Dorota Danielewicz-Kerski (Hrsg.): Das unsichtbare Lieben

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Dorota Danielewicz-Kerski (Hrsg.): Das unsichtbare Lieben

Danielewicz-Kerski (Hrsg.)-Das unsichtbare Lieben

VISION

Sterne erlöschen
Legenden verblassen.
Fahles Licht
hoffnungsloser Trauer
sickert in den Geist.
Der Kopf ergraut
und der Mensch reift
zum Kompromiß heran,
zur Halbherzigkeit.
Nicht ohne Grund
sterben die Götter jung.
Denn Gott ist auch Mensch
und ewige Jugend
übersteigt das Menschenmaß.
Stell dir Jesus Christus vor:
untersetzter Kahlkopf
Anzug mit Fliege,
im Hintergrund die Losung: „Polen jetzt!“
Die Würdenträger
drücken Ihm die Hand,
In der Kongreßhalle stürmischer Applaus,
Klirren von Armreifen und Ringen.

Die Wirklichkeit ist manchmal verwegener
als die Vision.

Mira Kuś
Aus dem Polnischen von Henryk Bereska

 

 

 

An den Leser

Mit der Anthologie Das Unsichtbare lieben tritt der Kirsten Gutke Verlag, Köln nun zum zweiten Mal an einen lyrikinteressierten Leserkreis heran. Es freut uns, auf diese Weise die Reihe mittel- und osteuropäischer Lyrik fortzusetzen, die 1996 mit dem Band Másnap – Andertags. Neue ungarische Lyrik ihren Anfang nahm.
Ziel der vorliegenden Anthologie ist es, unterschiedliche Strömungen in der neuen polnischen Lyrik zu skizzieren. Wie schon bei unserer früheren Publikation folgen wir auch diesmal der Konzeption, daß die hier präsentierten Autoren nach 1945 geboren und noch nicht mit einer Einzelveröffentlichung im deutschsprachigen Raum in Erscheinung getreten sind. Auch sollen Lyrikerinnen und Lyriker möglichst gleicher Zahl präsent sein. Der Gutke Verlag bemüht sich damit nicht nur um die Erweiterung des bestehenden Leseangebots, sondern möchte auch zur Etablierung von noch weniger bekannten Autoren auf dem deutschsprachigen Buchmarkt beitragen. Diesem kam in der Vergangenheit bemerkenswerterweise eine Schlüsselfunktion für die polnische Literatur zu, da durch ihn der Weg zu einer breiteren Wahrnehmung im Westen Europas geebnet wurde.
Insbesondere bei der in dieser Anthologie präsentierten Generation der in den vierziger und fünfziger Jahren Geborenen fällt die Diskrepanz zwischen ihrem Bekanntheitsgrad in Polen und der bislang bei uns kaum stattgefundenen Wahrnehmung auf. Den Debütanten der achtziger und neunziger Jahre soll durch dieses Buch, teilweise zum ersten Mal, die Möglichkeit geboten werden, vor dem deutschen Publikum ,zur Sprache zu kommen‘.
Die polnischen Leser hoffen wir durch die Lektüre unserer Anthologie zu bereichern. Für sie treten junge Lyriker neben bereits bekannte Autoren, was nicht nur eine Erweiterung des Spektrums zeitgenössischer polnischer Lyrik, sondern auch eine Verschiebung alter Wahrnehmungen und Bewertungskategorien bewirken kann.

Kirsten Prinz, Juli 1998, Vorwort

Vorwort

Keine leichte Aufgabe fiel mir zu: Jemand, der der vorherigen Generation angehört, ist vermutlich am wenigsten geeignet, zu den Gedichten der jungen Generation Stellung zu beziehen! Vor allem in der polnischen Poesie – aber vielleicht haben wir es hier mit einem universellen Phänomen zu tun – bemerkt man nicht erst jetzt einen starken Antagonismus zwischen zeitlich nacheinander folgenden Strömungen. Es ist immer das gleiche: Die älteren Autoren – und der Altersunterschied ist mal mehr, mal weniger groß – beschuldigen die Jungen eines barbarischen Verhältnisses zur Kultur, eines vorlauten Gehabes, des fehlenden Respekts vor den Werten. Die Jungen wiederum werfen den Alten akademische Trockenheit, leere Rhetorik, Entfernung von dem sich immer verändernden Slang des gegenwärtigen Augenblicks vor.
Wer ist nun im Recht? Natürlich die Älteren, sollte ich darauf entgegnen. Die Jungen machen grundlegende Fehler, haben zu wenige Bücher verschlungen, ihre Sprache ist schlampig. Sie zerstören Hierarchien und poetische Bilder, die – wenn auch nur ansatzweise – festgelegt wurden.
Aber nein, ich werde mir diese selbstverständliche Argumentationsweise nicht zu eigen machen, obwohl ich zugeben muß, daß es mir, – wenn ich manche Anthologien junger Lyriker lese – schon so vorkommt, als herrsche Chaos und Geschwätzigkeit und als mangele es an künstlerischer Disziplin. Nicht das ist hier jedoch von Wichtigkeit; es ist natürlich, da die ersten Präsentationen der jungen Generation selektiv sind, was den herausragenden, aber noch nicht in Gänze entwickelten künstlerischen Persönlichkeiten schaden muß.
Die Jungen haben ein Argument auf ihrer Seite, das man ihnen nicht verwehren kann: Sie sind ein lebendiger Beweis der Weiterexistenz der Welt. Absolut wörtlich. Daß jede Generation ein neues Ablesen des Realitätspalimpsests vorschlägt, ist eine unglaublich fröhliche Angelegenheit, die das grimmige Vorausahnen des Niedergangs der literarischen Kultur zunichte macht.
Man muß hierzu anmerken, daß die Generation, die in diesem Buch vorgestellt wird, sich in einer undankbaren Situation befindet. Nicht nur, weil sie keine antitotalitäre Motivation erfahren hat, denn mit dem Fall des Kommunismus verschwand ein mächtiger Gegner. Nein, die Hauptschwierigkeit für die jungen Dichter kam – und kommt immer noch! – daher, daß die vorangegangenen Lyrikergenerationen in ihrem Kampf mit dem mächtigen Gegner nach hohem Stil, nach hoher Sprache griffen (ohne dabei Humor und Ironie zu vergessen!], die so selten von den gegenwärtigen Dichtern benutzt wird. Die jüngeren Dichter standen also vor der unangenehmen Versuchung des Eintauchens in die Trivialität, vor der Versuchung des für unsere Epoche so bezeichnenden Stils der Poetik des Alltags. Dieser ist typisch für die Langeweile und Banalität eines mit sich selbst zufriedenen, von der Demokratie verwöhnten und lethargischen Jahrgangs. Aber gerade die Poetik des Alltags kann auch zu unerwarteten Entdeckungen führen!
Die unerbittliche, – geben wir es zu – primitive Logik der Generationskonflikte verlangt von den Jungen, daß sie gerade das verwerfen müssen, was die ältere Generation kennzeichnet, auch wenn dieser etwas mechanische Aufstand mit der Gefahr verbunden ist, im flachen poetischen ,main stream‘ zu versinken.
Aber wenn ich mir noch einmal die Liste der in dieser Anthologie vorgestellten Autoren vor Augen führe, wird mir bewußt, daß sie, erstens, gar nicht so präzise die junge Generation definiert – denn sie stellt auch Gedichte von sehr interessanten Lyrikern vor, die eher zu meiner Generation gehören, und zweitens, daß hier verschiedene Talente versammelt sind, und daß – wie immer –, Verallgemeinerungen und Poesie verschiedene Wege gehen. Im Endeffekt fehlt es den jungen und jüngsten Dichtern nicht an Talent, und mit Sicherheit wird ihre poetische Kraft das enge Korsett der Polemik zwischen den Generationen sprengen – sie tut es schon jetzt!

Adam Zagajewski, Juli 1998, Vorwort

Dichtung als private Angelegenheit

Wie entsteht eine Anthologie? Sicherlich ist es nicht so, daß der Herausgeber auf einem bequemen Bürostuhl sitzt, ohne aufzustehen zum Regal rollt und nach mehreren Lyrikbänden greift, um nach aufmerksamer Lektüre eine Auswahl von Dichtern und ihren Werken zu treffen. Denken wir uns jetzt in die Lage eines Herausgebers hinein, der außerhalb von Polens Grenzen lebt: Die Bibliothek im Arbeitszimmer ist mit den Klassikern der polnischen Poesie gut bestückt, man findet dort Wisława Szymborska, Zbigniew Herbert, Czesław Miłosz, Tadeusz Różewicz und Adam Zagajewski, außerdem noch eine Handvoll Bände der befreundeten Lyriker. Der Verlag jedoch möchte kein Buch mit Lyrik der ersten Feuilletonseiten, sondern möchte Namen präsentieren, die in Deutschland noch weitgehend unbekannt sind, Lyrik, die noch zu entdecken ist. Natürlich kann ein Konzept für eine Anthologie recht schnell erdacht werden. Es ist keine große Kunst, mit soliden Vorkenntnissen eine Liste von in Deutschland weniger bekannten Dichtern zu erstellen. Probleme bereitet lediglich der erschwerte Zugang zu den neuesten Publikationen. Der Herausgeberin blieb also nichts anderes übrig, als sich aufzumachen, um dann auf der Suche nach Büchern in einige Großstädte zu reisen. Innerhalb weniger Monate mußte sie nach Krakau, Warschau, Posen oder Danzig fahren, um nach Lyrikbänden zu jagen, die absolut unvorhergesehen hier oder da auftauchten. Man wünschte sich Kataloge herbei, die alle auf dem Markt erhältlichen Titel enthalten, aber da nicht vorhanden, ist die Herausgeberin auf gut Glück und Freunde angewiesen. An dieser Stelle muß vor allem Leszek Szaruga und Ryszard Krynicki ganz herzlich für ihre Hilfe bei der Suche nach vergriffenen Publikationen gedankt werden.
Wer noch, wenn nicht die Übersetzer, beobachten aufmerksam die Literaturszene? Daher schaute die Herausgeberin in die Schubladen und Ordner von Renate Schmidgall und Henryk Bereska. Und nicht ohne Erfolg, es stellte sich nämlich heraus, daß sie seit Jahren Übersetzungen für diverse Lesungen gesammelt hatten. Die Gedichte warteten teilweise noch auf ihre Veröffentlichung. Dank Renate Schmidgall fand Alicja Rybałko (1960) den Weg in die hier vorgestellte Gedichtauswahl, und Henryk Bereska, als treuer Beobachter der Lyrik von jungen Autorinnen, suchte Gedichte von Ewa Sonnenberg (1967) und Katarzyna Nalepa (1970) heraus.
Während dieser ziemlich mühsamen Recherchen stellte sich heraus, daß die letzte Publikation von Bohdan Zadura (1945) einfach nicht zu bekommen ist und seinem Übersetzer, Henryk Bereska, hinter einen schweren, mit Büchern gefüllten Schrank gefallen war, der mit keiner Kraft von der Stelle zu rühren war… „Die Gesamtauflage von Zadura ist vergriffen“, informierte mich sein Verleger Ryszard Krynicki und rettete mich aus der Verlegenheit mit seinem eigenen Band des Pulawer Dichters. Weshalb ausgerechnet Zadura aus den Buchhandlungen verschwand in den Zeiten, in denen angeblich keiner mehr Gedichte liest? Seit dem Fall des Kommunismus in Polen, als Massenkultur und McDonalds-Ästhetik den Zeitgeist zu bestimmen begannen, seitdem sich endlich fast jeder einen Satellitenempfänger und einen Videorecorder leisten kann, gelten Gedichte mehr als je zuvor als elitär. Nichtsdestotrotz kaufen gerade junge Menschen Bücher von Bohdan Zadura.
Dieser Dichter debütierte zeitgleich mit der Neuen Welle, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Die wichtigsten Debütanten dieser Zeit, auch die 68er-Generation genannt, sind: Ryszard Krynicki, Adam Zagajewski, Julian Kornhauser, Leszek Szaruga, Stanislaw Baranczak. Für die nachfolgende Lyrikergeneration ist die Lyrik von Bohdan Zadura von großer Wichtigkeit. Ausgerechnet in seiner Dichtung finden wir deutliche Zeichen einer Ästhetik der Wende in der Lyrik nach 1989, als nach dem Fall des Kommunismus dieser ,mächtige Gegner‘ verschwand.
„Nur Jugend darf oberflächlich sein ohne Strafe“, meint Zadura, „ein Scherz täte uns gut nach diesen Kirchenlyrikreliquiaren / und nach den Wünschen für den Autor, daß die Zeit so schnell wie möglich / ihm bittere Flügel der Nostalgie an den Armen wachsen läßt.“
Marcin Świetlicki, als Vorreiter der in der Lyrik stattfindenden Veränderung, kündigte im Jahre 1988 einen Wechsel der Empfindungen bei Themen, die in den Kriegsrechtsjahren zu den wichtigsten gehörten, folgendermaßen an:

Ich schaue in das Auge des Drachen
und Zucke mit den Achseln.
Es ist Juni. Genau.
Am frühen Nachmittag gewitterte es.
Auf ideal quadratischen Grünflächen
dämmert es zuerst.

In den achtziger Jahren, der ,elenden Zeit‘ nach der Verhängung des Kriegsrechts, wurden die von der Zensur verbotenen Bücher in großen Mengen im Untergrund publiziert. Diese illegale Buchlandschaft nannte man den zweiten Umlauf der Literatur. Eines der charakteristischen Merkmale der Untergrundliteratur war ihre Politisierung, das geschriebene Wort wurde zum großen Teil der Idee des Kampfes gegen den Totalitarismus untergeordnet. Adam Zagajewski charakterisierte auf folgende Weise den gefährlichen Zustand der Literatur jener Zeit:

Am Antitotalitarismus beunruhigt mich die Tatsache, daß eine der wichtigsten Quellen seiner großen Kraft, seiner großartigen geistigen Spannung die Lokalisierung alles Bösen dieser Welt an einem Ort ist: im Totalitarismus. Damit entsteht ein schematisches Bild des Kosmos, in dem das Böse des Totalitarismus dem Guten des Antitotalitarismus entgegengesetzt wird. Das ist die wunderbare, engelhafte Kur, wir werden besser, als wir es in Wirklichkeit sind, denn das Böse ist gänzlich von der totalitären Bestie verschlungen worden. Wir gleichen damit ein bißchen den Engeln. (…) Wie sehr wird die Wirklichkeit selbst dadurch verletzt!

Trotz Zagajewskis kritischer Weitsichtigkeit wurde ausgerechnet sein Werk zum Brennpunkt der Kritik der Dreißigjährigen. Zadura fiel dabei eine Art Idol- und Vorreiterrolle für die jungen Rebellen zu.
Die in der Mitte der 80er Jahre debütierenden Dichter publizierten oftmals im sogenannten dritten Umlauf der Literatur. Die Bezeichnung dritter Umlauf bezog sich auf die alternative Subkultur, inspiriert von Musikrichtungen – Rock und Punk. In der Lyrik des dritten Umlaufs erscheinen Elemente des Liedes und umgekehrt, die Gedichte werden musikalischer Interpretation unterzogen, wie in der Band von Marcin Świetlicki – Swietliki. Die jungen Dichter verwendeten Ausdrucksmittel, die bislang in der polnischen Lyrik in solch einer Konzentration nicht benutzt worden waren: Umgangssprache, Flüche, Slang und Motive aus der Massenkultur. Der ,Flirt‘ mit der Massenkultur kann als eine Probe der Zähmung interpretiert werden, eine Art Domestizierung im bislang elitären Salon des geschriebenen Wortes. Während ältere Autoren mit Schrecken die Expansion des Banalen, des Kitschigen und Trivialen beobachteten, griffen die Jungen danach, um einen Rohstoff zu gewinnen, der die traditionellen Ausdrucksmittel ergänzen sollte.
Die Literaturkritik unterstreicht drei Elemente, ohne die die Lyrik der jungen Barbaren, wie manchmal die 80er/90er Debütanten bezeichnet werden, nicht entstehen konnte: Das Kriegsrecht in Polen, die alternative Subkultur und die New Yorker Lyrik, die von Piotr Sommer im berühmten Heft der Literatura na Świecie (Literatur in der Welt) im Jahre 1986 vorgestellt wurde. Vor allem der Lyriker Frank O’Hara inspirierte durch einige der Debüts Ende der 80er Jahre, so daß man sogar von O’Harismus als einer poetischen Richtung spricht. Aus einem tatsächlich in jener Zeit nachweisbaren Epigonentum entwickelten sich jedoch eigenständige künstlerische Persönlichkeiten. „Die Lyrik soll von der Straße und nicht von der Universität inspiriert werden“, verlangte einer der führenden Dichter der jungen Rebellen, Świetlicki:

Poesie sollte aus der individuellen Erfahrung entstehen, aus nackten existentiellen Tatsachen, nicht aus gefälschten Anspielungen auf die Ebene der großen Ideen, die bislang fatal in den politischen Kampf verwickelt waren.

Autoritäten der politischen Opposition hörten auf, ein Muster für die nächste Generation zu sein, die von den Oppositionellen vorgeschlagene Weltanschauung rief ein Gefühl der Befremdung hervor, verlor an Aktualität. Das Zeugnis der individuellen Welterfahrung ohne Anspielung auf irgendeine der Ideologien wurde zur zentralen Inspirationsquelle für die jungen Rebellen, die um die alternative Zeitschrift bruLion (Die Kladde) versammelt waren.
Nicht weit von den künstlerischen Absichten der O’Haristen, jedoch ohne übertrieben starke Provokation durch den Einsatz von Slangelementen, finden wir Gedichte von Bronislaw Maj (1953) und Zbigniew Machej (1958). „Der Dichter bewohnt das, was existiert. Er wohnt in der Welt in diesem Maße, in welchem die Welt in ihm wohnt“, schlägt Machej als eine Art Programm für seine Poesie vor. Diese Art der Lyrik benennt die Dinge ohne Lust, über sie zu herrschen. Es ist eine Poesie der Objektivierung und der Distanz. Sowohl bei Machej als auch bei Maj fängt ein Gedicht die Intensität des Moments ein. Beide Dichter versuchen in der Lyrik einen Unterschlupf für die Flüchtigkeit des Augenblicks zu finden, das Gedicht vor dem Fall in den Abgrund der Nicht-Existenz zu bewahren, in den es von der unerbittlichen Kraft der Zeit hineingestürzt wird. Dem zu entgehen, stellt Piotr Sommer folgendermaßen dar:

Morgen ist Donnerstag.
Wenn die Welt ihren Aufgaben nachgeht
wird’s übermorgen Freitag.
Wenn nicht, könnte es sogar Sonntag sein
und keiner wird erraten können
wo unser Leben blieb.

Die Stimme der Frauen in der polnischen Lyrik war immer schon stark, was nicht nur der Nobelpreis für Wisława Szymborska bezeugt. Diese Tatsache bedeutet nicht unbedingt die Anwesenheit einer feministischen Richtung in der polnischen Lyrik. Wenn wir ein Auge auf die Lyrik der Altersgenossinnen von Świetlicki (1963) und Koehler (1963) werfen, finden wir merkwürdigerweise keinen so deutlichen Aufstand gegen die Dichtung der Neuen Welle. Auch keine der in der Anthologie anwesenden Lyrikerinnen nahm an den literarischen Diskussionen der letzten Jahre teil.
Leszek Szaruga teilt die Poesie der Älteren und der Jungen in die „Poesie des Seins und der Werte“ auf der einen Seite und in „die Poesie des Zufalls“ auf der anderen Seite ein. Diese Unterteilung bewährt sich nicht bezüglich der jüngsten Dichterinnengeneration. Während die subkulturellen Dichter der bruLion-Generation die engagierte Lyrik kategorisch abweisen, um mit verschiedenen Mitteln (manchmal sogar mit umgekehrtem Ausgang als erwartet) die Lyrik von der Welt des Seins und der Werte zu trennen, weisen die bedeutenden Dichterinnen der gleichen Generation (Marzena Broda, Marzanna Bogumila Kielar) hohe, anerkannte Werte nicht ab, um als Dichterinnen in den Jahren noch der Wende einen Platz im Kreis der Jungen Rebellen einzunehmen. Sicher bemerkt man in all den Debüts der achtziger und neunziger Jahre einen Einfluß der Umgangssprache und der Elemente aus der Massenkultur auf Inhalt und Form der gegenwärtigen Lyrik. Bei den Autorinnen schließen sich diese vermeintlich gegensätzlichen Elemente allerdings nicht aus. Neben Anspielungen auf die klassischen Bilder der europäischen Kultur finden wir in der Lyrik von Kielar, Broda und Sonnenberg Motive, die wir aus dem Alltag und aus den Medien kennen.
Sacra conversatione, Titel der letzten (und ersten) Publikation von Kielar, ist ein der Malerei entliehener Terminus: er bezeichnet die um den Thron der Madonna im Gespräch vertieften Heiligen. Lyrische Motive, die wir in den Gedichten von Kielar finden, entstammen der „traditionellen poetischen Requisitenkammer“. Das führende Motiv ist die Spannung zwischen Eros und Thonatos, zwischen Natur und Kultur. Die ewig währenden Motive werden jedoch mit den Motiven aus der Gegenwart ergänzt: Auf dem Strand rollen Dosen umher, der Geliebte reist mit einem alten Combi an. Für die Autoren, die der gleichen Altersgruppe wie Kielar angehören, weckt die Madonna ganz andere Assoziationen:

Gestern hatte ich den Eindruck, daß Gorbatschow zu meiner Show kommt (…) –
sagt Madonna nackt mit heiserer Stimme
zu ihrem schwarzhäutigen Masseur.
O Figaro, mein lieber Figaro, wie falsch klingen heute die Namen von Gestern!

(Zbigniew Machej)

Im Debüt von Samantha Kitsch finden wir die Bestätigung der Thesen von Machej, nicht zufällig erschien das Buch unter dem Pseudonym Kitsch. Ein deutliches Motiv in der Lyrik von Kitsch ist die Dethronisierung von Schönheit, Tragödie der Trivialität, Trauer der Leere, die sich hinter der banalen Postkarte aus den Bahamas verbirgt.
In den letzten Jahren spricht die polnische Literaturkritik von einer neuen poetischen Richtung, die als neuer Klassizismus bezeichnet wird. Dieser Richtung werden u.a. folgende Lyriker zugeordnet: Wojciech Wencel (1972), Krzysztof Koehler (1963), Andrzej Stasiuk (1960), Andrzej Sosnowski (1959) und Marcin Boran (1963). Nach Krzysztof Koehler ist Klassizismus „eine vollkommen bewußte Verankerung in der Kultur (…), die Erlösung der Kultur, der Raum für ihre Rettung.“ Im Unterschied zu den Barbaren, für die der Ludus, Element des Spiels, genauso wichtig ist wie der Logos, Element des Sinns, weisen die Klassizisten kategorisch das Spiel ab (dem zum Spaß auffordernden Zadura zum Trotz). In den formellen Mitteln ist die Rückkehr zum Reim und zur Metrik charakteristisch.
„Poesie, das ist die Kunst, über die Welt mit nach den festgelegten literarischen Normen zu schreiben“, behauptet Wencel, „Darstellung der harmonischen Ordnung der Welt.“ Nicht für alle Klassizisten ist das eine verbindliche Norm. Für Krzysztof Koehler ist die Poesie vor allem „eine Erzählung über sich selbst. Ein polyphoner Traktat, in dem Egozentrismus gegen den Dienst für die Allgemeinheit aufgewogen wird. Spannung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft.“ In dieser Lyrik gehört zum wesentlichen das Zeugnis der Suche nach Gott, die Suche nach transzendentalen Werten.
Mit der Teilung der Autoren der letzten Jahre in verschiedene künstlerische Gruppierungen sollte man vorsichtig umgehen, denn nicht selten werden zwischen den Dichtern einer literarischen Gruppe Diskussionen geführt. Im Laufe der Jahre entwickeln sich die Dichter in Richtungen, die vollkommen anders sind als ihre Ausgangspositionen. Sie verändern ihre Poetik, ihre Weltanschauung sogar, auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln. Ich denke, für die kategorische Teilung und Klassifizierung der Dichter der jüngsten Generation ist es noch entschieden zu früh, und die in dieser Anthologie in Anlehnung an die polnische Literaturkritik vorgeschlagenen Klassifizierungen sind nur als vorläufige Lösung anzusehen.
Autoren, die kaum in irgendeine Art von Klassifizierung einzuordnen sind, gehören der Generation der sogenannten Neuen Privatheit an: Maciej Cisło (1947), Anna Janko (1957), Mira Kuś (1948), Krystyna Lars (1950), Tomasz Jastrun (1953), Adriana Szymańska (1943). Autoren der Neuen Privatheit gehörten nicht der Bewegung der Neuen Welle an. Es fällt in diesem Fall schwer, über eine spezifische poetische Formation zu sprechen, es ist eher eine Gruppe von individuellen poetischen Stimmen, ohne gemeinsame Programme oder Literaturzeitschriften.
Das einzige gemeinsame und wichtige Motiv von manchen Autoren (Kazimierz Brakoniecki (1952), Aleksander Jurewicz (1952), Paweł Huelle (1957), Alicja Bvkowska-Sałczyńska (1953), Wojciech Wencel (1972) ist der Wohnort dieser Dichter, der durch seine Geschichte die Wahl der lyrischen Motive mitbestimmt. Diese Dichter/-innen stammen aus Danzig und dem ehemaligen Ostpreußen, aus Gebieten mit schmerzerfüllter Vergangenheit, die über Jahre von der kommunistischen Propaganda verschwiegen wurde. Ortschaften geboren, die früher deutsch waren, und aus Familien stammend, die aus den von Polen verlorenen Ostgebieten ausgesiedelt wurden, reflektieren sie die verwickelte Geschichte Danzigs, der Masuren, die kulturelle Mischung dieser Region, sie entziffern die Sprache der Straßen, der Häuser und Gegenstände, die übriggeblieben sind von denen, die gehen wollten oder mußten. Diese Reflexion erfolgt oft auf dem Wege der Rückkehr zur eigenen Kindheit oder zur Geschichte der ausgesiedelten Familie. Im inhaltlichen Kontext dieser Lyrik nimmt die Selbstbestimmung im Verhältnis zum nationalen Bewußtsein, das Finden des eigenen Platzes in der Geschichte eine wichtige Stelle ein. Erst durch die Konfrontation mit der Welt der Vergangenheit, der verlorenen Welt, wird die Welt erkannt, in der es zu leben gilt. Nicht zufällig ließ sich Paweł Huelle zum Umschlag seines Lyrikbandes unter einer Aufschrift fotografieren, die einen Hinweis auf die Geschichte des Ortes gibt – Schellingstraße 21. Diese Lyrik unternimmt einen Versuch, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und ihre Wendungen zu akzeptieren, ohne sentimentale Erinnerung an das vom Volk erlittene Unglück. Im literarischen Prozeß wird die sogenannte ,kleine Heimat‘ heraufbeschworen, ein bewußtes ,Sichwiederfinden‘ in der Provinz über das Eindringen in ihre Vergangenheit, oft aus der Perspektive der verlorenen Ostprovinzen, der polnischen kresy.
„Fürchtet euch nicht, Zeichen: / vor dicken Mauern die ich euch / zeichne noch den dünnen Strichen des Unaussprechlichen / daß uns hier nicht anderes Unglück heimsucht / andere Bücher andere Geschichtsabläufe“, schreibt Alicja Bykowska-Sałczyńska auf der Suche nach Zeichen, die ihr den genius loci zu verstehen helfen, in dem sie sich durch die Laune der Geschichte wiederfand. Nicht das Jammern über die Launen der Geschichte und das Schwelgen im Unglück bilden Leitmotive der Gedichte von Brakoniecki oder Bykowska-Sałczyńska, sondern Akzeptanz und der Versuch des Verstehens. Treffend bezeichnet Leszek Szaruga die Andersartigkeit der Neue Welle – Generation und der folgenden Generation, von der gerade die Rede ist: diese Andersartigkeit wird von dem Kontrast zwischen ,wir‘ und ,ich‘ bestimmt. Bei den Lyrikern der Neuen Welle spielt ,Unser Polen‘ keine Rolle mehr, es geht Ihnen vielmehr um die Selbstfindung in Polen. Aber immer noch geht es um die Selbstvergewisserung im Kontext von Polen, während wir es bei den jüngsten Dichtern mit dem Versuch der Selbstfindung angesichts der Welt, der Kultur (oder der fehlenden Kultur), angesichts der Transzendenz oder des Nihilismus zu tun haben.

Am Ende sollte das grundlegende Merkmal der vorliegenden Anthologie unterstrichen werden: Obwohl hier Dichter zu finden sind, die im Zeitraum von dreißig Jahren (von den 60ern bis zu den 90ern) debütierten und unterschiedlichen Generationen angehören, wurde die Auswahl der Gedichte aus den Publikationen der neunziger Jahre getroffen. Gemeinsam ist diesen Gedichten, daß sie nach der Wende, im demokratischen Polen, ohne Zensur und ohne die Unterteilung in den offiziellen und den inoffiziellen Umlauf entstanden sind. Um die Lyrik der neunziger Jahre mit der Neuen Welle oder mit den politischen Gedichten der 80er Jahre zu vergleichen, kann man andere Anthologien zur Hand nehmen, zum Beispiel die Panorama der polnischen Literatur des 20sten Jahrhunderts oder Ein Jahrhundert geht zu Ende, beide von Karl Dedecius herausgegeben.
Die neunziger Jahre waren nicht ausschließlich von den Debüts, von der Lyrik junger Autoren und vom Reichtum an neuen Talenten bestimmt. Die letzten Jahre bedeuten auch die Wiederkehr von Tadeusz Różewicz, hervorragende Bände von Zbigniew Herbert, Wisława Szymborska und Czesław Miłosz, ein großartiger Band, noch nach Druckerschwärze riechend, von Stanisław Barańczak, dem in den USA wohnhaften ehemaligen Neue Welle-Programmatiker und heute wohl wichtigsten Nachdichter Polens.
Das Unsichtbare lieben ist sicherlich nur ein unvollkommenes Bild der polnischen Lyrik der letzten Jahre, unvollkommen, denn in der Anthologie fehlen Dichter, die schon eigene Bücher 1m deutschsprachigen Raum veröffentlichten oder aus persönlichen Gründen, zum Betrübnis der Herausgeberin, nicht in dieser Anthologie erscheinen wollten (Artur Szlosarek, Jacek Podsiadlo). Dieses Buch wurde als eine Ergänzung zum schon vorhandenen Bild der polnischen Literatur in Deutschland gedacht. Autoren, die hier vorgestellt werden, haben ihren eigenen Platz auf der Landkarte der polnischen Lyrik bereits gefunden, und es ist zu hoffen, daß das, was bislang von der polnischen Poesie in Deutschland unsichtbar war, sichtbar und geliebt werden wird.

Dorota Danielewicz-Kerski, Juli 1998, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00