Dieter Schlesak: Tunneleffekt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Dieter Schlesak: Tunneleffekt

Schlesak-Tunneleffekt

ABER DAS SCHWARZE LOCH ZEIT

in dem wir schon gestern verschwanden
hier meine schachtel der träume
destilliert aus erlösten dingen

angst meine versunkenen blätter
vermodern zu lassen
als käme der winter

relativ ewig ist nur natur
doch geschriebenes schicksal
gehäuft im verfall

ab fünfzig tat montaigne
nichts anderes mehr
in diese schachtel
vermodernder blätter –

sammelte ordnete fotos der gedanken
und band sie
die andere seite –
erwartete ihn

denn was nicht form wurde
wird nicht mehr sein.

 

 

 

„Fassungslosigkeit breitet sich aus nach dem Zusammenbruch

der Weltbilder. Aber sie hat ihr Gutes. Die vorgefaßten Denkweisen haben immer Sehen verhindert und Leben geraubt,“ schrieb Hermann Kurzke in der FAZ über die Lyrik Dieter Schlesaks: Der Fassungs-Lose versucht, „ohne Vorbehalt zu sehen, den Wahrnehmungsprozeß als einen gelernten zu entlarven“.
Der neue Gedichtband Tunneleffekt von Dieter Schlesak bewegt sich, wie schon der Titel sagt, zwischen Poesie und Wissenschaft. TUNNELEFFEKT ist nicht etwa die verbreitete Angst Österreich-Reisender, sondern ein physikalischer Effekt, auch „Tunneling“ genannt, der die Frage aufwirft, ob man Informationen superluminal, also mit Über-Lichtgeschwindigkeit, oder gar mit negativer Geschwindigkeit transportieren kann, was Ursache und Wirkung verkehren würde.
Aber, da man es nicht so genau weiß, zeigt der „Tunneleffekt“ auch eine „Aufenthaltswahrscheinlichkeit“ jenseits der Mauern unserer Sinne, wie der physikalische Begriff der Unschärfe, der Undefinierbarkeit und Unauffindbarkeit von „Teilchen“, also von Wirklichkeit nur mit dem Verstand. Schlesak begibt sich, mehr noch als in seinem vorherigen Gedichtband (Landsehn, Galrev 1997) so am radikalsten auf eine neue Landsuche im Innern des Forschenden selbst.
Gegen ein Zwischenreich der Phantome wehren sich diese tieferen Lebenskräfte in Milliarden von Menschen täglich, die täglich neu auferstehen und jenen tödlichen Belag, der auf der Welt liegt, immer wieder weg-leben! Das Subjekt rückt ins Zentrum: denn der dichteste Ort des Alls ist der menschliche Kopf. Kenntnis ist übersetztes kosmisches Wissen in unsere Sprachformen, vor allem in die der Mathematik,außerhalb derer für uns überhaupt nichts existieren kann. Das Subjekt, der Grund dieser Kenntnis selbst, aber kann begrifflich niemals erfaßt werden… Dieses Unfaßbare wurde einmal „metonymische Kausalität“ (abwesender Grund) genannt.

***

„Hier ist, um mit Musil zu reden, nicht nur eine neue Seele da, sondern auch der dazugehörige Stil. Das vitale Sprach- und Erfahrungsmaterial ist in großräumige Rhythmen übersetzt, die in der Fernedie Zentnerschwere einer lyrischen Tradition von Gryphius bis Guenter und Klopstock ahnen lassen, bei denen die Form gerade noch die alles sprengende Erfahrung fasst… Man möchte auf die formale und sprachliche Kunstleistung hinweisen, auf die Vielfalt der Themen – und könnte doch nur sagen: Ecce Poeta. Viele dieser Gedichte lassen den Leser nicht los, sie greifen seine Erfahrung, sein Bewußtsein an.“

Walter Hinderer, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Poetik der Absenz

Auf Grund der verschlüsselten Wahrnehmung unserer Welt erweisen sich immer häufiger jene Dichter als Wegweiser durch die Undurchschaubarkeit, die mit Hilfe von interpretierenden Nachworten und begleitenden Essays ihren lyrischen Texten eine größere Transparenz verschaffen. Dieter Schlesak, aus dem siebenbürgischen Schäßburg stammend, seit den frühen siebziger Jahren in der Bundesrepublik und in der Toskana lebend und schaffend, unterzieht sich dieser Aufgabe in seinem Gedichtband „Tunneleffekt“ mit einer besonderen Intention. Eingebettet in den „Licht-Tunnel“, in dem der eigene Körper zum Exil geworden ist, umgeben von der „Wand der Augen“, den „Exilen“, der „Poesia erotica“, dem „Licht, die schnelle Grenze“ und den „parallelen Universen“ entwirft sein lyrisches Ich eine Poetik der Abwesenheit, in der die Archipele einer Sinnhaftigkeit angesiedelt sind, die dem Leben in der entchristianisierten westlichen Welt verwehrt wird. In der nun anbrechenden Epoche sei der Mythus des Christentums ebenso abgeschafft wie die Zeit: „Die Zeitlose / droht“, und in ihr ist „der Körper – nur noch ein aufgelöstes Kleid / die Vorgabe, die wir waren / reißt“. Womit ist aber der Raum besetzt, wenn aufgelöste Zeit und aufgelöster Körper nicht mehr als Orientierungsraster funktionieren? Sind es die Fremden, die „Embryonen des Futurs / mit den Hypnose-Augen“ oder ist gar die „unfertige Welt“ – ein Modell der Hoffnung?
In der „Wand der Augen“, so die Vor-Erkenntnis nach dem ersten Abschnitt des Bandes, erweisen sich nur die „Engel (als) unsere Helfer“, sie scheinen die Träger einer Poetik zu sein, die das „heimlich Leben / das einmal kommen wird / denn nichts vergeht“ mit einer (noch) abwesenden Sinnhaftigkeit erfüllen. Doch vorerst bleiben die „Exile“, die künstlichen Welten, die Grundlage jener Trostlosigkeit des Ersatzes, die beharrlich nach der neuen Subjektivität fragt. Für Schlesak, dessen lyrisches Ich aus der Poetik der Absenz seine tiefgreifenden Wortwurzeln holt, ist es das Fehlende, „die Absenz, die ins Herz des Wirklichen zielt“.
Wer bis zu dieser Passage in den komprimierten Texten gelangt ist, dem sei das Nachwort des Autors dringend empfohlen. Anderenfalls ertrinkt er in der Flut der Gedanken, die oft weniger linear als zyklisch angeordnet sind. Absenz sei heute der allgemeine Zustand geworden, „und erst in den Zwischenräumen des ‚Realen‘ kann es Hoffnung geben, sie ist bildlos und hart, es ist eine Leerstelle im Gewohnten, die Voraussetzungen sind günstig, die Zeit selbst hat Abschied im Blick ‚Gott ist der Tod‘“. (S. 179) Ich gestehe, daß mich solche apodiktischen Sätze nicht wissender machen angesichts der philosophischen Einsicht des Autors, daß wir nur zwischen Leben und Tod eine andere Bewußtseinsform erlangen können.
Andererseits finde ich immer wieder über eine neue Passage Zugang zu einem poetologischen Weltmodell, das die Transzendenz des Lebens in der Ungeheuerlichkeit des Todes erfassen möchte. Aus diesem Grund gehören Schlesaks polemische Anmerkungen zur Hilflosigkeit unserer zeitgenössischen Dichter, die nach Celan oder Brodskij sich in einer geschichtslosen Lyrik verstecken, ohne aus dem Sprachgefägnis ausbrechen zu wollen, zu den anregendsten poetologischen Anmerkungen über die Undurchschaubarkeit der Welt in diesem Band.
Solche Reflexionen gewinnen jedoch meiner Ansicht nach nur dann eine Luzidität, wenn die lyrischen Texte nicht in der apokryphischen Dunkelheit von Zitaten und waghalsigen Gedankensprüngen verschwinden. Störend im lyrischen Leseprozeß sind auch die didaktischen Einsprengsel, in denen das lyrische Ich die Jagd unserer Zeitgenossen nach Illusionen verurteilt. In „Parallele Universen“ heißt es dazu: „wir aber jagen immer noch hinter den Beweisen her / jagen real gedachte Phantome / aus dem Längstvonunsüberholten … Nichts als Gier eines Daseins / Nichts als die reine Gaukelei“. (S. 151)
Zu den eindrucksvollsten Lektüren gehören die Zwiegespräche mit Paul Celan, Ernst Meister, Walter Benjamin, in denen die Poetik des Posthumanen jene Konturen erlangt, die sie in vielen anderen Passagen nur allzu bruchstückartig entwickelt. Es bleibt das vorläufige Fazit: Hier schreibt sich ein aphoristischer Lyriker durch die lichten Höllen einer Menschheit, die in der von ihr potenzierten Geschwindigkeit und der rasanten Verwertung des Lebens keinen Zugang mehr zu einem humanen Tod schaffen kann. Wer also gibt das Signal zur Umkehr?

Wolfgang Schlott, Zeitschrift Orientierung, 65/2001

Dialektische Spiralen der poetischen Erkenntnis

− Zu einem neuen Band mit Gedichten und einem Essay von Dieter Schlesak. −

Dieter Schlesak,der 1934 in Schäßburg geborene und seit 1969 abwechselnd in Deutschland und Italien lebende deutschsprachige Lyriker, Prosaautor und Essayist, definierte in einem Interview mit Stefan Sienerth seine Literatur als einen Versuch, Brüche auf einen Nenner zu bringen: „… es geht um Brüche, für die Nenner gesucht werden mussten: Nazizeit, Krieg, Kommunismus, Aussiedlung.“ Sein letzter Gedichtband „Landsehn“, erschien 1997, war geprägt von einer ununterbrochenen Bewegung durch Zeit und Raum, hin zur Erschaffung der multifunktionalen Metapher „Land“ als Territorium., Insel, Festland – oder in Abwandlung als Port im polaren Gegensatz zum bewegten Wasser -, letztendlich als Endstation der Geborgenheit für den Wechsler zwischen Kontinenten, Ländern und Kulturen. Ein Zentrum auf das hin jegliche Bewegung gravitiert und in dem die vom Dichter angesprochenen Brüche vereint werden können.
Im jünst erschienenen Band Tunneleffekt – gegliedert in sechs Teile/Zyklen: „Die Wand der Augen“, „Exile“, „Poesia Erotica“, Licht Tunnel“, „Licht, die schnelle Grenze“, „Parallele Universen“ und einem Essay, „Fragmente zu einer posthumen Poetik“ – konserviert der Dichter das Perpetuum mobile des Wechsels und das Sehen, das instinktive Erblicken und Näherbringen, das bewusste Analysieren, Auflösen und Wiederherstellen von Bildern, das die lyrische Beobachtung ausmacht, vollzieht jedoch eine neue Spiralenschlaufe der lyrischen Analyse und Erkenntnis, indem er nicht mehr das Land sondern das Ich in seinen unterschiedlichen Hypostasen zum metaphorischen Zentrum und lyrischen Objekt macht.
Die Poesie ist individueller, ich-bezogener Logos oder versuchtes Kommunikationsmittel zwischen Ich und Du vor einem landschaftlichen Hintergrund der Horizonte, Vögel, Zikaden, Wasserläufe, Palmen, Meere, Gärten. Sie ist systematisches Pulsieren des Ich, bei dem die vielfachen organischen Funktionen des menschlichen Körpers transponiert werden auf die Ebene des poetischen Vorgangs; Sehen, Aufnehmen, Heranzoomen oder Wegzoomen, Analysieren, synthetisches Integrieren bewirken das Erschaffen neuer eigener Universen über das wesentlichste Organ des Lyriker Schlesak: des Auge als Membrane äußerster Sensibilität und Komplexität.
Zwar eine Poesie der großen Themen, jedoch nicht der großen Dimensionen oder Sprachgesten. Dimensionen, die den menschlichen Körper übertreffen, werden auf wesentliche Bestandteile hin destilliert: der Garten wird zum Grashalm, der Kosmos zum Himmelszelt, die Zeit zum Augenblick, wobei Schlesak noch einen Schritt weiter geht und selbst diese symbolischen Elemente wiederholt auflöst in Sinnkomponenten: „Himmels Zelt“, „Gras Halm“, „Augen Blick“; zeitliche-räumliche-inhaltliche Konzentration von Universen auf monadenartige Bilder: „Alles was je sein wird, ist immer / schon da.“
Es ist dies ein aktueller Humanismus, eine Ich- und Menschenbezogenheit nicht im Sinn des humanen Vorbildcharakters und Bildungsideals, sondern als letzte mögliche Alternative im sozialen und historischen Trubel unserer Zeit. Das Maß aller Dinge ist nicht mehr der Mensch. Das Maß aller Dingen sind die Dinge selbst und wir, Menschen/Dichter, müssen sie in unsere Innenräume integrieren, nicht um sie in rilkescher Manier zu retten, sondern um eine Chance zu haben, uns selbst zu retten: „… es bleiben ja nur die Wörter stehen, die nicht mehr weitermachen, wenn ich sie weglege…“
Und in einer weiteren Umkehrung rilkescher Prinzipien erfolgt der Wechsel zwischen Ding/Kreatur und Dichter/Mensch nicht allein, indem die Dinge verinnerlicht werden („Siehe: innerer Mann dein inneres Mädchen…“), sondern durch einen weiteren Schritt, den der Neuansiedlung des Dichters/Menschen in das Innerste der Kreatur: „alles was mich lebt…macht die Osmose möglich“. Bezeichnend dafür auch:

Und hör die Stimme nur im Wort!
die jetzt beginnt: du bist bei uns
komm sei uns näher
als dir bewusst

wir sind in jedem Gras Halm
den du siehst
er ist nicht mehr
es ist dein Blick der ihn erschafft
im Finger der bewegt
und uns bezeichnet

Wir sind so nah dass du
uns gar nicht sehen kannst
wir sind in dir
und du in uns geborgen.

Durch Beobachtung und Erfahrung der Welt, die den lyrischen Prozess vorausgeht, wird der Dichter auf die wesentlichen Themen gelenkt, die er im Vers umsetzt: Verhältnis zwischen Leben und Leben, Leben und Tod:

GEBROCHENES AUGE

Mikroskopisch singt vor dir
ein Lid, das un-
gesehen sieht

Es starrt die Landschaft
hier gebrochen an und sieht
was Tote leben.

Die Spirale dieses Gedichtbandes schließt sich wie auch im Fall von „Landsehn“, wo die einzig mögliche Konsequenz eine intensive Hinwendung zum Irdischen war („Die Erde, ein wie / unsäglich Tatsächliches“ und in Abwandlung des Rilkeschen „Hiersein ist herrlich“ der Kernsatz: „ein Ende hat es / was nicht ist / hier.“), mit dem intensiven Hinweis auf das Ich in seiner gegenwärtigen irdischen Bezogenheit:

DER AUGENBLICK BRICHT AUF

Hinweg hinweg stehn
Still Gedanken
sie sieben diese Welt.

Und bin in dir und werde jetzt
im Vers so hell
steh still und atme noch

Ein AugenBlick war ganz bei ihnen
kehrt jetzt zurück ich staune wieder
dass ich noch bin.

In „Ging mein Leben…“ bündelt Schlesack ein Zeit-Raum-Kontinuum seiner lyrischen und biologischen Existenz:

Ging mein Leben
Ein Vers voraus
wie mein Vater
Als ich ein Kind war

In der Hauptstraße der Stadt
Am kleinen Park

Rast

Ich weiß, er ist wahrer
als mein Leben sein kann
Das hinter mir hergeht
mich hinabzieht wie Blei

Ich weiß, das Urteil ist schön längst
Gesprochen
Und ich warte nun draußen
auf seine Vollstreckung

Doch immer noch geht
Ein Vers voraus
Ein Blatt
auf dem stand
Dass ich es sei…

Dichtung ist Bewegung, Vollendung einer Bahn, Ankunft und Anlauf, mit anderen Worten: „Brüche, für die ein Nenner gesucht werden muss“. Dichtung ist der Versuch, Brüche auch in der Sprache zu überwinden, was Schlesak mit Bravour gelingt, z.B. durch vage Andeutungen von delikaten Reimansätzen oder durch eine Syntax des ununterbrochenen Wortflusses kombiniert mit dem Verzicht auf eine hemmende Großschreibung, so dass die Dynamik der Texte beschleunigt wird.
Schlesak lebt sein lyrisches Leben „in wachsendem Ringen“; der bisher letzte ist am weitesten gespannt und hinterlässt die tiefste Spur. Insgesamt sind es Spuren, die wehtun: „…als wärst du ohne Haut“, Spuren, die sich einprägen in die Zellwände der Seele:

BEIM ERWACHEN

Hörst du sie
rauschen um dich
wenn die Zellwand der Seele
fällt?

Übergib dich jenen
die die Uhren
schmelzen
zu denkhellem Licht:
wie die Unruhe
die früh
in dich fiel.

Der im Band enthaltene Essay „Fragmente zu einer posthumen Poetik“ ist ein Gedankenspiel mit theoretischen und praktischen Varianten des Prinzips Literatur, bei dem die Kraftlinien und Wirkungsfelder der vorangegangenen Gedichte noch einmal, aufgeblendet werden. Ein virtuoser Wechsel der Betrachtungsebenen, ein Ab- und Auftauchen in Räume, die vom geteilten Bewusstsein zeitlich strukturiert werden, schließlich der Versuch anhand dieser das Wesen der Lyrik zu verbalisieren: Lyrik als Sog von historischen und gesellschaftlichen Grenzsituationen.
Schlesaks Überlegungen konzentrieren sich auch im Essay auf einige der Hauptthemen seiner Gedichte: Leben und Tod, Zeit das Ich, die in einem systemischen Zusammenhang gesehen werden. Daher klingen einige Kernaussagen nicht wie Rezepte, sondern sie stellen eher Fluchtpunkte der Analyse dar. „Schreiben geschieht an dieser Grenze des Todesbewusstseins in einer merkwürdigen Geborgenheit und Absence, wo etwas Wesentliches, Intimes festgehalten werden kann!“
„Das Gedicht bringt das Unzertrennte, Unzerschnittene wieder; das Gedicht ist nicht Zeitverlauf, sondern die aufblitzende Sequenz.“
„Schreiben ist zwiespältig, es ist versuchte Todesverdrängung; da aber Tod und Leben zusammengehören, ist es zugleich Lebensaufschub und Totengespräch.“
Die Auseinandersetzung mit der Zeit erhält hier philosophische Dimensionen. Der lyrikimmanente Zwiespalt: „…dass alles noch da ist und schon längst vergangen – ist ein Aufbrechen unserer Logik, von der auch die Sprache bestimmt ist“.
Man könnte sicherlich Alternativen dazu entwickeln, so etwa, dass es eher so ist, dass Sprache Bewusstsein und folgerichtig auch Logik generiert hat.
Sollte der Mensch/Dichter eine neue Sprache der Lyrik kreieren, bei der alle Verben im Infinitiv stehen; sollten Vorgänge und Gefühle bloß benannt werden ohne zeitliche und personenabhängige Einschränkungen, wo doch G. Eich sagt: „Dass der Augenblick, wo ich dies sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd“? Und sollte infolge der resignierten Bestandsaufnahme Eichs: „Ich bin nicht fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit hinzunehmen“, ein neuer Wirklichkeitsbegriff geschaffen werden, der der Lyrik im Zeitalter der Virtualität entspricht?
Angesichts dieser „neuen Wirklichkeit“ werden tradierte Begriffe aufgegeben, wie etwa der Begriff des Autors: „Der Autor, das Ich oder die ‚Iche‘ werden aufgelöst“. Vielmehr: die „Iche“ changieren von einer Subjekt- zu einer Objektfunktion, werden zum Austragungsort des lyrischen Geschehens.
Schlesak sagt über das Gedicht: „Die wichtigste Perspektive des Gedichts ist: die Zeit aus dem Blickwinkel von Liebe und Tod zu ‚fühlen‘“. Damit bleibt er einem Credo treu, das er auch in seinen Gedichten umsetzt, nämlich, dass das Gedicht auch im Zeitalter der elektronischen Reproduktion und Produktion – oder gerade in dieser Zeit – noch immer etwas Sinnliches ist.

G.R. Stoica, Siebenbürgische Zeitung, 15.9.2000

Der Versemacher als parapsychologischer Überbaumeister

Ein Vers, „er ist wahrer / Als mein Leben sein kann / Das hinter mir hergeht / Mich hinabzieht wie Blei“: Der 66-jährige Dieter Schlesak stammt aus Rumänien und lebt seit 1973 in Stuttgart und in der Nähe von Lucca in Italien. Er ist ein Experte des fremden Blicks und mit ungeheurer Produktivität ist er in Lyrik, Prosa und Essays der Wundpflege nachgegangen – jedoch nicht, um zu heilen. Er hat den Schmerz von Unterdrückung und Verfolgung konserviert und dieser Schmerz ist, bei allen Systematisierungsversuchen, die Quelle seines Schreibens geblieben.
Widersprüchlich sind die Versuche immer noch, Schlesaks Werk einzuordnen. Ernst Meister und Paul Celan werden als Einflüsse auf die Lyrik immer wieder, nicht nur von Schlesak selbst, genannt. Mit Franz Hodjak, Oskar Pastior, Werner Söllner und Ernest Wichner lassen sich anderer rumänisch-deutsche Schriftsteller nennen, die – bei allen Fernen im Einzelnen – einen Kontext bilden. Für Schlesak selbst scheint das weniger denn je eine Rolle zu spielen. Er ist nun endgültig zum Apokalyptiker geworden und illustriert seine Sehnsüchte mit pseudowissenschaftlichem Engagement in Bibelexegese und Parapsychologie.
Nirgends wird das deutlicher, als wenn man sich die von ihm betriebene Website „Transsylvania“ anschaut – mit allerlei Stoff zu Grenzphänomenen, Dracula-Legenden und „Transkommunikationen“. Das macht aber auch die Lektüre seines neuen Gedichtbandes „Tunneleffekt“ mitunter mühsam, wenn nicht gar unerträglich. Der Autor macht sich ans Numinose und scheint dabei jegliche Empfindung für Wesen und Funktion von Metaphorik verloren zu haben. Beschreibungen physikalischer Modelle werden ohne irgendeinen Reflexionsschritt in raunende Bekehrungsrhetorik übersetzt. In manchem erinnert das an die Gläubigkeit des Monismus, mit dem vor hundert Jahren Ernst Haeckel die Welträtsel gelöst sehen wollte.
Gerade wenn man sich Schlesaks früheren Bücher ansieht, kann die Enttäuschung, oder besser: das Unverständnis, heute kaum grösser sein. In seinem Nachwort zu einer Sammlung rumänischer Lyrik der Gegenwart hat Schlesak vor einigen Jahren geschrieben: „ Ausgangspunkt ist das Totalitäre, seine falsche Pathetik und sein Kitsch.“ Das meint natürlich die Konzentration auf ein Thema, dessen Bedingungen nicht gewählt sein konnten, sondern aufgezwungen sind. Doch angesichts von über 170 Seiten neuen Gedichten, die mit grosser Redundanz verlässliche Auflösungsprozesse beschwören und blasse Geheimnisse mystifizieren, stellt sich die Frage, was für eine Bewegung von diesem (negativen) Punkt ausgeht.
Es sieht ganz so aus, als würde da einer immer wieder zu seinen Geistern zurückkehren und allein ihre Gesellschaft noch ertragen. So prätentiös das bisweilen ist, steckt in diesem eitlen Phrasengeklingel doch auch eine tiefe Verletzung, hinter die es kein zurück gibt.
An die Gedichte schliesst sich ein langer Essay an, „Fragmente zu einer posthumen Poetik“. Hier versucht Schlesak, sich aus diesem unheilvollen Kreis zu verabschieden, Legitimation zu finden in einer weniger geistigen, als vielmehr von wie auch immer gearteten Geistern bevölkerten Immaterialität. Wunderbar fügt sich für ihn die als Sehnsucht und Schicksal empfundene Auflösung der malträtierten Ich-Geschichte in ein nur mehr buchstabiles Gefüge mit neuen Beschreibungen physikalischer Effekte, in denen die Ordnung von Raum und Zeit aufgehoben ist, und schliesslich parapsychologischen „Erkenntnissen“, die der bloss sinnlichen Welt einen vielversprechenden Überbau verschaffen. Natürlich findet sich da auch die alte Tradition von Apokalyptikern und Metaphysikern, nach existenziellen Letzt- und Erstbegründungen zu suchen, um komplexe Wirklichkeitsverhältnisse und Kontingenzen linearisiert und alles Widerständige in Verschwörungstheorien integrieren zu können.
Doch Ernst und Intensität der lyrischen wie essayistischen Anläufe Schlesaks bewahren ihn davor, dass aus seiner „posthumen“ auch eine posthumane Poetik wird, wenn er eben diese Gefährdung selbst bewusst macht: „Schreiben ist nicht nur der Diktatur verwandt, indem es die Welt einzusperren versucht, seit einiger Zeit überschreitet es die Grenze, lässt Welt und Text ineinander fliessen, Schreiben ist zwiespältig, es ist versuchte Todesverdrängung; da aber Tod und Leben zusammenhängen ist es zugleich Lebensaufschub und Totengespräch.“

Guido Graf, Basler Zeitung

Dialektische Spiralen der poetischen Erkenntnis

Dieter Schlesak, der 1934 in Schäßburg/Siebenbürgen geborene und seit 1969 abwechselnd in Deutschland und Italien lebende deutschsprachige Lyriker, Prosaautor und Essayist, definierte in einem Interview seine Literatur als einen Versuch, Brüche auf einen Nenner zu bringen: „… es geht um Brüche, für die Nenner gesucht werden mussten: Nazizeit, Krieg, Kommunismus, Aussiedlung…“ (Stefan Sienerth: Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa).
Schlesaks Gedichtband Landsehn, erschienen 1997, zeichnete sich aus durch eine ununterbrochene Bewegung durch Zeit und Raum, durch einen dynamischen Wechsel auf der Ebene der Makrogeografie und der Poetologie, mit der stringenten Konsequenz der Erschaffung der multifunktionalen Metapher Land als Territorium, Insel, Festland – oder in Abwandlung zur hölderlinschen Metapher als Port und im polaren Gegensatz zum bewegten Wasser – letztendlich als Endstation der Geborgenheit für den Wechsler zwischen Kontinenten, Ländern und Kulturen. Ein Zentrum auf das hin jegliche Bewegung gravitiert und in dem die vom Dichter angesprochenen Brüche vereint werden können.
Im jüngst erschienenen Band Tunneleffekt – gegliedert in sechs Teile/Zyklen: „Die Wand der Augen“, „Exile“, „Poesia Erotica“, „Licht Tunnel“, „Licht, die schnelle Grenze“, „Parallele Universen“ und einem Essay, „Fragmente zu einer posthumen Poetik“, – konserviert der Dichter das Perpetuum mobile des Wechsels und das Sehen, das instinktive Erblicken und Näherbringen, das bewusste Analysieren, Auflösen und Wiederherstellen von Bildern, das die lyrische Beobachtung ausmacht, vollzieht jedoch eine neue Spiralenschlaufe der lyrischen Analyse und Erkenntnis, indem er nicht mehr das Land sondern das Ich in seinen unterschiedlichen Hypostasen zum metaphorischen Zentrum und lyrischen Objekt macht.
Tunneleffekt ist ein großartiger Dialog des Dichters mit dem Universum in seinen dimensionalen Extremformen, ein „Streit des Weisen“ mit der überdimensionalen und unsichtbaren Zelle des Universums und den gleichwohl unsichtbaren Atomen der Materie. Die Poesie ist individuelles ich-bezogenes Logos oder versuchtes Kommunikationsmittel zwischen Ich und Du vor einem landschaftlichen Hintergrund der Horizonte, Vögel, Zikaden, Wasserläufe, Palmen, Meere, Gärten.
Die Poesie ist systematisches Pulsieren des Ich, bei dem die vielfachen organischen Funktionen des menschlichen Körpers transponiert werden auf die Ebene des poetischen Vorgangs; Sehen, Aufnehmen, Heranzoomen oder Wegzoomen, Analysieren, synthetisches Integrieren bewirken das Erschaffen neuer eigener Universen, und das alles geschieht über das wesentlichste Organ des Lyrikers Schlesak: dem Auge als Membrane äußerster Sensibilität und Komplexität.
Zwar eine Poesie der großen Themen, jedoch nicht der großen Dimensionen oder Sprachgesten. Dimensionen, die den menschlichen Körper übertreffen, werden auf wesentliche Bestandteile hin destilliert: der Garten wird zum Grashalm, der Kosmos zum Himmelszelt, die Zeit zum Augenblick, wobei Schlesak noch einen Schritt weitergeht und selbst diese symbolischen Elemente wiederholt auflöst in Sinnkomponenten: „Himmels Zelt“, „Gras Halm“, „Augen Blick“. Zeitlich-räumlich-inhaltliche Konzentration von Universen auf monadenartige Bilder: „Alles was je sein wird ist immer / schon da.“
Es ist dies ein aktueller Humanismus, eine Ich- und Menschbezogenheit nicht im Sinn des humanen Vorbildcharakters und Bildungsideals, sondern als letzte mögliche Alternative im sozialen und historischen Trubel unserer Zeit. Das Maß aller Dinge ist nicht mehr der Mensch. Das Maß aller Dinge sind die Dinge selbst und wir, Menschen/Dichter, müssen sie in unsere Innenräume integrieren, nicht um sie in rilkescher Manier zu retten, sondern um eine Chance zu haben, uns selbst zu retten: „… es bleiben ja nur die Wörter stehen die nicht mehr weitermachen wenn ich sie weglege…“
Und in einer weiteren Umkehrung rilkescher Prinzipien erfolgt der Wechsel zwischen Ding/Kreatur und Dichter/Mensch nicht allein indem die Dinge verinnerlicht werden („Siehe: innerer Mann dein inneres Mädchen…“), sondern durch einen weiteren Schritt, der Neuansiedlung des Dichters/Menschen in das Innerste der Kreatur: „alles was mich lebt … macht die Osmose möglich“.
Bezeichnend dafür auch:

Und hör die Stimme nur im Wort!
die jetzt beginnt: du bist bei uns
komm sei uns näher
als dir bewußt

wir sind in jedem Gras Halm
den du siehst
er ist nicht mehr
es ist dein Blick der ihn erschafft
im Finger der bewegt
und uns bezeichnet

Wir sind so nah daß du
uns gar nicht sehen kannst
wir sind in dir
und du in uns geborgen.

Durch Beobachtung und Erfahrung der Welt, die dem lyrischen Prozess vorausgehen, wird der Dichter auf die wesentlichen Themen gelenkt, die er im Vers umsetzt: Verhältnis zwischen Leben und Leben, Leben und Tod:

GEBROCHENES AUGE

Mikroskopisch singt vor dir
ein Lid, das un-
gesehen sieht.

Es starrt die Landschaft
hier gebrochen an und sieht
was Tote leben.

Oder:

Nichts ist verloren
was in uns blieb
und all die Jahre stehen still.
Die Zeit dreht sich um und versucht einen Hieb.
Doch der Tod wird ein Kinderspiel.

Oder:

Im momenthaft gebauten Kehlkopf
steigen sie herab wie früher die Engel
berühren unsere Iris
nicht nur Synapsen, Neuronen

Längst ist der erste Schock vorbei
und wir sind gute Nachbarn der Fernen
Landschaften wie von anderen Sternen
Kopie an uns
Jenseits des Todes  
Leben wir auf!

Die Spirale dieses Gedichtbandes schließt sich wie auch im Fall von Landsehn, wo die einzig mögliche Konsequenz eine intensive Hinwendung zum Irdischen war („Die Erde, ein wie / unsäglich Tatsächliches“ und in Abwandlung des Rilkeschen „Hiersein ist herrlich“ der Kernsatz: „ein Ende hat es / was nicht ist / hier.“), mit dem intensiven Hinweis auf das Ich in seiner gegenwärtigen irdischen Bezogenheit:

DER AUGENBLICK BRICHT AUF

Hinweg hinweg stehn
Still Gedanken
Sie sieben diese Welt.

Und bin in dir und werde jetzt
im Vers so hell
steh still und atme noch

Ein Augen Blick war ganz bei ihnen
kehrt jetzt zurück ich staune wieder
dass ich noch bin.

In „Ging mein Leben…“ bündelt Schlesak ein Zeit-Raum-Kontinuum seiner lyrischen und biologischen Existenz:

Ging meinem Leben
Ein Vers voraus
Wie mein Vater
Als ich ein Kind war

In der Hauptstraße der Stadt
Am kleinen Park

Rast

Ich weiß, er ist wahrer
Als mein Leben sein kann
Das hinter mir hergeht
Mich hinabzieht wie Blei

Ich weiß, das Urteil ist schon längst
Gesprochen
Und ich warte nun draußen / Auf seine
Vollstreckung

Doch immer noch geht
Ein Vers voraus
ein Blatt
Auf dem stand
Daß ich es sei…

Dichtung ist Bewegung, Vollendung einer Bahn, Ankunft und Anlauf, mit anderen Worten: „Brüche, für die ein Nenner gesucht werden muss…“. Dichtung ist der Versuch, Brüche auch in der Sprache zu überwinden, was Schlesak mit meisterhafter Bravour gelingt, z.B. durch vage Andeutungen von delikaten Reimansätzen oder durch eine Syntax des ununterbrochenen Wortflusses kombiniert mit dem Verzicht auf eine hemmende Großschreibung, so dass die Dynamik der Texte beschleunigt wird:

hol die bilder aus dem auge,
nicht aus dem blatt
ein kopf los elend

der gedanke schießt wie der weg
in die ferne
aber in der ferne
bin ich weg…

Schlesak lebt sein lyrisches Leben „in wachsenden Ringen“; der bisher letzte ist am weitesten gespannt und hinterlässt die tiefste Spur. Spuren, die wehtun. „… als wärst du ohne Haut…“, Spuren, die sich einprägen in die Zellwände der Seele:

BEIM ERWACHEN

Hörst du sie
rauschen um dich

wenn die Zellwand der Seele
fällt?

Übergib dich jenen
die die Uhren
schmelzen
zu denkhellem Licht:
wie die Unruhe
die früh
in dich fiel.

Eine posthume Poetik?
Ein Gedankenspiel mit theoretischen und praktischen Varianten des Prinzips Literatur, bei dem die Kraftlinien und Wirkungsfelder der vorangegangenen Gedichte noch einmal aufgeblendet werden. Ein virtuoser Wechsel der Betrachtungsebenen, ein Ab- und Auftauchen in Räume, die vom geteilten Bewusstsein zeitlich strukturiert werden, schließlich der Versuch anhand dieser das Wesen der Lyrik zu verbalisieren: Lyrik als Sog von historischen und gesellschaftlichen Grenzsituationen, Sog der unzähligen sanften Kinderaugen, der weit aufgerissenen Frauenaugen, die aus den Augenhöhlen herauszuspringen drohen, der verzweifelten Männeraugen, die spätestens seit Hiroshima oder Auschwitz Lyrik aus uns „herausziehen“, Silbe für Silbe, Wort für Wort und Vers für Vers.
Schlesaks Überlegungen konzentrieren sich auch im Essay „Fragmente zu einer posthumen Poetik“ auf einige der Hauptthemen seiner Gedichte: Leben und Tod, Zeit, das Ich, die in einem systemischen Zusammenhang gesehen werden. Daher klingen einige Kernaussagen nicht wie Rezepte, sondern sie stellen eher Fluchtpunkte der Analyse dar. „Schreiben geschieht an dieser Grenze des Todesbewusstseins in einer merkwürdigen Geborgenheit und Absence, wo etwas Wesentliches, Intimes festgehalten werden kann!“.
 „Das Gedicht bringt das Unzertrennte, Unzerschnittene wieder; das Gedicht ist nicht Zeitverlauf, sondern die aufblitzende Sequenz.“
 „Schreiben ist zwiespältig, es ist versuchte Todesverdrängung; da aber Tod und Leben zusammengehören, ist es zugleich Lebensaufschub und Totengespräch.“
Die Auseinandersetzung mit der Zeit erhält hier philosophische Dimensionen. Der lyrikimmanente Zwiespalt: „… dass alles noch da ist und schon längst vergangen – ist ein Aufbrechen unserer Logik, von der auch die Sprache bestimmt ist!?“
 Man könnte sicherlich Alternativen dazu entwickeln, so etwa dass es eher so ist, dass Sprache Bewusstsein und folgerichtig auch Logik generiert hat.
Sollte der Mensch/Dichter eine neue Sprache der Lyrik kreieren, bei der alle Verben im Infinitiv stehen; sollten Vorgänge und Gefühle bloß benannt werden ohne zeitliche und personenabhängige Einschränkungen, wo doch G. Eich sagt: „Dass der Augenblick, wo ich dies sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd.“
Und sollte infolge der resignierten Bestandsaufnahme Eichs: „Ich bin nicht fähig, die Wirklichkeit so, wie sie sich uns präsentiert, als Wirklichkeit hinzunehmen“ ein neuer Wirklichkeitsbegriff geschaffen werden, der der Lyrik im Zeitalter der Virtualität entspricht? Angesichts dieser „neuen Wirklichkeit“ werden tradierte Begriffe aufgegeben, wie etwa der Begriff des Autors: „Der Autor, das Ich oder die ,Iche‘ werden aufgelöst…“ Vielmehr: die „Iche“ changieren von einer Subjekt- zu einer Objektfunktion, werden zum Austragungsort des lyrischen Geschehens.
Schlesak sagt über das Gedicht: „Die wichtigste Perspektive des Gedichts ist: die Zeit aus dem Blickwinkel von Liebe und Tod zu ,fühlen‘…“ Damit bleibt er einem Credo treu, das er auch in seinen Gedichten umsetzt, nämlich dass das Gedicht auch im Zeitalter der elektronischen Produktion und Reproduktion – oder gerade in dieser Zeit – noch immer etwas Sinnliches ist.

Georg Quante, sandammeer.at, 2002

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Wolfgang Schlott: Von der „Gier des Daseins“
die horen, Heft 2, 2001

 

Dieter Schlesak

− Blick vom toskanischen Berg. −

Da ist jemand, der verdient ein Minimum. Doch mit dem Minimum wagt er alles. Er richtet sich nicht ein in der Bundesrepublik und läßt sich nicht ausrichten von ihr. Er kennt die groben Zwänge der östlichen Welt, aus der er kommt. Und er spürt die subtilen Zwänge der westlichen Welt, die sich frei nennt. In dieser Freiheit empfindet der Rumäne Dieter Schlesak, 1934 im deutschsprachigen Siebenbürgen geboren, die Bundesrepublik am bedrohlichsten. Er zieht nach Süden – über die Alpen. In der Toskana entdeckt er ein verlassenes Haus. Das Haus wird seine Bleibe. Hier findet er zurück zum dichterischen Wort, das ihm in der Bundesrepublik abhanden gekommen ist. Hier gelingt ihm der Gedichtband Weiße Gegend, der einen unverwechselbar neuen Ton in die deutsche Lyrik bringt – in der Pause mit den Vaterländern. Eines dieser Gedichte beschreibt die Exil-Problematik der deutsch-jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler, die zu Zeiten des „Dritten Reiches“ Zuflucht in Jerusalem fand und dort 1945 starb:

Von Jerusalem kam sie
zurück
an die Grenze, dachte
an Rückkehr,
sah
lange hinüber −
kein Posten schoß.
Aber alle vertrauten Namen,
die in ihr waren,
schossen
von jenseits der Grenze plötzlich
zurück.
Im Schwindel drehte
sich
die Welt, im Wahnsinn,
verbot die Heimkehr.
Die Verbrennungen aber
stärker spürbar und immer stärker zuhaus
im himmlischen Jerusalem
trieben sie
zur Grenze zurück,
wieder
und immer wieder
zurück.

Unmittelbar nach seiner Emigration Ende 1969 formulierte Dieter Schlesak erste Eindrücke, Erfahrungen und Meinungen über den Westen in zwei Essay-Bänden. Auf dem Flug zu ihm nach Italien lese ich noch einmal die von mir herausgeschriebenen Sätze:

„Was der reaktionäre Sozialismus nicht schaffen konnte, der Westen hat’s geschafft: die totale Vergesellschaftung des Denkens.“
„Superkünstliche Gebrauchswelt bis in die Landschaft. Diktatur der Sachen! Wo bleibt das Individuelle in dieser auf ,persönliche Freiheit‘ bedachten Welt?“
„Im Westen haben sich ganz neue Methoden der Unterdrückung ergeben, die bisher in der Geschichte nicht bekannt waren und die von keinem Diktator verordnet, von keiner Machtelite gesteuert werden, sondern anonym, als System funktionieren und tiefer reichen als totalitäre Despotie: die freiwillig, gar lustvoll angenommene Diktatur der Güter und ,Freiheiten‘.“ „Meine ganze Reise in den Westen war eigentlich nur eine Zerstörung von Illusionen, Mystifikationen. Eine Therapie… die Welt ist für mich nun recht klein geworden, es gibt keinen Ausweg mehr.“

Andere Sätze überfallen mich gleich nach der Ankunft auf dem Flughafen Pisa. Dieter Schlesak steuert sofort auf ein bizarres Themengebirge zu. Seine Lebensgefährtin Linde Birk lenkt derweil den Wagen über die Via Aurelia zum 30 Kilometer entfernten Haus am Berghang über Camaoire. Ich sitze neben ihr, schaue bei ihren kühnen Überholkünsten schreckhaft nach vorn – und höre erschrocken nach hinten. Hinten sitzt Dieter Schlesak, neben ihm der Hund Flocki aus einem deutschen Tierheim.
Dieter Schlesak spricht von der Feldionen-Aufnahme eines Wolframmoleküls, das dem Strukturmuster der stalaktitischen Kuppel im Alhambrapalast von Granada gleicht. Ich höre etwas von der Röntgenstrahlenzerlegung des Beryll-Kristalls, den Ähnlichkeiten in den Mustern alttibetanischer Mandalas, von der biologischen Evolution, der Mikrophysik, der Genetik, dem Irresein als fehlgelaufener Erleuchtung, von der Mystik und der Meditation. Der Monolog führt von Einstein zu Heisenberg, von Heisenberg zu Carl Friedrich von Weizsäcker, von Weizsäcker zu Gershorn Scholem, von Scholem zu Paul Celan, von Celan zu Dieter Schlesak.
Das alles während einer halben Stunde Fahrt. Das alles, ohne daß ich mitschreiben kann. Mein Notizblock liegt in der Tasche, und die Tasche liegt im Kofferraum. Das ist – wie sich herausstellt – gut so. Denn als wir ankommen im Haus der beiden, beginnt Dieter Schlesak von neuem. Und nun so sinnlich, so verständlich, so faszinierend, daß ich drei Tage lang zuhöre, ohne zu ermüden. „Wenn die Schärfe nicht mehr verwundet“, heißt es in einem seiner Gedichte.

In die Ferne gerückt
zum ganzen Leben gebracht.
Als ließe sich plötzlich
begreifen: was fehlt.

Dieter Schlesak, nicht Rumänien zugehörig und nicht der Bundesrepublik, auf der Suche nach einer Geborgenheit, die über Vaterländer und Systeme hinausgeht. Ein Mann mit einem gewaltigen Identifizierungsgestus. Aber sich identifizieren womit? Aufgewachsen in und geprägt von einer Doppelwelt: dem Deutschen und dem Rumänischen, dem Westen und dem Osten, dem Kapitalismus und dem Kommunismus, dem merkantilen Protestantismus und dem sinnlichen orthodoxen Christentum. Ein Mann, ständig in einer Doppelbewegung des Aufdeckens und Zudeckens von Erfahrungen, des sich Heraustrauens aus der Isolierung und des sich gleich wieder Zurückziehens, des sich Einkapselns und des sich Heraussprengens.
In seinem Arbeitszimmer stehen an die tausend Bücher im Regal. Fast kein belletristisches Werk darunter. Bücher über Physik, Wissenschaftstheorie, Mythologie, Psychologie, westliche und östliche Philosophie, jüdische Mystik, Ökologie, Theosophie, Esoterik, Liebe, Meditation. Wo immer ich ins Regal greife, halte ich Exemplare in der Hand, die Schlesak mit einem Bleistift an den freien Stellen vollgeschrieben hat: Kommentare, Assoziatives. „Partituren“ für seinen 1400-Seiten-Roman Die Kunst des Verschwindens.
Da versucht einer, unsere unüberschaubar gewordene Welt wieder überschaubar zu machen, die Atomisierung des Wissens aufzuheben, einen neuen Lebenszusammenhang herzustellen und mit diesem Versuch der Literatur wieder den Rang zurückzugewinnen, den sie bis James Joyce und auch noch im Scheitern Robert Musils (Der Mann ohne Eigenschaften) gehabt hat: ihrer Zeit voraus zu sein. Sechstausend Seiten hatte er niedergeschrieben und dann alles beiseite gelegt. Weiter gekommen wäre er allemal. Noch einmal sechstausend Seiten. Und dann wieder. Ein Schreiben ohne Ende. Grenzenlos.
Nach siebenjähriger Arbeit am Berg seiner Wörter legte er eine Pause ein. Er schaute aus dem Fenster seines Arbeitszimmers herab auf das tyrrhenische Meer bis hin zum 150 Kilometer entfernten Korsika. Er stieg die Treppe hinab zum Wohnzimmer und hörte nichts anderem zu als dem Pendelschlag der Uhr. Er ging aus dem Haus und durchstreifte seinen Grund. 9500 Quadratmeter. Er schlug im eigenen Wald sein Holz für den Kamin. Er sah, wie er inmitten von Weinreben, Olivenbäumen, Kastanien und Pinien lebte. Zwischen Margeriten, Rosen, Oleander, Zitronen, Orangen, Krokussen, Narzissen, Thymian, Rosmarin, Ginster, Myrten, Orchideen, Veilchen und Magnolien. Er kletterte vorbei an dem alten Genueser Wachturm, den Berg hinauf zum Sattel in 1250 Meter Höhe.
Dem Dieter Schlesak öffnete sich auf einmal eine Welt, die er bisher so hartnäckig und auch gewalttätig über viele tausend Seiten hinweg zu öffnen versucht hatte. Mit dem intuitiven Blick des Lyrikers ließ sich fassen, was bisher unfaßbar erschien. In der kleinen Einheit des Gedichts begannen große Wörter zu leben:

Und von vorn arbeitet Sisyphos
Odyssee, XI

Weiße Gegend
Für Jürgen M.

1
Ein weißer Marmorblock
wie schweres Papier
klebt hart an meiner Wange.

Ich halte sie hin / mir zu
nur probeweise.
Schlimmer war in Carrara

das weiße Todesgewicht
der Blöcke / – Kunst
die immer schon Sklaven tötete.

Die ersten Intellektuellen
waren dabei. / Entsetzlich hoch
der Gedanke / und schwer

kaum zu erreichen: genau
wie der Herr −
wälzend also täglich

ihm zu den Block voller Zweifel
als wärs die Strafe
für unser Wachsein.

2
Einige Bildhauer kamen
Steinmetzen zum Teil Genies
und übernachteten im Freien

Hoben das Gewicht der Sterne leichter
als den täglich herabfallenden
weißen Gedanken.

Wie ein Regen kam er / von jenseits
der Milchstraße und narrte sie
mit ihren Augen. / Denn immer war schon

alles vorbei und nicht mehr zu halten.
Versuche gab es fest zu halten im Block
dies aber führte meist
zum donnernden Hinab. / Und weiß lag er
darunter / zerquetscht mit Leib und Leben
vom Gedankenblock dem fremden Berg

den er sich angemaßt so
zu versetzen.

3
von vorn gesehn
was da uns zukommt
in einem fort

das ist die Utopie
die wir doch nie
erreichen können

weil sie zu nah
uns auf den Leib
geschrieben

und mit uns ständig atmet.
Sie nachzuahmen / aussichtslos
ist diese Zwangs- und Sklavenarbeit.

So ackernd jeden Tag
Wortfelder die zu weit verstreut
vom Block zerdrückt
wenn er herabfällt / wir erwachen:

4
Wer weiß / vielleicht ist es
ein Krebs / ein Unfall jetzt
ein Schlangenbiß / wer weiß
was auf uns zukommt / ja vielleicht

auch nur ein Krieg / die Bombe
faßbarer vielleicht: so allgemein erwartet
daß mancher meint
er könne sie vergessen −
sogar den eignen kleinen Tod / damit beruhigt
weil tausendmal Tod / Geschichte ist.

Der Block hat faßbar hochgerechnet
so etwas wie gezeichnet
ein Gesicht.

Ist dann der Schrecken / schreckloser
wenn er den eignen Abgrund überbrückt
Trost der Statistik / hat schon jede Folge
abgerechnet: / was uns so zustößt
ist erkennbar im Gerät. / Kaum überrollt
vom alten Schicksal

unfaßbar nur wir selbst −
Und überholt.

Und zwischen den Zeilen
hängen geblieben / etwas wie
Hoffnung.

Die Gedichte strömten Dieter Schlesak zu und wurden zusammengefaßt zu dem Band Weiße Gegend – Fühlt die Gewalt in diesem Traum, der 1981 im Rowohlt-Verlag erschien. Das Thema der Lyrik ist das der Prosa. Schlesak formuliert es so: „Umwelt-Verlust, aber auch Reinigung, auch Heilung von alten seelischen Krücken, beispielsweise vom deutsch-protestantischen Über-Ich, dem schon marxistische Dialektik und östliche Mystik entgegengewirkt hatten, und nun das Romanische in Italien: Aus der Katastrophe, aus dem Schock lernen, das Deutsche, das in mir mehrfach gebrochen ist, auch von außen und aus der Distanz sehen, die verinnerlichten Mauern zerstören und sich darin üben, dahinter einen neuen festen Boden zu erkennen – das ist die historische Landschaft der ,Weißen Gegend‘: Übergang, unbetretener Boden, Hoffnung – aber auch die Möglichkeit ausgelöscht zu werden. In dieser Gegend sind überall Zeichen dafür zu erkennen, daß der Mensch den großen kosmischen Zusammenhang nicht mehr ignorieren darf, soll er nicht in einem geschichtlichen Kollaps enden.“
In seinem Gedichtband erreicht Schlesak scheinbar mühelos jene Formvollendung, um die er zuvor über die vielen tausend Seiten hinweg in der Prosa gerungen hat. Das Gelingen in der Form des Gedichts eröffnet dem Autor schließlich auch Erkenntnis darüber, wie der Roman eingegrenzt werden kann: Die Hauptfigur Michael T. verschwindet bereits im ersten Satz und hinterläßt 6000 Seiten Beschriebenes. Ein Freund nimmt sich dieses Materials an und stellt es zu einem Buch zusammen. Von seiner Arbeit erhofft er sich auch eine Erklärung dafür zu finden, warum Michael T. alles plötzlich liegengelassen hat und verschwunden ist. Mit Hilfe dieser Konstruktion – ego und alter ego – tritt der Autor Schlesak zur Positionsbestimmung des modernen Menschen an, greift er zurück bis zur Renaissance, holt jene Kulturen wieder hervor, die Opfer der zerstörerischen weißen Zivilisation wurden.
Für den Dichter auf dem toskanischen Berg ist mein Besuch in erster Linie ein Test, welche Wirkung seine Argumentation auf mich hat. Und die Argumentation entspricht genau der, die im Roman geführt wird. Doch das wird mir erst klar, als ich meinen Rückflug antrete. Da wünsche ich mir, daß er es schaffen möge, Kunst und Technik, Ethos und Politik, soziales Engagement und Selbsterfüllung, Intellekt und Leben, Geist und Seele in einen schöpferischen Gleichklang des Rhythmus und der Zahl zu bringen. Aber so weit ist er noch nicht. Noch sucht er nach Verbindungen zwischen den vielen Klarheiten, die er im italienischen Exil gewonnen hat. Und sieht sich bei dieser Suche in neue Verwirrungen verstrickt. In diese Verwirrungen zieht er mich hinein. In sein vibrierendes Nicht-Zurechtkommen mit sich, den anderen, der Zeit und seiner Arbeit.
Utopien haben eine unangenehme Eigenschaft: Sie sind ortlos, wie der Name sagt, und nisten ewig. Insofern ist Dieter Schlesak ein utopischer Mensch seit der Kindheit. Er hat sich nie wohl gefühlt in seinem Geburtsstädtchen Schäßburg, rumänisch Sighişoara. Er gehörte jener Volksgruppe an, die vor Jahrhunderten aus der Rhein-Mosel-Gegend in dieses Grenzland zwischen Okzident und Orient gekommen war, die sich in der Abschirmung gegen alles Fremde Kultur und Sprache erhalten hatte. In Siebenbürgen hatten die Deutschen das Sagen; in Bukarest die Rumänen, zu deren Staat Siebenbürgen gehört.
„Das innere Siebenbürgen hat erschreckende Abgründe“, schreibt Schlesak. „Es ist ein Herz mit Pulverfässern.“ Das demokratisch-ständische Gemeinwesen dort, das an das der Eidgenossen erinnert, aber noch älter ist, wurde sogar von Lenin für vorbildlich gehalten. Das im 13. Jahrhundert eingeführte Gesetz zur allgemeinen Schulpflicht war das erste allgemeine Schulgesetz der Welt. Schlesak nennt nicht nur diese positiven Fakten aus der Geschichte. Doch wieviel Positives er auch sagt, es ändert nichts daran, daß ihm die Kargheit dieser Volksgruppe, ihre rigide Arbeitsmoral, diese Philosophie des Abrackerns ein Greuel ist.
Schlesak spricht von dem animistischen Glauben seiner Kindheit, von jener Vorstellung, daß alles beseelt sei, daß man in Beziehung treten kann mit Geistern, Tieren und Pflanzen. Er erinnert sich, wie die Siebenbürger Deutschen diese Vorstellung für nicht existent erklärten, wie sie sie verdrängten. Und er sah, wie die Rumänen sich ganz anders verhielten: in Osmose mit der Natur. Der Schriftsteller: „Die Rumänen waren überall, geräuschlos, fast demütig, sie waren sozusagen das Land selbst, man bemerkte sie kaum; wie ein Wald als Selbstverständlichkeit angenommen wird, so war es auch mit ihrer Existenz.“
Am tiefsten bewegt hat ihn in der Kindheit die rumänische Offenheit dem Tod gegenüber: „Diese Vertrautheit mit allen natürlichen Vorgängen. Der Tote wurde nicht versteckt, er lag offen aufgebahrt im Sarg mit abgeschraubtem Sargdeckel, vor allem auch offen vor den Kindern. Uns wurden diese Dinge delikat verborgen, mit einem sentimentalen Schleier und protestantischen Trostsprüchen verhüllt, gefaßt zwar, sich ins Unvermeidliche und Natürliche schickend, doch im Grunde genommen verweigerte man sich der Brutalität des Falles, blieb in der Distanz des Gefühls und sentimentalisierte luxuriös seinen Schmerz. Man ließ den Toten sozusagen allein, verbündete sich mit seiner Abwesenheit.“ Der elementare Bereich der Existenz wurde versperrt. Man versuchte mit Tüchtigkeit, mit Ratio und zivilisatorischem Eifer die Geister zu verdrängen, sich „gegen die Auflösung, gegen den Irrsinn, die inneren Gefahren zu wehren, zu bestehen, Besitz anzuhäufen als ,Sicherheit‘, etwas ,Bleibendes‘ zu hinterlassen, sich hinter Mauern und Häuserbesitz, hinter seinem ,Hof‘ und der Gemeinde mit den in Tuchfühlung stehenden Häusern der Nachbarn gegen die Gefahren des Elementaren abzuschirmen.“ Schlesak schreibt: „Ethos dieser Gemeinschaft war von Anfang an die Rechts- und Gesetzessicherheit und die Sicherheit durch den ,Grund‘, nicht östliche unio mystica mit dem Organischen und Natürlichen.“
Heimat? Hieß das nicht alles zusammen? Nicht nur die deutsche Insel im Südosten Europas, die umgeben war von Rumänen, Juden, Ungarn, Zigeunern? Warum also diese Abwehr der anderen Gruppierungen? Dieter Schlesak wollte mit den anderen spielen, doch er mußte in der deutschen Bannmeile leben. Er sah die Lebenslust der anderen und mußte sich anhören, das „deutsche Wesen“ widerspreche den „liederlichen“ Eigenschaften der anderen. Das deutsche Gruppenverhalten ließ sich mit dem Wort „völkisch“ umschreiben, längst bevor es Hitler zum geflügelten Wort machte. Seelisch erstarrt in der Abwehr des Fremden, waren die Siebenbürger Deutschen offen für die NS-Ideologie.
Dieter Schlesaks Vater war Kaufmann in Schäßburg, besaß ein Geschäft. Die Mutter war Lehrerin bis zu ihrer Heirat. Zu ihren Jugendfreunden zählte der in der Stadt ansässige Apotheker Capesius, der später Dienst tat im KZ Auschwitz und im Frankfurter Auschwitzprozeß zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Auch in der Verwandtschaft des Dieter Schlesak gehörten zwei als SS-Männer dem KZ-Wachpersonal an, einer davon ebenfalls in Auschwitz. Warum sind so viele Deutsche aus Siebenbürgen ausgerechnet in der SS gewesen? War ein rumänisch-deutsches Abkommen, das den Deutschen in Rumänien ausschließlich den Zugang zur SS ermöglichte, Erklärung genug? Für Schlesak wurden und blieben dies Fragen, die an Virulenz gewannen.
Es sind Fragen, die sich einkerbten in seine Literatur, die seine Literatur prägten. Bis hin zu dem Roman, an dem er jetzt sitzt. Könnte es nicht sein, daß die deutsche Welt in Siebenbürgen in nuce Deutschland war und daß diese deutsche Welt zugleich den Kapitalismus spiegelte? Siebenbürgen gewissermaßen als Modell einer verhängnisvollen Entwicklung westlicher Zivilisation? Dem zehnjährigen Dieter Schlesak jedenfalls erschien 1944 der Einmarsch der Russen in Siebenbürgen wie eine Befreiung. Er sah, wie die Väterwelt in panischer Angst stand und ihre Autorität sich in nichts auflöste. Wie sich Lebensmöglichkeiten ergaben, die er sich immer gewünscht hatte, um einzutauchen in die bis dahin ausgegrenzte sinnliche rumänische Lebensart.
Doch diese neue Freiheit war nun eine Freiheit der Rumänen. Die Herablassung, mit der die Deutschen in Siebenbürgen die Rumänen so lange behandelt hatten, wurde nun den Deutschen gegenüber praktiziert. Das bürgerliche System in Bukarest, das schnell noch von der deutschen auf die russische Seite gewechselt war, brauchte überdies nun Sündenböcke. Zu Sündenböcken gestempelt wurden die Deutschen in Siebenbürgen, von denen Zehntausende zur Zwangsarbeit ins Donez-Becken deportiert wurden. Erst die Kommunisten, die das bürgerliche System 1948 beseitigten, machten mit den Willkürakten Schluß, gaben den Deutschen wieder sprachliche Autonomie, eigene Zeitungen und eigene Schulen.
Für Dieter Schlesak wurde dieser Kommunismus eine Hoffnung. Er absolvierte eine pädagogische Schule, ging mit 18 Jahren als Lehrer aufs Land, unterrichtete in Dendorf 25 Kinder, baute einen 90köpfigen Chor auf, dirigierte und gewann mit dem Chor alle Wettbewerbe. Er wurde mit der Arbeitsmedaille der Nationalversammlung ausgezeichnet. Er wurde mit einer Studiengenehmigung für die Universität Bukarest belohnt. Dieter Schlesak studierte Germanistik, und er beschäftigte sich intensiv mit dem Marxismus. Er suchte an der Universität die Nähe derjenigen, die einst von der NS-Ideologie verfolgt waren, und wurde abgewiesen.
„Ich war und blieb für sie ein Deutscher“, erinnert er sich. „Doch zu den Siebenbürger Sachsen wollte ich nicht mehr zurück. Was blieb, war der Marxismus. Mit seiner Hilfe konnte ich die Väterwelt, die mir diese Abweisung eingebrockt hatte, noch einmal zusammenbrechen lassen.“ Die Zerstörung der Väterwelt war wiederholbar, aber sie war nicht – wie er schnell merkte – beliebig wiederholbar. Das Gefühl historischer Bodenlosigkeit führte in die Depression. Aus der Depression heraus führte ausgerechnet Siebenbürger Kolonisten-Mentalität: Wo die Wirklichkeit sich verweigert, gilt es, sich eine andere Wirklichkeit zu schaffen. Dieter Schlesak begann zu schreiben. Er schuf sich seinen eigenen Boden, und er hielt sich fortan am Boden Sprache fest.

Auf der Grenze gehen ist verdächtig.
Doch lieb ich euren Verdacht, er
bestätigt mir stets
die Nützlichkeit meiner Vergehen.
Wie ist es doch anrüchig, nimmer gesehen zu werden,
wie weckt ein sicheres Versteck
das große Mißtrauen:
wenn man über eure Köpfe hinweg
schweigt.
Und ich weiß:
jede Nacht ist ein Verbrechen,
jedes Herz ist ein Überläufer,
und der Tod ist mein Freund,
vor dem ihr mißmutig zwar,
doch endlich
den Hut zieht!

Dieter Schlesak schloß sein fünfjähriges Studium in Bukarest 1959 mit einer Examensarbeit über Thomas Mann ab. Heute weiß er seine Leseerlebnisse während der Studienzeit zu deuten: „Es war die Suche nach Religion, nach religio, also nach Bindung.“ Sein Denken erweist sich im Rückblick als eine Gratwanderung zwischen den Lehrern des dialektischen Materialismus und den wissenschaftlich sich ausweisenden Theologen des Marxismus. Im Mittelpunkt dieses Denkens steht das eschatologische Motiv. Heute weiß er auch, daß die Kommunisten im Ostblock für die religiöse Signatur der Situation total blind waren und noch sind.
Damals las Schlesak die Werke Jean-Paul Sartres: „Seine Theorie hat mich angezogen und mich immer wieder enttäuscht. Wir haben in seinem Existentialismus wahrscheinlich mehr gesehen, als zu sehen war. Wir haben ihn metaphysisch aufgefaßt – als Widerstand gegen das Vordergründige der Ideologie.“ Irgendwann zu jener Zeit hielt Schlesak die Jugendgedichte des aus Czernowitz stammenden Lyrikers Paul Celan in der Hand, der als Jude die Verfolgung durch die Nazis überlebte und sich 1970 im Pariser Exil das Leben nahm. „Es war eine Lesebegegnung, die mir die Augen öffnete“, sagt der Schriftsteller heute. In den Jugendgedichten fand er einen „Hauch von konkreter sinnlich faßbarer Transzendenz“. Er spürte „das Geheimnis der Metapher, die mich sinnlich berührte“. Von nun an wußte er, was er wollte: „Selbst dieses Geheimnis herstellen!“ Er erkannte in der Dichtung Celans das Zusammentreffen zweier seit der Aufklärung getrennter Kulturen: Geist und Politik, exakt und human, Engagement und Transzendenz. „Diese wesentliche Neuheit in der deutschen Poesie kommt vielleicht nur noch bei Hölderlin in dieser Intensität vor“, schrieb Schlesak später.
Die Abschlußarbeit an der Universität über Thomas Mann schrumpfte zur Marginalie: „Denn bei Thomas Mann ist der Untergang des Bürgertums zwar bis zur Auflösung der Gefühle dargestellt, doch die Konsequenz dieser Gefühlsschwäche, dieses Mangels an Gefühl, wird niederschmetternd erst sichtbar gemacht von Paul Celan. Thomas Mann schließt ab, Paul Celan schließt auf.“ Fasziniert steht Dieter Schlesak später vor dem Gedichtbank Niemandsrose und dem dort zu findenden Satz: „Alle Dichter sind Juden.“ Und er liest die Verse: „Groß / geht der Verbannte dort oben, der / Verbrannte: ein Pommer, zu Hause / im Maikäferlied, das mütterlich blieb…“
Was ihm dieses Leseerlebnis bedeutet, beschreibt Schlesak in einem Essay unter dem Titel „Wort als Widerstand“ (Literaturmagazin 10: Vorbilder. Rowohlt): „Auch der Vertriebene aus dem Osten wird mit den Verbrannten, den Toten, den in Rauch und Asche Aufgegangenen in eins gesetzt, nur im Lied noch zu Hause, das über die Grenze zwischen Leben und Tod hinweg kommunizieren kann – jene Denk-Grenze durchstößt, die festgefahren und zur Norm erklärt, wohlbehütet von der Psychiatrie, eine politische Ordnung erst möglich macht: und Herrschaft, die dann diese Opfer fordert. In und nach ,dunklen Zeiten‘ aber verschieben sich die Begriffe – ein Spalt wird sichtbar. Hölderlin ist an solch einem von ihm durchdachten Umbruch zerbrochen. Mit großer Wahrscheinlichkeit auch Paul Celan.“ Dieter Schlesak wird nach Abschluß seines Studiums Redakteur an der in Bukarest deutschsprachig erscheinenden Zeitschrift Neue Literatur, die vom Rumänischen Schriftstellerverband herausgegeben wird. Eine Publikation für die fünfte deutschsprachige Literatur neben der der Bundesrepublik, der DDR, Österreichs und der Schweiz. Hier arbeitet und publizierte der 1930 geborene Romancier Paul Schuster (Fünf Liter Zuika), der seit 1972 in Westberlin lebt; hier kamen die frühen Gedichte des 1927 geborenen Lyrikers Oskar Pastior heraus, der 1968 nach Westberlin ging. Rumänien ist das einzige Land im Ostblock, in dem es eine geschlossene deutsche Kultur gibt.
Die stalinistische Phase in Rumänien dauerte bis 1962/1963. Zu jener Zeit begann sich die Ära Ceausescu abzuzeichnen, der im März 1965 im Alter von 47 Jahren als erster Sekretär der Kommunistischen Partei die Nachfolge des verstorbenen Diktators Gheorghiu Dej antrat. Mit der Ära Ceausescu verband sich die im Westen als sensationell empfundene Emanzipation Rumäniens von der sowjetischen Vorherrschaft. In der Umbruchphase geriet der 28jährige Dieter Schlesak erstmals in die Fänge der rumänischen Geheimpolizei. „Ich stellte fest, daß sie alles über mich wußten“, erinnert er sich. „Das war wie ein Schock für mich. Sie fragten nach meinen· brieflichen Kontakten mit Kollegen in der Bundesrepublik. Sie fragten nach der Beziehung zu einem inhaftierten Kollegen in Rumänien. Sie fragten, fragten, fragten, und sie wußten im voraus alles. Dieses Gefühl, total überwacht zu sein, ist nie mehr von mir gewichen. Ich sagte ihnen, daß ich Marxist sei. Und sie lachten mich aus. Das war für sie nicht wichtig. Es bedeutete gar nichts. Wichtig war nur die Einschüchterung durch Macht.“

Die Poesie ist kein Freiraum
für Schwäche
sie
fordert von uns
leicht und spielend
und wir wissen es nicht
daß wir schwimmen
unter Wasser
durch die Kanäle
ohne zu ersticken: über die Grenze
Beweis einer Kraft
die wächst
mit der Gefahr
ins kalte Wasser zu springen
andern ein Beispiel.

Seit 1962 war Dieter Schlesak verheiratet mit der Lyrikerin Magdalena Constantinescu, die als medizinische Assistentin arbeitete. Er hatte die vier Jahre jüngere Rumänin an der Universität kennengelernt. Im Jahre 1966 lernte Schlesak den Lyriker Reiner Kunze aus der DDR kennen, der zu einem Besuch in Bukarest weilte. Im Jahre 1968 gelang es dem inzwischen 34jährigen Schlesak, seinen ersten Gedichtband mit dem Titel Grenzstreifen durch die Zensur zu bringen. Das Buch erschien unmittelbar nach der Okkupation der ČSSR durch die Truppen des Warschauer Paktes, nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“, an der sich keine rumänischen Truppen beteiligten. Ceausescu, letzter Staatsgast bei Alexander Dubcek in Prag, wandte sich damals mit scharfen Worten gegen diesen militärischen Gewaltakt. Dieter Schlesak erinnert sich: „1968 war auch das Jahr der Freiheit in Rumänien. Wie viele Rumänen dachte ich, daß der Freiheitsraum erhalten bleibt. Und wie viele Rumänen empfand ich Stolz darüber, daß es jemand im Ostblock wagte, das Verbrechen der Okkupation auch ein Verbrechen zu nennen. Ich bewarb mich um die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Rumäniens. Doch dann kehrte Ceausescu zur alten Innenpolitik der Unterdrückung zurück und verschärfte sie Jahr für Jahr. Damals, 1968, in seinem einzigen in Rumänien erschienenen Gedichtband Grenzstreifen war selbst dieses Gedicht von der Zensur unbeanstandet geblieben:

Vorteile mit Handschellen zu leben:
Man muß keinem die Hand reichen.
Man kann nicht in die Tasche greifen.
Man kann keine Selbstbefleckung treiben.
Man kann keine Verse schreiben.
Man muß die Augen nicht bedecken, wenn Unrecht geschieht.
Niemand kann vom Gefangenen eine Missetat verlangen,
denn
die größte wurde schon an ihm begangen.
Man ist zu keinem Widerstand verpflichtet.
Man muß sich nicht selbst ankleiden. Und Uniformen
ziehen einem die anderen an
man kann keine Reden halten.
Man kann kein Gewehr halten.
Man kann nicht grüßen.
Man kann seinen Gefühlen mit den Füßen Luft machen.
Man kann sich die Tränen nicht abtrocknen.
Man muß am Leben bleiben, Selbstmord ist unmöglich.

Im Oktober 1968 durfte Dieter Schlesak seine erste Reise in den Westen antreten. Er flog nach Brüssel und fuhr zu einer Literaturveranstaltung mit Peter Handke und Thomas Bernhard nach Mondorf in Luxemburg, reiste dann nach Paris, setzte sich in den Zug und erlebte die Bundesrepublik, besuchte von der Bundesrepublik aus auch die DDR, war zu Gast in Österreich. Seine ersten Eindrücke mit dem Westen hielt er fest in dem Buch Visa Ost West Lektionen, das 1970 bei S. Fischer in Frankfurt erschien. Darin berichtet er auch über seine Rückkehr nach einem halben Jahr und seine zweite Reise im November 1969 in die Bundesrepublik, von der er nach Rumänien nicht mehr zurückkehrte.
Er, der Deutsche aus Siebenbürgen mit der rumänischen Staatsangehörigkeit, schreibt: „Heimat Osteuropa beschert nämlich ein ganz besonderes Reisegepäck: die innere Haltung eines Doppelemigranten. Zu Haus nicht mehr, doch immer zu Haus, im Reiseland noch nicht, doch schon immer im Reise-Land. Und niemand kann den Gedanken an eine endgültige Flucht aus dem ,Ostblock‘ unterdrücken, wenn er gen Westeuropa reist. Doch es ergeben sich unerschwingliche Preise dafür, die dann schließlich zeitweilig die meisten bezahlen. Man nimmt eine Art negativer Liebe auf sich, die keinen Boden unter den Füßen hat, lebt zeitweilig aus politischen Gründen, je länger man im Westen verweilt, nur noch mit den Erinnerungen und mit Ressentiments. Doch ohne reale Bindung, hat man sein wirkliches Leben zum Märchen gemacht.
Zwischen zwei Ländern, zwischen zwei politischen Wirklichkeiten leben, heißt keiner anzugehören und sich zugleich beiden verbunden zu fühlen. Die Rationalisierung der daraus entstehenden Melancholie, sei es nun (in meinem Fall): die levantinische oder die deutsche, ist vielleicht dem Drang, in der Luft gehen zu können, gleichzusetzen. Das ferne Gruselmärchen Rumänien wurde mir hier im Westen so vertraut wie eine Kindheitserinnerung, vertrauter als das Land meiner langjährigen Illusionen: Europa.“
Ein ganzes Jahr lebte Dieter Schlesak mit seinem rumänischen Paß in Frankfurt. In Rumänien kam 1970 sein Sohn zur Welt. Als Schlesak zum zweiten Mal in den Westen kam, hatte er im Reisegepäck Paul Gomas Gefängnis-Roman Ostinato. Der Roman hatte in Rumänien nicht erscheinen dürfen. Nun erschien er 1971 bei Suhrkamp in Frankfurt. Auf der Frankfurter Buchmesse verließen deswegen die rumänischen Verlage aus Protest das Ausstellungsgelände.
Schlesak sagte sich: „Ich wollte nicht noch einmal in die Situation kommen, daß der kleine innere Zensor wieder in mein Gehirn einsteigt, wenn der große Zensor zu drohen beginnt.“ So blieb er im Westen, wurde er Deutscher mit dem Paß der Bundesrepublik. Im Jahre 1973 erreichte er, daß seine Frau und sein Sohn Rumänien verlassen durften. Zahlreiche Briefe waren in der Zwischenzeit hin- und hergeschickt worden. Darin Gedichte, die das Hin- und Hergerissensein der beiden spiegeln. Die schmerzliche Veränderung der Lebensverhältnisse des einen ohne den anderen. Zwei östliche Leben im Weltwechsel. Bei der Ankunft von Frau und Kind in der Bundesrepublik war die Ehe gescheitert. Magdalena Constaninescu lebt seitdem mit dem Sohn in München, arbeitet als medizinische Assistentin, schreibt weiter rumänische Gedichte, für deren Veröffentlichung sich kein Verleger findet. Ihr Sohn übersetzt inzwischen ihre Gedichte ins Deutsche. Dieter Schlesak ebenfalls.
Im Jahre 1978 erschien in dem Göttinger Mini-Verlag Pawlik & Schlender unter dem Titel Briefe über die Grenze ein gemeinsam zusammengestellter Band mit Gedichten von Magdalena Constantinescu und Dieter Schlesak, der das Scheitern der Beziehung nachzeichnet. Ein beeindruckender lyrischer Dialog über Liebe, Trennung und Exil, der von den Medien nicht zur Kenntnis genommen wurde und keine Öffentlichkeit fand.
Dieter Schlesak schreibt vom „Widerspruch am Himmel“:

Genau dies weiß ich nun nach sieben Jahren,
zuhause kann ich sein
nur hier – im Flug, als wär ich damals in
der Luft
und schwebend zwischen meinen Vaterländern
trotz all der Schüsse auf der Grenze stehngeblieben.
Ein Vogel aber bin ich nicht,
der Grüne Wagen blüht mir, doch ich wollt
ein Haus.
Gern wär ich nur ein Bürger, bin sein
Waisenkind.
Ich lieb die Länder, Orte, Frauen nur,
wenn ich die Freiheit auch zum Abschied hab.
Nur in der bittern Flucht und ungeschützt
im Freien kann ich Zeit erfahren.
Die Zeit der Zeit, Vorläufigkeit
setzt mir den kleinsten Floh ins Ohr.
In allen Leuten ist sie heute auf der Flucht:
den Himmeln schrecklich nah
und nicht mehr auf der Erde.

Magdalena Constantinescu antwortet ihrem Mann, indem sie an die österreichische Schriftstellerin „Christine Lavant, die Hinübergegangene“ schreibt:

Mein Name
Ist Magdalena Maria
Und ich habe das Beten verlernt
Denn irr ist das Gehen geworden
Wie auf dem Mond,
Wie auf dem Mond.
Da oben gehe ich ein −
Es ist zum Zaumzeug geworden −
Eis fließt in meinem Blut,
Verknüpft mit einem Andern.
Ich tauche tief hinein. −
Lehr mich das A und das O −
Und wie das Amen heut klingt.
Und lehr mich die Stadt,
Wo der Mond wohnt −
Im Kinderlied, sieh
Ich höre: Stern kalt wie Wein.
Leg über mein wildes Abseits
Ein Wort für mich ein.

Dieter Schlesak ist nach seiner Emigration, wie die meisten, die seinen Weg nahmen, viel gereist: nach Amerika, nach Israel, durch die westeuropäischen Länder. Er lernte in der Bundesrepublik die Simenon-Übersetzerin Linde Birk kennen und lieben. Er zog von Frankfurt nach Bensberg bei Köln. Er arbeitete für den Rundfunk. Er schrieb einen zweiten Essay-Band: Geschäfte mit Odysseus – Zwischen Tourismus und engagiertem Reisen. Das 1972 erschienene Buch ging ebenfalls unter in der Flut der Neuerscheinungen. Unter den Beiträgen steht die für mich beste Analyse Israels von einem Deutschen meiner Generation. Dieter Schlesak spürte, daß er in der Emigration seine dichterische Substanz verlor. „Ich war unfähig, Gedichte zu schreiben“, erinnert er sich. „Ich war unfähig, Prosa zu schreiben. So wich ich automatisch in den Bereich des Journalismus aus. Auch aus der Notwendigkeit heraus, Geld verdienen zu müssen. Aber doch eben stärker deshalb, nicht mehr wie früher schreiben zu können. Hätte ich gewußt, was im Westen auf mich zukommt, wäre ich in Rumänien geblieben. Sozialisation kann schmerzlich sein. Aber der Umbau einer Persönlichkeit ist eine Katastrophe. Und nichts anderes findet statt, wenn ein Erwachsener die Welt wechselt.“
Schlesak schreibt: „Ostemigranten wissen meist nicht, wie ihnen geschieht, auch wenn sie risikoreich über die Mauer gesprungen, durch die Donau geschwommen oder mit falschem Paß über Ungarn nach Österreich gereist sind. Sie verlieren zwar den inneren Druck, fühlen sich ein paar Wochen gut, frei und mit der offenen Welt nebenan, doch recht bald haben sie das Gefühl des Absterbens, so, als schrumpften die Sinne, als ob man sich langsam in einen Toten verwandle, ausgeronnen und blutleer; das Ich geht verloren und läßt sich nicht mehr finden. Man wird selbst zum Teil der plastic people, verliert seine sinnlichen Fähigkeiten und stilisiert sich mehr oder weniger zur westeuropäischen Maske.“
Dieter Schlesak sagt: „In der Bundesrepublik dachte ich, ich verliere meine Sinne, meine Wahrnehmung. Ich hatte das furchtbare Gefühl, in einer Wüste zu leben. In einem Land totaler Zerstörung, einer Zerstörung durch Neubau, Bauboom und Spekulation. Der äußeren Zerstörung war die innere in diesem Land gefolgt. Selbst die USA erschienen mir menschlicher als dieser Teil Deutschlands mit seiner schrecklichen Seelenlosigkeit, mit seiner höflichen Erbarmungslosigkeit. Dies war für mich ein Land hinter Glas. Ich registrierte, aber ich nahm nichts mehr wahr. Ich war auf der Suche nach Rumänien, nach jenem Rumänien jenseits politischer Gängelung. Und ich fand dieses Rumänien in Italien. Seit 1973 lebe ich nun hier mit Linde Birk in Camaoire.“
Dieter Schlesak zog damals in ein Haus am Hang, das seit 1945 nicht mehr bewohnt war. Es gab weder fließend Wasser noch Strom. Das Wasser mußte von einem Brunnen geholt werden. Ein Maultierpfad führte zum Haus hinauf. Heute ahnt der Besucher nichts mehr von dem beschwerlichen Anfang. Das Haus ist nun voll angeschlossen an die Versorgungsnetze des Ortes. Der Maultierpfad ist geteert. Dort oben am Hang unter den italienischen Nachbarn lernte Dieter Schlesak italienisch, und er umkreiste seine neue Heimat.
Der Schriftsteller beschäftigte sich intensiv mit den Ärzten, Pflegern und Patienten der psychiatrischen Heilanstalt Arezzo, wo ein neues Betreuungskonzept entwickelt wurde. Er beschrieb dieses neue Konzept in dem von Agostino Pirella herausgegebenen Buch Sozialisation der Ausgeschlossenen Praxis einer neuen Psychiatrie. Er besuchte auch Heilanstalten in Österreich. Er schrieb Rundfunkfeatures und ein Hörspiel über seine „Reisen zum Wahnsinn“. Er kam in Italien mit östlicher Meditation in Berührung. Und in meditativer Versenkung gelangte er wieder zu sich selbst, schrieb er seine „Weiße Gegend“. Dichtung nach siebenjähriger Sperre.
Heute sagt er: „Die wichtigsten Impulse für meine heutige Literatur habe ich nicht durch Literatur bekommen. Ich bekam sie durch Beschäftigung mit der Religion und der Physik. Schreiben wurde für mich ein Meditationsvorgang.“ Dieter Schlesak zitiert den Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, der selbst meditiert: „Ein sehr wichtiger Teil des meditativen Prozesses ist, daß wir uns loslösen von der Nötigung, immer nur das wahrzunehmen, womit wir etwas anfangen wollen. Und es kann sein, daß uns da Strukturen begegnen, die uns sogar in der alltäglichen Erfahrung begegnen würden, wenn man nur imstande wäre, davon abzusehen, wozu wir das nun jeweils gerade brauchen.“
Nur ein nichtzweckgebundenes Denken kann – so Schlesak – „in der Einheit der Natur, der wir ja alle angehören, etwas wahrnehmen, das zu ihrer Unmittelbarkeit gehört“. Meditation zur Wiederherstellung kosmischen Zusammenhangs. Dieter Schlesak schreibt: „Jeder einzelne aber gehört in diesen Zusammenhang, genetische und geistige Information wirkt in ihm. Die Kraft, die diese Information trägt, wird als erweckbar geschildert. Kabbala und Chassidismus nennen sie Schechinah (Mutter und Schwester), ihr Symbol ist Rose und Krone; im Indischen heißt sie Kundalini und Prana. Sie soll angeblich über einen Kanal, der zehn psychische Zentren, die sogenannten ,Sefirots‘ (,Chakras‘ im Yoga) passieren muß, bis zur Schechinah am Scheitelpunkt des Kopfes vordringen: wo sich Sex und Geist, Natur und Geschichte in einem Blitz – im jüdischen ,Ziw‘, im indischen ,Samadhi‘ genannt – vereinigen. Die Tradition kennt diese Einheit auch als Oberes Jerusalem, als das platonische ,Eine‘, wo das Zerstreute gesammelt wird.“
Provokativer gefaßt lauten die Erkenntnisse Schlesaks, die den Kern seines Romans Die Kunst des Verschwindens ausmachen, so: „Sozialismus, Kapitalismus, klassische Physik sind alle derselbe Irrtum. Sie basieren auf dem Weltbild von Kausalität, Zeit und Raum. Dieses Weltbild, das Galilei und Newton geschaffen haben, war bereits Anfang dieses Jahrhunderts veraltet und reicht erst recht heute nicht aus, weil es nicht der Realität entspricht.“
In der Einleitung eines Laotse-Buches macht Lin Yutang darauf aufmerksam, daß sich im 19. Jahrhundert, als Marx seine materialistische Forderung, das Kommunistische Manifest, verfaßt hatte, die westlichen Physiker an ein Experiment heranmachten, das schließlich die Substanz, die Materie, vollkommen auflöste. Dabei erfuhren sie, daß die Substanz leer ist und sich zwischen Atomkern und Elektronen ein leerer Raum befindet und daß man die Bewegung der Elektronen im magnetischen Teil mit keiner materiellen Antwort erklären kann. Die moderne Physik verneinte den Materialismus genau zu dem Zeitpunkt, als Marx dessen gesellschaftliche Unbedingtheit verkündete.
Dieter Schlesak läßt keinen Zweifel daran, daß er nach wie vor auf seiten des Sozialismus steht: „Ich stehe – drastisch gesagt – auf seiten Stalins, weil er immerhin noch die verhunzte Alternative einer positiven Sache ist. Hitler dagegen – das war die verhunzte Position einer verhunzten Sache: die Position des Kapitalismus. Und wer meint, die Millionen-Verbrechen der Nazis hätten nichts mit dem Kapitalismus zu tun, der schaue auf die anima rationalis des Abendlandes, in deren Zeichen einst 16 Millionen Menschen in Mexiko und zwei Millionen auf Haiti in einer frühen Form von Endlösung umgebracht wurden.“ Hinter diesen Worten steht Schlesaks Meinung, daß die von Westeuropa ausgegangene Zivilisation, die heute die Welt beherrscht, eine katastrophale Fehlentwicklung ist. Die Toskana als Ausgangspunkt der Renaissance und Amerika dienen dem Schriftsteller in seinem Roman Die Kunst des Verschwindens als Rückbesinnung auf den Beginn der Endphase unserer Kultur: der Neuzeit – Beginn von ungeheurer, noch nie dagewesener Hybris, Genozid, Gold, Kolonien, Sternstürmerei, Kommunikation, Leben über alle körperlichen und seelischen Verhältnisse hinaus. „Abschaffung des alles durchdringenden Ganzen zugunsten eines winzigen Teils“, wie es Schlesak formuliert: „Des weißen Denkens und Lebens. Die Abschaffung jenes enigmatischen, undurchschaubaren Ganzen, das auch Gott genannt wurde und das bisher noch von keiner traditionellen Kultur abgeschafft worden war, im Gegenteil: jede Kultur ging davon aus!“
Für Dieter Schlesak heißt das: „Die Krankheit der Evidenzunfähigkeit in diesem Sinne ist die abendländische Krankheit: die Irreligiosität oder besser: die schamlose Nutzung der brachliegenden religiösen Massenenergien fürs GROSSE KARTELL, hat zu Stalin, Hitler und zum amerikanischen Lebensstil und seiner Raubkultur und zur Selbstzerstörung geführt, auch in den Seelen der vorangegangenen Generationen: die Umpolung des durch Glaubensverlust entstandenen inneren Vakuums, der so freigewordenen Sehnsucht und des Lebenshungers ins Grauen einer vom Universum abgenabelten großen weißen Ego-Kultur, die anscheinend die Aufgabe hat, sich selbst zu zerstören.“
In diesen Zusammenhang stellt Schlesak das Versagen, die Verbrechen des Sozialismus: „Für mich waren die sozialistischen Länder zuerst einmal ein Einbruch in das GROSSE KARTELL. Ihr Sozialismus ist eine gescheiterte große Chance, die historisch notwendig war. Über die Seelen der Revolutionäre hat das GROSSE KARTELL wieder zugeschlagen und aus dem Sozialismus eine Pleite gemacht. Denn die Revolutionäre standen innerhalb der Sozialisation der weißen Welt, in der von ihr ausgebildeten autoritären Charakterstruktur. Die Veränderung, die die Kommunisten durchsetzten, war eine Tat wider die gewachsene Psychologie des Menschen. Aber wo ist heute der archimedische Punkt, um das GROSSE KARTELL aus den Angeln zu heben?“ Das GROSSE KARTELL auf dem Wege zur Endlösung, für das Auschwitz nur eine Generalprobe war?
Der Psychoanalytiker Erich Fromm kam nach intensiver Verarbeitung von Marxismus und jüdischer Mystik zur östlichen Meditation, zum Lob vom Sein statt vom Haben, zum Lob des Lebens statt des Gelebtwerdens, der uhrenhaften Aktivität, die den Menschen zur Maschine, zum Automaten degradiert. Carl Friedrich von Weizsäcker hält die Begegnung des „reflektierenden“ Europa mit dem „meditierenden“ Asien für ein „weltgeschichtliches Ereignis“, das Europa aus den Traditionen einer aggressiv-analytischen, einer „zerschneidenden Wissenschaftskultur“ befreien könnte.
Dieter Schlesak schreibt: „Bewußtseinserweiterung, die mit sich selbst beginnt, nicht mit anderen, kann nämlich kein Kurs für Revolutionsfunktionäre sein, sondern heilt von der Ich- und von der Machtbesessenheit, die im Zusammenspiel mit bestimmten historischen Voraussetzungen und Zwängen immer dazu beigetragen hat, daß große gesellschaftliche Veränderungen in einem neuen Cäsarentum endeten.

Jürgen Serke, in: Das neue Exil. Die verbannten Dichter, Fischer Verlag, 1985.

 

 

Laudatio auf Dieter Schlesak

Empfänger der Dr. Manfred Jahrmarkt-Ehrengabe 2001

Von dort zu kommen, von wo ich komme, ist eine Krankheit. Eine Krankheit, die sich im Augenblick der Geburt (und möglicherweise noch früher) auszubilden beginnt; eine Krankheit, an der man manchmal leidet, ohne es zu wissen. Diese Krankheit wird ausgelöst von einem Erreger, der in der Gegend, aus der ich komme, in der Luft liegt; von einem Virus, der alle Bewohner des Landes ohne Ansehen der Person, der Muttersprache, des gesellschaftlichen Standes oder des Geschlechts befällt. Es ist der Virus der Herkunft – genauer gesagt: der Virus der Herkunft vom Balkan. Ein Virus, der wie von selbst auftaucht, wo Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen ihre Lebensgrundlagen miteinander teilen müssen, ohne einander ausweichen zu können. Ein Virus, der seine hartnäckige Vitalität aus der Energie bezieht, die beim Zusammenprallen von Elementarteilchen unterschiedlicher Sprachen entsteht.

Zitiert habe ich Werner Söllner. Die Passage ist überschrieben „Herkunft Rumänien“; sie leitet den gleichlautenden Berichtband über ein Autorentreffen 1993 in Freiburg im Breisgau ein. Von Dieter Schlesak ist im Folgenden zu sprechen; er hat, warum auch immer, an dem Treffen nicht teilgenommen, Söllners Präambel gälte dennoch für ihn.
Dieter Schlesak wurde 1934 in Schäßburg, Siebenbürgen, geboren, studierte Germanistik, war vorübergehend Lehrer, seit 1959 Redakteur der deutschsprachigen Zeitschrift Neue Literatur in Bukarest. Seit 1960 war er von der Securitate wöchentlich bestellt. 1969 durfte er ausreisen. Er übersiedelte in die Bundesrepublik Deutschland – er nicht als Einziger: Ein „Rumäniendeutschland“ war die Vorstellung der Übersiedler; Ernest Wichner schrieb 1987 in den horen vom „angelesenen Versprechen, dass man in ,Deutschland‘ kein Fremder sein werde,“ von der Hoffnung, „ein Stück besseren Rumäniens ließe sich ebenso mitnehmen, wie man vorher das bessere Deutschland importiert hatte.“ Der Eindruck Schlesaks erster Westbegegnung war traumatisch. „Wir kamen von einem anderen Planeten, gingen wie auf dem Mond spazieren,“ fasst er zusammen in einer „Selbstlebensbeschreibung meiner Vergangenheit“:

Der Schock West-Deutschland. Die dreifach zerstörten Städte, […] durch die Nazis, durch den Krieg und Bomben, durch die grässliche Architektur des ,Wirtschaftswunders‘ – keine Zeit mehr in den Mauern, auch die Natur künstlich, alles hinter Mattscheiben, Hetze, menschliche Kälte etc.

Der Westen wurde zum „Hassobjekt“. Nach sechs Monaten fuhr er zurück, „mit allem Risiko, nie mehr herauszukönnen. […] Dann der normale Reflex, der mich für immer zum ,Zwischenschaftler‘ macht: Ich konnte es nun hier im ,Zu Hause‘ (Securitate-,Bestellungen‘, Zensur, innere Zensur: Redaktion, Spitzelatmosphäre, Elend) nicht mehr aushalten. Tat alles, um wieder rauszukommen. […] Das kleinere Übel war der Westen. / Doch nach drei Jahren West-Deutschland hatte ich genug: emigrierte zum zweiten Mal, nun in ein unzerstörtes Land, nach Italien. […] In Deutschland dachte ich meine Sinne zu verlieren.“ Schlesak hatte mit dem Wechsel nicht nur zwei Länder verloren: In Deutschland wurde er sich dessen bewusst, dass die Rumäniendeutschen in der „siebenbürgischen Nazizeit […] zugleich Opfer und Täter waren“, was „zu einer schmerzhaften Korrektur“ seiner „Erinnerungen und Kindheitserinnerungen“ seiner „Landschaftgefühle“ und seiner „bisherigen Selbstgewissheit führte.“ „Der Fakt nämlich war nicht aus der Welt zu schaffen,“ schreibt er in seiner „Selbstlebensbeschreibung“:

fast alle meine männlichen Verwandten waren in der SS gewesen und hatten zu den Wachmannschaften deutscher KZs gehört.

Den seinen Eltern befreundeten Auschwitz-Apotheker Viktor Capesius und andere hat er mit dem Tonband tagelang befragt. Das waren am Ende 6.000 Seiten Protokoll. In „einem zehn Jahre dauernden Schreibprozeß“ verarbeitet er sie und, synchron, seine eigenen Erfahrungen in seinem Roman Vaterlandstage und die Kunst des Verschwindens, der 1986 erschien. Werner Söllner, im KLG, 1989, nennt ihn „das gewiss anspruchsvollste, in Ausführung und Deutung schwierigste, mit Sicherheit auch riskanteste schriftstellerische Unternehmen Schlesaks,“ die Lektüre bleibe „ein ungeheuer kompliziertes, abgründiges Erlebnis, das seinesgleichen unter den Publikationen deutscher Schriftsteller aus Rumänien nicht hat.“
Hermann Bausinger sprach, als Dieter Schlesak 1989 den Schubart-Preis der Stadt Aalen für den Roman erhielt, von „sich durchkreuzenden Bewußtseinströmen“, „bösen Sprachspielen“, von der „Anstrengung, Wirklichkeit anzunehmen und das die Wirklichkeit Überschreitende doch nicht als Wahn abzutun.“ Als ich den Roman jetzt nach fünfzehn Jahren wieder las, sperrte sich dieses Miteinander-verhakt-sein der verschiedenen Erinnerungselemente wiederum gegen schnelles, überfliegendes Lesen. Im Wiederlesen bestätigte sich freilich, was Dieter Schlesak mir damals in den Band geschrieben hat:

Was Vergangenheit wirklich enthielt, wird erkennbar erst, wenn sie zerfällt.

Die Mauer fiel, nach der Massenerhebung auf dem Platz der Republik in Bukarest im Dezember 1989 wird der Diktator gestürzt, Schlesak fährt nach Rumänien, begegnet dem verlorenen eigenen Boden, den Zeugen der Erhebung. Den Umsturz verarbeitet er in dem bandfüllenden Essay „Wenn die Dinge aus dem Namen fallen“, 1991, den politischen Zusammenbruch in dem drei Zeitebenen synchronisierenden west-kritischen (Manfred Bosch) Tagebuch Stehendes Ich in laufender Zeit. Zu erwarten haben wir die Fortsetzung der Vaterlandstage mit dem Titel Der Verweser.
Den Vaterlandstagen gingen Lyrikbände voraus. 1989–1991 erschienen drei Bände einer Kunstdruckdokumentation der renovierten Sixtinischen Kapelle mit Bildmeditationen Dieter Schlesaks. Schlesak schreibt Hörspiele und andere Arbeiten für den Rundfunk, übersetzt aus dem Rumänischen. Zur Kraft seines Gedichtbandes Aufbäumen, 1990, kehre ich immer wieder lesend zurück. Es ist das „Material“ der Vaterlandtage. „Der hebräische Sprach-Baum der Kabbala ist das Modell für die Struktur dieses Bandes“, nur kehrt Schlesak den Sprach-Baum um:

Von der Zehn bis zur wortlosen, nicht ausdrückbaren Eins. […] Anstatt Schöpfung – die Erschöpfung der Welt.

Vollständigkeit ist bei einem so umfangreichen Œuvre hier nicht zu erreichen; Dieter Schlesaks Tunneleffekt, 2000 erschienen, sei, um beachtet zu werden, als jüngster Lyrikband wenigstens erwähnt.
Die Jury schlug dem Kuratorium der deutschen Schillerstiftung von 1859 vor, Dieter Schlesak für sein Gesamtwerk als Lyriker und Prosaist auszuzeichnen mit der Dr. Manfred Jahrmarkt-Ehrengabe der Stiftung.

Egbert-Hans Müller, Deutsche Schillerstiftung von 1859: Ehrungen – Berichte – Dokumentationen, 2001

 

LEUCHTKÄFER IN CAMAIORE
Für Dieter Schlesak

Stetig bergan von Bagni di Lucca, zuletzt auf einem muletiere,
einem Saum-/Maultierpfad: bis zur Gabelung, da sind wir falsch
abgebogen, fragten nach: „Ah, il dottore!“, links hinüber also.
Der wedelnde Hund, die anfangs misstrauische Katze, es fand
sich alles ein in der Sanftmut übersprungenen Einvernehmens.
Linde tischte auf, wir wurden bald so heimisch fremd am Ort
olivengrüner Übergänge und geduldiger Klärung bewährter
Missverständnisse. Bis wir, einig, heiter, kurz vor Mitternacht
vor die Tür traten, hinunter auf den Lichtnebel des Hafens von
Viareggio blickten, wo auch euer Boot lag. Und da! Plötzlich
flimmerte die laue Luft von einem Tanz: Leuchtkäfer, zahllose,
schwirrten vor, hinter, über, um uns, dass uns fast schwindelte.

Spät, auf dem Rückweg den steilen muletiere hinab, kam ich
drauf: die Lichtbringer tänzelten nach deiner Handschrift,
jedes Glühwürmchen trug einen Buchstaben.

Hellmut Seiler

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Neu: Ost-West-Lektionen
Stuttgarter Zeitung, 6.8.2004

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Elisabeth Krause: Zwischenschaftler und Vermittler
Siebenbürgische Zeitung, 7.8.2014

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Nachrufe auf Dieter Schlesak: Tagesspiegel ✝︎ Stuttgarter Zeitung ✝︎
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Dieter Schlesak  – Zeugen an der Grenze unserer Vorstellung. Lesung und Vortrag im Evangelischen Gemeindehaus St. Paul in Dinkelsbühl.

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