WITTERUNG
Wohin ich seh Reif fällt
Still Land es frieren
Die Anbeter dein lassen lassen auf morgen
Nicht hoffen viel feige Hunde
Schließt du ein, geprügelt, ach wo
Hat man uns
Nicht. Allein es fehlt daß
Ein Geruch uns irr macht so
Scharrten wir alles Knöcherne dir
Was fror aus dem Leib. Treib
Mich dazu ich wittre doch
Glasklar die Luft und rein
Ina Kutulas
Die Mauer, wie sie stückweise verhökert wurde, bleibt noch immer ein Kunstwerk. Kilometerlange Grafitti, die lassen sich als Meterware anbieten, und so schön bunt war es ja nur auf der anderen Seite. Die Schrift auf der Mauer? Auseinandergerissen taugt sie nur noch zu Buchstabengedichten. Gedichte, nachträglich an die versandfertigen Segmente geschrieben, da wären sie lange unsterblich. Doch reduziert sich, was sich da finden ließe, auf Bekundungen wie Jack was here oder Janis was here, und ich glaube nicht, daß es Jack Kerouac oder Janis Joplin waren, die ihr Autogramm auf Stein hinterlassen haben. Vielleicht ihr Programm? Freedom is just another word for nothing left to loose… Aber ich sehe schon, ich muß von der Mauer runter, sonst gerät dieser Vortext zur Mauerschau eines Privilegierten. Was gab es denn vor der Mauer? Die vorliegenden Texte junger Dichterinnen und Dichter haben es aufgehoben. Sie geraten dabei, wie junge Lyrik immer, in einen dreifachen Widerspruch: zu sich selbst, zu ihrer Sprache, zu ihrem Land. Wüßte ich nichts von den Bewohnern dieses Landes DDR, wie sie bis zum 40. Jahrestag ihrer Staatsgründung gelebt haben, ich wäre anhand der Gedichte verführt zu sagen: Das war ein Land, in dem gute, weil unruhige Gedichte geschrieben wurden. Doch was sind unruhige Gedichte? Sie sind gemacht aus zerrissenen Sätzen, rhythmisch montierten Worthülsen, Selbstversuchen, den Finger in der Steckdose. Was vermag Sprache, glüht sie auf, wenn genügend Reibung da ist oder war der Strom zu schwach, weil die Zensur sich als Kraftwerk verkleidete, und es reicht dann nur für eine Entsagung, in der ein heimliches Grollen mitschwingt. Was in jenem unvollkommenen Land die unvollkommenen Gedichte seiner unzufriedenen jungen Bürger zeigten, war die andere Gangart, der Krebsgang der großen Parolen, die blühende Eiterbeule hinter der schön genormten Wand des Neubaus, war die heimliche Wut, die versessene Besserwisserei und die von zuviel Fernsehwerbung (aus den Kanälen des Klassenfeinds natürlich) kaputtgemachte Sehnsucht nach den weiten amerikanischen Prärien, die spätestens bei Sendeschluß von lauter Marlboro-Reitern besetzt sind. Experimente mit sich selbst gegen die Prosa des Alltags. Aber was sollte Lyrik sonst sein. Bei dieser und jenem vielleicht nur ein Feuerwerkskörper am Handgelenk zu tragen. Jeder ein Trommler mit verbundenen Augen, aber keiner verfehlt die Richtung: hin zum Brandenburger Tor, Zur Siegesgöttin. Wer am Neujahrstag 1990 sich blutige Füße auf dem Scherbenteppich holte, befand sich dann wieder auf der Erde und verfing sich erneut in der Prosa der Verhältnisse. Was bleibt an diesem Januarmorgen von den Gedichten dieser Auswahl? Sind sie in ihren Absichten von nun an nicht überflüssig? Ich glaube nicht. Jeder kann hier noch einmal nachlesen, was diese Gedichte nicht aussprechen. Doch gehört Geheimnis zur Dichtung, und wenn auch in Zukunft nicht mehr so viele Gedichte geschrieben werden, so werden sie kaum anders aussehen. In einem Land, das keine Utopie mehr nötig hätte, wird Dichtung weggekehrt wie der Abfall des Tages. Wo bleibt der Rausch, wenn die Flaschen zerscherben? Wir sind, den Dichtern sei Dank, noch weit davon entfernt, auf die utopische Vernunft und auf den verständig machenden Rausch von Gedichten verzichten zu können.
Die vorliegende Auswahl ist programmatisch.
Fritz Rudolf Fries, Vorwort, 1.1.1990
Schreibe einen Kommentar