– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ aus Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 2: Stücke 2. –
BERTOLT BRECHT
Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens
Der Mensch lebt durch den Kopf
Der Kopf reicht ihm nicht aus
Versuch es nur, von deinem Kopf
Lebt höchstens eine Laus.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlau genug
Niemals merkt er eben
Diesen Lug und Trug.
Ja, mach nur einen Plan
Sei nur ein großes Licht
Und mach dann noch ’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug
Doch sein höh’res Streben
Ist ein schöner Zug.
Ja, renn nur nach dem Glück
Doch renne nicht zu sehr
Denn alle rennen nach dem Glück
Das Glück rennt hinterher.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht anspruchslos genug
Drum ist all sein Streben
Nur ein Selbstbetrug.
Dieses Lied gehört in die Dreigroschenoper. Dort singt es der Bettlerkönig Peachum. Als die ersten Takte der Musik ertönen, fragt ihn der Polizeichef Brown:
Was ist denn das?
Darauf antwortet Peachum:
Das Lied von der Unzulänglichkeit. Kennen Sie nicht? Da können Sie was lernen.
Dann wird eine spezielle Beleuchtung eingeschaltet, und auf großen Tafeln ist der Songtitel zu sehen. So geschah es von der Uraufführung 1928 bis zum Jahr 1933 in ungefähr 10.000 Aufführungen in ganz Europa. Der Nationalsozialismus schnitt in diese Geschichte ein, aber beendete sie nicht. Wenige Wochen vor seinem Tod hat Brecht im Februar 1956 eine triumphale Neuinszenierung durch Giorgio Strehler in Mailand miterlebt, die ihn sehr bewegt hat und die er als „Wiedergeburt“ der Dreigroschenoper bezeichnete.
Was kann man aus diesem Lied nun lernen? Daß man nie genug lernt, um das Leben zu verstehen, zu meistern, in die Hand zu bekommen. Die Welt ist zu komplex, sie entwindet sich der Vernunft. Außerdem hat der Mensch ständig Ideen, die nicht auf die wirklichen Verhältnisse passen. Von diesen Ideen lassen wir uns treiben, und auch wenn das ein „schöner Zug“ ist, wie Herr Peachum uns bescheinigt, wartet am Ende immer das Scheitern. Wir haben wunderbare Pläne, rasen hierhin und dorthin, um das Glück zu fangen, aber das Glück ist ganz woanders, und so entsteht ein chaotisches Gerenne, aus dem keiner als Sieger hervorgeht. Besser wäre es, anspruchslos zu sein, aber was wäre das für ein kümmerliches Leben? Also betrügt der Mensch sich immer von neuem, startet wieder ein Vorhaben, wird es diesmal „schlau genug“ anstellen.
Aber man lernt, wenn man sich mit den Liedern der Dreigroschenoper beschäftigt, auch etwas über die Literatur: Ein Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts konnte entgegen den Annahmen über das notwendige Zerbrechen aller Formen sehr wohl Lieder schreiben; und diese Lieder wurden Volkslieder, weil Brecht einen genialen Komponisten wie Kurt Weill an der Hand hatte. Die Songs der Dreigroschenoper wurden schon kurz nach der Uraufführung in Berlin an vielen Ecken gesungen, geträllert und gepfiffen. Es wurde nach ihnen getanzt. Es gab eine Flut von Schallplattenaufnahmen, es gab Notenhefte, es gab Arrangements für verschiedenste Instrumente. Brecht holte das Theater, wie der Kritiker Herbert Jhering schrieb, in die Publikumszone zurück. Verse wie „Ja, mach nur einen Plan / Sei nur ein großes Licht / Und mach dann noch ’nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht“ haben genau die Eingängigkeit und den Witz, den ein richtig gutes Lied benötigt.
Einige Zeit nach der Entstehung der Dreigroschenoper bekehrte sich Brecht zum Marxismus und hoffte, daß in die Geschichte doch ein großer Sinn kommen könnte. Er schrieb Gesänge auf die Partei, die tausend Augen hat, die alles sieht, der keine Stunde schlägt. Aber auch in der Hochphase der politischen Utopien gab es Zuschauer, die mit Liedern von der Unzulänglichkeit mehr anfangen konnten als mit politischen Glaubensbekenntnissen, und am Ende seines Lebens ging es Brecht auch wieder so. Heute ist dieses Lied eines für alle, für Bettlerkönige und Bankmanager. Und wenn Ihnen das nächste Mal jemand selbstbewußt verkündet, daß er einen Plan A und einen Plan B habe, dann pfeifen Sie leise Brecht/Weill.
Dirk von Petersdorff, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2010
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