DER TITEL DIESER REDE
mit seiner ,Wozu‘-Frage setzt voraus, dass Gedichte da sind, und sie sind es wirklich – hier im Lyrik Kabinett, in einem Haus für und voller Poesie, sowieso, aber auch in der Welt rundherum sieht es gar nicht so schlecht aus, wie manchmal geklagt wird. Allerdings würde ich den Begriff des Gedichts etwas weiter fassen und von einer lyrischen Rede sprechen. Das ist eine Rede, die einen Rhythmus besitzt. Es kann ein gleichmäßiger oder ein freier und unregelmäßiger Rhythmus sein, aber er soll ins Ohr gehen und körperlich spürbar sein. Von solchen Sprachäußerungen, die anders als die ungeformte Alltagssprache klingen und dadurch bewegen, sind wir alle umgeben.
Am deutlichsten im Bereich der Musik, denn Songs bestehen aus Klängen und aus Lyrics, wie es nicht zufällig heißt, und dass diese Lyrics keineswegs Beiwerk darstellen, erkennt man auf Konzerten, wo die Zuhörer eine erstaunliche Textkenntnis besitzen. Da werden ganze Reihen von Songs problemlos mitgesungen, und die Helden des Pop veranstalten mit dem Publikum Wechselgesänge, so wenn Herbert Grönemeyer in seiner Tiefsinns-Hymne „Mensch“ ausruft, „oh, es ist schon okay“, um das Mikro zum Publikum zu wenden, das mit tausenden Stimmen „es tut gleichmäßig weh“ antwortet, wobei die Gesichter alles andere als schmerzverzerrt sind und irritierenderweise auch noch gleichmäßig gewunken wird – ich komme darauf zurück. Auch Udo Lindenberg nimmt eine solche Rolle als Lyriker für weite Kreise ein, der aufbaut und Trost spendet, wenn es lebensgeschichtlich knirscht, so dass Menschen bei der häuslichen Küchenarbeit, beim Ausräumen des Geschirrspülers zum Beispiel, „Ich trag dich durch die schweren Zeiten, so wie ein Schatten werd’ ich dich begleiten“ summen, oder beim abendlichen Gang durch den Flur ausrufen:
Wir sind doch Lichtgestalten – ey, das weißt du doch.
Überhaupt das Singen: Eine der kulturkritischen Klagen lautet, dass in der Moderne nicht mehr gesungen werde, aber das Gegenteil ist der Fall, es wird geradezu gesungen wie verrückt. Evidenter gesellschaftlicher Ort ist das Fußballstadion, denn wo vor 20 oder 30 Jahren eher Rufe oder Gebrüll zu vernehmen waren, sind nun Lieder zu hören, und mittelmäßig-langweilige Spiele werden von den Fans geradezu weggesungen. Berühmtestes Beispiel ist natürlich „You’ll never walk alone“, das in Liverpool in einer Weise vorgetragen wird, die man nur inbrünstig nennen kann, und gerade weil die Lyrics in diesem Fall arg ausgedünnt sind und nur erklärt wird, dass man durch Regen und Sturm tapfer weitergehen solle, weil am Ende ein Licht warte, und dass man eben niemals allein wandern wird, erkennt man, wozu die lyrische Rede in diesem Fall da ist: Sie hilft beim Weiterleben und beschwört einen Zusammenhalt, der für immer besteht, auch angesichts des Todes, denn das Lied erhielt seinen festen rituellen Platz erst nach einer Stadionkatastrophe mit vielen Opfern.
Man könnte jetzt einwenden, dass in diesen Fällen der Text nicht ohne die Musik existieren würde und dass niemand „You’ll never walk alone“ als Gedicht lesen würde, was stimmt, aber andererseits würde auch niemand „You’ll never walk alone“ ohne Text singen.
(…)
ist es – so Dirk von Petersdorff – Zeit, wieder einfach und grundsätzlich zu fragen, wozu Gedichte da sind. Denn wenn etwas sich so lange und hartnäckig hält wie die lyrische Rede, nicht nur in Form von Gedichten, auch in Songtexten, Sprüchen oder Kinderversen, muss es für Menschen eine Bedeutung haben. In seiner Münchner Rede zur Poesie denkt Petersdorff über die Leistung rhythmischer Sprache in der Gegenwart nach: Sie greift das Zerfließen von Ordnungen, die Unsicherheit und Vergänglichkeit auf – gleichzeitig gibt sie Halt in einer vorläufigen Form. Das Gedicht erscheint wie ein Zelt, das man aufschlägt.
Lyrik Kabinett München, Klappentext, 2019
Walter Fabian Schmid: Zu Dirk von Petersdorffs Poesierede
poetenladen.de, 26.11.2019
Dirk von Petersdorff: Lyrik zum Mauerfall (Vortrag)
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