogisch, anachronistisch und paradox. Die Absicht Wührs ist, mit diesen drei wichtigen Anwürfen, dem Leser den Boden unter den Füßen wegzuziehen, ihn dann ins Offene, Freie zu führen, ins zunächst Unsagbare und damit ins Bodenlose.
Das Gedicht ist für mich bodenlos schön. Es erzeugt einen Kitzel im Bauch wie eine Fahrt mit der Achterbahn, bei der die Gleise verbogen sind und die Räder des Wagens etwas eiern, wo sich bei jeder Kurve neue Ausblicke auf den Rummelplatz der wührschen Textwelt eröffnen. Und bei diesem Rauschgefühl während der Fahrt ist es vollkommen gleichgültig, wo man nun wohnt oder reist oder sitzt oder steht, wo das Haus steht, liegt oder fliegt. Hauptsache, der Leser macht mit und sucht (vielleicht) einen neuen Standpunkt (oder sollte ich besser sagen Schwebepunkt?). Und dann findet man sich in Wührs Welt zurecht, die nicht minder logisch ist als die andere sprachliche Welt, in der wir von Kindheit an aufgewachsen sind, die uns geprägt und stumpf gemacht hat mit all ihren apodiktischen und oktroyierenden Imperativen.
Paul Wühr setzt außer der Semantik alle bisherigen Kategorien von Sprache außer Kurs. Und es wäre falsch, sich an einem Punkt nach alten Maßstäben festzuhalten, weil der Text im semantischen Freiraum schwebt. Die Beurteilung entzieht sich deshalb auch allen konventionellen Interpretationsversuchen. Wührs Poesie und seine Sprache sind im herkömmlichen Sinne „falsch“, aber indem beide „falsch“ sind, sagen sie das „Richtige“ aus. Das Paradoxe hebt den Widerspruch in eine neue Potenz, und es kommt damit zu einer Aussage in einer anderen Dimension, die vielleicht auch „falsch“ sein kann, aber in sich logisch ist.
Sein Gedicht „Ohne“ ist vollkommen schwerelos, „ohne“ alle kritischen, moralischen Ansprüche und doch ein schwerwiegendes sprachliches Gebilde, das über Existenz und Nichtexistenz des Menschen und der Dinge nachdenklich macht. Am Schluß stehen wir „ohne alle Reisen“ da, d.h. „ohne“ alle Abenteuer, Aufbrüche, Unternehmungen, bewohnt und unbewohnt zugleich. Das ist eine Form von Freiheit und eine subtile Spielart der Beunruhigung.
Dieter P. Meier-Lenz, die horen, Heft 183, 3 Quartal 1996
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