Durs Grünbein: Aroma

Grünbein-Aroma

INFANTIN IM KIESELSTEINREGEN

Vergeßt das Tulpenbeet, die große Rotexplosion,
Den Trümmerregen ins Grün, die Schrapnells
Aus zerspritzendem Karmesin. Es kommen
Die haptischen Freuden: vom Kiesweg der Kies,
Dies Geriesel der Steinchen durchs Fingersieb.
Die Infantin ist sie, und der Park gehört ihr.

Nehmt die Lorgnons von den Augen. Bestaunt
Nicht mehr länger Boskette und Buchsbaumtiere,
Im Sonnenlicht jagend. Denn sie ist erwacht.
Und weiß, was sich schickt: sie sammelt und wägt
Mit der linken, mit der rechten Hand Steinchen,
Wie man Erbsen zählt. Dann platzt es heraus!
Sie wirft die Arme hoch, und der Himmel zerreißt
In Spatengezwitscher. Mit blitzenden Augen
Sitzt sie im Kieselsteinregen und lacht und lacht.

 

 

 

Inhalt

Einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Gegenwert stellt sich in Vers und Prosa der Ewigen Stadt.

„Aufblühen wird man hier, auch als kraut sich gern überlassen.
Dem wohligen Phototropismus. Der man im Norden war,
Dieser Eisblock Identität, Psyches Schneemann ist bald zerronnen.“

Der so spricht, ist an einem Ort angekommen, wo viele seiner Schreib- und Lebensmotive zusammenlaufen. Durs Grünbeins Jahr in Rom hat Gestalt gewonnen in einem Zeichenbuch. Die Stadt – „Roma caput mundi“ – wird als ein Schauplatz der Zeichen und Verweise erfahren und schlägt sich, wie bei den Reisenden früherer Zeiten, in Zeichnungen nieder – freilich in geschriebener Form. Aus vier Kapiteln gefügt, entstand so sein opus incertum, nach dem Vorbild des altrömischen Mauerwerks aus Bruchsteinen.
Grünbeins Aroma eröffnet mit langzeiligen Gedichten in freiem, hexametrisch gewitterndem Versmaß: doch nicht auf der Suche nach dem verlorenen Gestern. Vielmehr sind es die kaleidoskopisch zu fassenden Momente der Gegenwart, die den Blick des Dichters auf Stadt und Umland lenken. Die geistige Bruderschaft im Zeichen der Urbanität findet der Dichter, über die Zeiten hinweg, in Juvenal, dessen Dritte Satire er neu übersetzt und erläutert. In einer Reihe von Prosabildern, die an römischen Erinnerungsorten den Apostel Paulus so gut einfangen wie den Antiquitätenhändler und den afrikanischen Immigranten, bricht Grünbein mit dem lyrischen Maß, bevor in freien Versen das Zeichenbuch ausklingt:

Die Städte träumen alle voneinander.
Sie rufen sich beim Markennamen, und das Echo
Hallt durch die engen Korridore der Straßen.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

Das Jahr in der Milchschaumbucht

− Rom hat viel alte Bausubstanz: Der Flaneur Durs Grünbein hat seine touristischen Tagestouren in Verse gepresst. Der Grund dafür ist das einzige Rätsel des Buchs. −

Rom ist ein heikles Gelände für Dichter. Nach zweitausend Jahren europäischer Romdichtung im weiten Spannungsfeld zwischen spätantiker Admiratio Romae und romantischer Ruinenmelancholie ist dem Romthema nur dann noch etwas abzugewinnen, wenn sich ein Autor nicht von der geschichtlichen Bedeutungsfülle der Stadt einschüchtern lässt und aus der Kraft der Subjektivität ein radikal eigenständiges Bild Roms entwickelt: so wie dies in der klassischen deutschen Literatur Goethe mit dem ungeheuren erotischen Wagnis der „Römischen Elegien“ oder in der Moderne Paul Nizon in bedingungsloser Liebe mit „Canto“ und Rolf Dieter Brinkmann in bedingungslosem Hass mit Rom, Blicke gelang. Was aber dazwischen liegt, ist in aller Regel vom Übel.
Nun hat also auch Durs Grünbein als Gast der Villa Massimo ein Jahr in Rom verbracht und legt mit der marktgerechten Hurtigkeit, die man von diesem Dichter mittlerweile leider gewohnt ist, schon wenige Monate später einen stattlichen Band mit den literarischen Erträgen seines Aufenthalts vor. Der Band enthält immerhin einen schlechthin großartigen Text: Juvenals 3. Satire, in Grünbeins Übertragung, das Urmuster also der literarischen Großstadtschelte, dem seit seinem Band Nach den Satiren (1999) Grünbeins unbedingte Verehrung gehört. Wie beglückend wäre es gewesen, wenn Grünbein, dieser sensible Beobachter, sich auch nur ein wenig von Juvenals Schreibhaltung, seiner tiefen emotionalen Verstricktheit in die Stadt, die Liebe jederzeit in Hass umschlagen lassen kann, hätte zu eigen machen können! 

Stattdessen hat er sich dazu entschlossen, Rom gegenüber die Haltung des touristischen Flaneurs einzunehmen – eines Flaneurs freilich, dem es unendlich schwerfällt, „ich“ zu sagen, und der es deshalb vorzieht, sich hinter einer objektivierenden Instanz namens „er“ oder „wir“ oder „man“ zu verbergen. Ein neuer, herausfordernder, die Dinge verfremdender Blick, der den Leser die Stadt neu zu sehen lehrt, kann so nicht entstehen. Man liest den Band schon jetzt, im Augenblick seines Erscheinens, so, wie man Gedichtbände von Conrad Ferdinand Meyer oder Paul Heyse liest: als literarisches Bildungserlebnis. Nur dass diese Dichter über ein besser entwickeltes Formbewusstsein verfügten.
Allerdings darf Durs Grünbein beanspruchen, für sein neues Buch den peinlichsten Titel in der reichen Geschichte der Romliteratur gefunden zu haben; er stammt tief aus den Niederungen des Kalauers. Der Dichter war also in Rom („a Roma“) und möchte seinen Lesern nun das „Aroma“ der Stadt vermitteln. Man fragt sich verstört, was einen Dichter dieses Ranges zu solchen Scherzen der Halbbildung verführt hat. Man fragt sich dies umso mehr, als dem Band genau das fehlt, was im Titel steht: Aroma, der Zauber des unvermuteten, unverwechselbaren, stimulierenden Dufthauchs, der die Magie dieses einen Ortes aufruft.
Grünbein schreibt in der „Rom im Traum“ überschriebenen Nachbemerkung, das „Naheliegendste“ (gemeint ist das Nächstliegende) beim Namen Rom seien für ihn die Maronen in Papiertüten gewesen, und fährt fort: „Das Aroma von Rom konnte einem vom Geschmack der Artischocken wachgerufen, vom Anblick der Mimosen, von einer Tasse Cappuccino wiedergeschenkt werden.“ Aromafreier als solche Sätze, die eine standardisierte Geschmackskultur beschwören, sind allenfalls holländische Tomaten.
Natürlich wird jeder Leser Familie Grünbein den Besuch der „vitrinenbestückten Frühstückskapellen“ römischer Bars gönnen. Von deren Aroma aber spürt er kaum einen Hauch, wenn er Sätze wie diesen lesen muss: „Dann ließ man den Löffel im Orangensaft klingeln, spreizte fachmännisch die Finger ab beim Schlürfen des geschäumten Milchkaffees oder des Cappuccino und verbiss sich in ein Hörnchen, Cornetto genannt, dass einem der Puderzucker unter der Nase stäubte.“ So präsentiert Grünbein die römischen Alltäglichkeiten und Banalitäten, in die er sich verbissen hat, in diesem Buch mit lyrisch abgespreiztem Finger, als handle es sich um Preziosen.
Warum die Gereiztheit des Rezensenten? Weil er von einem Dichter, dem wir Meisterwerke wie „Vom Schnee“ (2003) verdanken, formal, gedanklich und in der Intensität der Wahrnehmung Bezwingendes erwarten darf. Hier aber tritt Grünbein auf als „der typische absichtslose Flaneur und Eindrückesammler“, der Momentaufnahmen in Vers und Prosa liefert, in denen sich kaum je eine originelle Wendung, kaum je ein bezwingendes Bild findet. Der Band wird eröffnet von einem 53 Stücke umfassenden Zyklus, in dem der Dichter in jeweils (zumeist) sechzehn Versen die Ergebnisse seiner Tagestouren zusammenfasst: „Auf in die Stadt, die so vieles zu bieten hat für das Auge.“ So absolviert er, den 53 Wochen seines Aufenthalts entsprechend, in der Sprache der Reiseführer sein lyrisches Pensum:

Man biegt aus der Gasse und reibt sich die Augen. Da steht er,
Der einzige Bau, der als ganzer fast unversehrt blieb aus der Zeit,
Da Augustus Rom zur Marmorstadt ausrief.

Man reibt sich tatsächlich die Augen: Bei diesem bleichen Bildungsparlando soll es sich um Verse von Durs Grünbein handeln? Und warum überhaupt Verse? Denn bei dieser durch Zeilenbruch versifizierten Prosa ist es im Grunde gleichgültig, ob eine Wahrnehmung oder ein Gedanke in Versform oder in Prosa formuliert wird.
So heißt es, die Raumnot in den römischen Mietshäusern mit einem wenig überzeugenden Vergleich akzentuierend, im achten Gedicht des Zyklus: „Ein Japaner war dieser Mensch der Antike – / Zu Hause in niedrigen Kellergewölben.“ In einer Folge von Prosaskizzen wiederholt Grünbein diesen Vergleich dann in leicht variierter Form: „Sie waren Japaner, diese kleinen Menschen der Antike, ein Leben lang mussten sie mit wenig Platz vorliebnehmen.“ Warum ein und derselbe Gedanke einmal in Prosa, das andere Mal als Vers erscheint, erschließt sich nicht. Ohnehin bleibt es dem Leser dieses Bandes ein Rätsel, welche Versauffassung Grünbein hat; ob Vers oder Prosa, hier wie dort herrscht derselbe nachlässige Plauderton.
Immerhin gibt es im letzten, „Tänzerin in Tivoli“ überschriebenen Teil des Bandes, in dem vermischte Gedichte italienischen Inhalts versammelt sind, doch einige Texte, die den Leser daran erinnern, welch ein guter Lyriker Grünbein sein kann, wenn er sich nicht auf das Geschäft der poetischen Massenkonfektion verlegt. Ein Vers aus dem Titelgedicht, einem Liebesgedicht von wundersamer poetischer Verhaltenheit, gibt zu erkennen, worauf deren Qualität beruht: „Hier holte ihn das Persönliche ein, das Relative, Intime.“ Dies Persönliche und Intime kommt in den Versen und in der Prosa von Grünbeins römischem Zeichenbuch entschieden zu kurz. „Und hier nun betrat man die Heiligtümer Pomonas.“ So schreibt „man“ über die Markthallen Roms. Wer aber ist „man“? Emanuel Geibel? Ein wilhelminischer Oberlehrer? Oder nicht doch etwa ein bedeutender deutscher Lyriker der Gegenwart?

Ernst Osterkamp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.10.2010

Bruchstein und Mörtelguss

− Ewige Stadt, unsicheres Terrain: Durs Grünbeins Aroma. Ein römisches Zeichenbuch. −

Das unpersönliche Pronomen „man“ ist ein umtriebiges Wesen. Früher, in antiken Zeiten, tat es einen Schritt aus einem Stadttor „Roms“, und „man war auf dem Dorf“. Dann treibt es sich an einer Strandbar in Ostia herum. „Man ißt frischen Fisch.“ Schließlich, im November, versenkt es sich in einer Bar jenseits des Vatikans in ein Glas Averna: „Man blickt sich um und sucht / Durch den Höllenlärm ein dunkles Augenpaar zum Weiterträumen.“ Ein Jahr verbrachte Durs Grünbein in Rom, und aus diesem Aufenthalt ging ein Buch hervor, das Gedichte über diese Stadt enthält, eine Übersetzung der dritten Satire Juvenals, ein Gruppe von Essays – und wieder eine Sammlung von Gedichten. Aber er meidet das „Ich“, das lyrische, das prosaische wie offenbar auch das persönliche: „Vor einiger Zeit sah man im British Museum in London eine Ausstellung über Kaiser Hadrian“, lautet der erste Satz eines Essays, der vor allem vom souveränen Umgang mit Trümmern antiker Kunstwerke handelt. Wer ist dieser „man“?
Von der humanistischen Bildung, die bis ins frühe zwanzigsten Jahrhundert hinein das höhere Schulwesen in Deutschland prägte, ist wenig erhalten, so wenig, dass das, was sie wusste, immer wieder erklärt werden muss: „Wen zogen sie denn an, die alten Steine / In ihren Stadien des Verfalls?“, fragt der Dichter, „zuerst die Künstler.“ So fern ist die römische Antike gerückt, dass sie offenbar nicht nur erst dem Publikum, sondern auch schon den gelehrten Poeten als etwas Erstaunliches, ja beinahe Esoterisches vorkommt.
Und so streift er durch die alte, große Stadt und sagt auf, was er sieht, für sich und seine Leser: Und weil das Wissen um die Antike zwar weitgehend verschwunden, der Schatten dieses Wissens, der Echoraum der antiken Tradition aber immer noch da ist – und mit ihm das Bewusstsein, sie kennen zu müssen und es nicht zu tun –, steht der Dichter fasziniert vor diesem Fremden, das zugleich das Eigenste sein soll: als ein poetischer Reiseführer, der Rom und die römische Geschichte um einiges besser kennt als sein Publikum und doch weiß, dass beides ihm nie wirklich geläufig werden wird. Auch wenn er es gern so hätte, und auch wenn er manchmal gern so täte.
Für diese Differenz, für diese existentielle Unsicherheit steht das „man“, weil dieses Wesen eine Allgemeinheit suggeriert, die es nicht haben wird, weil es sie nicht haben kann: Das „man“ spaziert aus dem Stadttor hinaus, isst Fisch und blickt sich um. Es beschäftigt sich mit Juvenal, dem römischen Dichter, der um das hundert nach Christus den römischen Alltag beschrieb, und es ahmt ihn nach, indem er gleichzeitig auf Altertum und Gegenwart, auf antiken Mörtel und auf modernen Asphalt blickt.
Doch der Mensch, der all dies tun könnte, ist nicht da – er ist ein Schemen nur, ein aufgeweckter Repräsentant der Eindrücke und gelehrten Assoziationen, die ihm widerfahren, eine Figur eher als ein lebendiger Geist. „Wer so spricht? Ein Zugereister aus dem Norden“, einer, der die Weltläufigkeit mehr spielt, als dass er sie tatsächlich besäße, und einer, der, weil er doch am liebsten sehr selbstbewusst erschiene, aber es eigentlich nicht ist, ein allzu vertrautes Verhältnis zu Phrasen unterhält: Und so erscheint, wenn von weißer Bettwäsche die Rede sein soll, diese sogleich als „jungfräulich“, und der Zigarettenrauch wird „gekonnt“ durch die Nasen geblasen, und so ist der Titel, den das Buch trägt – Aroma – ein übler Kalauer („a Roma“), ein billiger Triumph des Witzes über die Sache – und immer bleibt da der Verdacht, nein, die Gewissheit, Durs Grünbein habe die übergroße Pose mitgedichtet, sie sei also bewusster Ausdruck eines tiefen Zweifels am eigenen „man“.
Es ist dieser Zweifel, der dieses kleine Buch immer wieder lebendig werden lässt, weil er dafür sorgt, dass im Übermaß der Anrede – an die Stadt Rom, an ihre antiken Bewohner, an die Weltgeschichte und an alles, was in Vers und Prosa hier noch so bedichtet wird – auch das Angesprochene und der Ansprechende erkennbar wird: wie in dem kleinen Vers über den polierten Avertin, „wie Rindfleischscheiben elegant gemasert“, wie bei den Staren, die in den Pinien verrückt spielen, wie die Aurelianische Mauer, die sich rostbraun ins Erdreich „kniet“. Und wenn dann am Ende, in der das Buch abschließenden Phantasie, ein Satz kommt wie dieser: „Rom monumentalisiert alles ein wenig, auch die eigene Vorstellung“, so erkennt der Leser darin das „man“ wieder – den Versuch, sich im Vermessenen einzurichten.
Ein Jahr verbrachte Durs Grünbein, wie so viele andere deutsche Künstler, in Rom, ein Eingeladener und Ausgehaltener, und man merkt dem Dichter an, dass er das Prekäre dieses Aufenthalts – die Pflicht, so viel Freiheit für seine Kunst nutzen zu müssen – durchaus wahrnimmt, als Zwang zum lyrischen Flanieren. Zumindest der erste Teil, das „opus incertum“, (das „unsichere Werk“ oder „römisches Mauerwerk aus Bruchsteinen mit Mörtelguß“) verdankt diesem Zwang seine Struktur, nicht nur, weil er in seiner Chronologie dem Stipendienjahr folgt, sondern auch, weil er den Schriftsteller ausschwärmen lässt zu systematischer Erkundung, immer das Gedicht im Sinn. 
Nicht immer geht das gut, denn vom illegal eingewanderten Afrikaner führt so leicht kein Weg zum antiken Gladiator, und wenn der Dichter seine rothaarige Frau bewundert, wenn diese (wozu er selbst das Geschick nicht hat) mit einem Antiquitätenhändler zu feilschen versteht, dann findet der Leser diese Szene nicht nur indiskret, sondern er gewinnt auch den Eindruck, als wäre nun kein Erlebnis mehr vor seiner poetischen Bearbeitung sicher. Es sind aber immer wieder ähnliche Situationen, in denen sich beim Lesen dieser Überdruss einstellt: Ereignisse nämlich, in denen der Dichter seinen Gegenständen zu nahe zu rücken scheint, wenn er alle reflexive Distanz aufzulösen trachtet in seinem Bemühen, sich den Leser zum Vasallen machen.
Einleuchtend aber werden die Gedichte immer dann, wenn der zuweilen allzu redselige Flaneur auf seinen Gängen plötzlich ergriffen wird, wenn ihn, wie Juvenal, die Freude am Berichten davonträgt, wenn er sich selbst in seiner zwiespältigen Rolle wahrnimmt, kurz, wenn es tatsächlich etwas zum Bedenken und Bedichten gibt: die Überraschung etwa, die das Pantheon noch immer (und jedesmal) in sich trägt.

Man schaut auf zur Decke, sucht einen Halt
Unter der Kuppel, die an Bunker und Westwall erinnert mit ihren fünf
Kassettenreihen, konzentrisch geordnet auf dieses rohe Loch hin.

In solchen Versen ist dann auch das Vorbild Juvenal am deutlichsten gegenwärtig, im Ineinander von Beobachtung und Selbstbeobachtung, im Mitgerissenwerten im Lauf des römischen Lebens. Und das „man“ stört an dieser Stelle nicht. Denn es ist selbst Ausdruck des Bemühens, unter dieser Kuppel, im Sog des Aufwärts, einen Halt zu finden.

Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 2.11.2010

Rom ist zauberhaft

− Plätze, Straßen, Monumente nehmen Gestalt an: Durs Grünbein wagt eine literarische Erkundung Roms – und sucht nach dem einzigartigen Aroma der ewigen Stadt. −

Ein Jahr lang war Durs Grünbein zu Gast in der Villa Massimo in Rom. Ein Jahr lang konnte er täglich in der „ewigen“ Stadt flanieren und über jenes Pflaster wandeln, das wie kaum ein anderes von Geschichte widerhallt. Die Stadt befeuert den Poeten förmlich mit Geschichte, der bei diesem Dauerbeschuss gut beraten wäre, in Deckung zu gehen – besser noch: sich zu ergeben. Ein Schelm, wer es mit dieser Stadt aufnehmen wollte. Doch Durs Grünbein weiß, worauf er sich einlässt.
Er begegnet der Stadt literarisch und legt sie mit dem „A“, das er an den Anfang und ans Ende des Titels gesetzt hat, ins Sprachbett. Er bettet Rom ins Alphabet. „A“ bedeutet dann so viel wie Anfang und dieser Anfang ist ohne Ende: Es bleibt auch am Schluss ein staunendes „A“. Mehr braucht es nicht und Rom entfaltet sein unverwechselbares Aroma. Rom gefällt sich und sie gefällt den Dichtern, die die Stadt am Tiber stets bestaunt und bewundert haben.
Um diese lange Tradition weiß der Dichter aus dem Norden, der sein römisches Skizzenbuch in fünf Teile gliedert. Der erste Teil besteht aus einem Gedicht mit dem Titel „Aroma“. In den 53 Strophen geht er auf Tuchfühlung mit Rom. Kein Baedecker wird zur Orientierung benötigt, sondern dieser Stadtsüchtige hat seinen Juvenal, den römischen Satiriker, unterm Arm. Mit diesem Weggefährten an der Seite, den Grünbein im dritten Teil als „Bruder Juvenal“ anspricht, ist er bestens gerüstet, wenn die Heilige Stadt ihr anderes Gesicht zeigt und sich als große Verführerin präsentiert.
In Juvenal, dessen dritte Satire den zweiten Teil bildet, sieht Grünbein den eigentlichen Begründer der modernen Großstadtliteratur. Er ist einer von Grünbeins Dialogpartnern, wenn sich der Zugereiste auf Erkundungsexkursionen in Rom begibt und in seinem Römischen Zeichenbuch festhält, was er entdeckt hat. Unendlich viel hat die Stadt zu bieten, die reich an totem Gestein ist, das zu sprechen beginnt, wenn man zu hören versteht.
Durs Grünbein gibt sich in diesem Band erneut als ein großer Lauschender zu erkennen. Doch gehen ihm im fünften Teil, überschrieben mit „Tänzerin in Tivoli“, die Augen über angesichts einer sehr lebendigen Gestalt, die er anders wahrnimmt als er Tivoli besucht. Schöner kann man kaum sagen, was es bedeutet, innerhalb steingewordener Geschichte jemanden an seiner Seite zu wissen, der einen wieder in Bereiche lebendigen Seins zu führen vermag.
Auf viele kulturelle Schätze wird in Aroma verwiesen – Plätze, Straßen, Monumente nehmen Gestalt an, wenn der Romreisende sich ihrer annimmt. Doch bei allem Respekt, Durs Grünbein gestattet sich auch die frechen Seitenblicke und übersieht nicht die, die ihr Dasein im Schatten fristen. Er preist die Stadt und er fragt zugleich nach dem Preis. Rom ist zauberhaft. Die Stadt hat ihr eigenes Aroma und sie schmeckt, riecht und klingt einzigartig. Aroma ist ein Gastmahl für die Sinne, die bei der Lektüre betört, verwöhnt und geschärft werden.

Michael Opitz, Deutschlandradio Kultur, 10.9.2010

Jetzt wird geprasst!

− Durs Grünbein befreit sich in Rom vom Panzer des Bildungsdichters. −

Vor rund zehn Jahren entdeckte der Dichter Durs Grünbein im Rom der Kaiserzeit einen Schatz an Bildern und Geschichten, der ihm den Maßstab für die gesamte Spanne des Allzumenschlichen gab und seiner Metaphernlust die Ordnung des Hexameters unter den Hintern schob. Nach den Satiren hieß der Zyklus, in dem er das alte Rom mit dem neuen Berlin kurzschloss und sich, was die Abrechnung mit dem allgemeinen Verfall betraf, hinter römischen Rollenrednern versteckte.
Am mächtigsten ließ er die Stimme des Satirikers Juvenal ertönen, einer Giftkröte mit der wahnverschwisterten Scharfsicht und ohnmächtigen Vernichtungslust des depravierten Kleinbürgers. Grünbein schätzt an den lateinischen Klassikern, dass sie die „Persona“ erfanden, den Vorläufer des lyrischen Ich, das nicht mit dem ganzen Menschen verwechselt werden darf. Und er war, während sich die Kritiker auf sein Vordergründiges einschossen, den Staatsdichtergestus und die Große-Latinum-welt, schnell einmal ein anderer, immer ein Spielfritz auf lautmalerischen Versuchsbahnen und für Überraschungen gut.
Eine solche Überraschung ist sein neues Werk. In Vers und Prosa will es das „Aroma“ Roms freisetzen – über einen Strom von „Zeichen, Bildern und Pigmenten“, aus Lautspielen, Anagrammen, synästhetischen Feldern um den „Eigenklang“ des Namens Rom. Aroma versammelt den Ertrag des Jahres 2009, das Grünbein als Stipendiat der Villa Massimo verbrachte. Am Anfang steht eine Gruppe von 53 langzeiligen Gedichten in „hexametrisch gewitterndem Versmaß“. Den zweiten Teil bilden seine Übersetzung der dritten Satire Juvenals, einer Dämonologie des Metropolenlebens aus dem 1. Jahrhundert, sowie ein Essay über dieses „Gründungsdokument der Asphaltliteratur“ und seinen Helden, den „Anti-Ästheten“ Juvenal.
Es folgen Prosastücke, Bewegungsstudien, wild fantasierte Psychogramme, Wünschelrutengänge eines Flaneurs durch zweitausend Jahre: Paulus, zwar Christ, doch mit dem Zeug zum antiken Philosophen, Papst Benedikt XVI. mit dünner, aber feinstofflicher Aura bei kleinem Stimmchen. Lemurische Antiquitätenhändler in der De-Chirico-Verschwiegenheit des einstigen Faschistenquartiers Trieste. Ein schwarzer Mann, Ramschverkäufer und illegaler Migrant, in regungsloser Verzweiflung auf einer Bank. Freaks, Eunuchen, räudige Katzen.
Den vierten Abschnitt bilden 23 Gedichte, die überwiegend römische Orte zum Gegenstand haben und den Genius Loci beschwören, zum Abschluss eine Art persönliches Nachwort, Rom im Traum. So weit, möchte man meinen, so Grünbein. Erstaunlich ist aber, dass der Dichter am Ziel seiner Sehnsucht nicht mit diesem zum Monument verwächst, sondern loslässt. Als sei er befreit von der Bürde, sein geistiges Heimatrecht über die Abstände von Raum und Zeit hinweg noch weiter beweisen zu müssen, pflückt er einfach nur ab, was ihm vor Augen kommt.
Mit nichts anderem scheint er beschäftigt, als das unablässige Strömen weit gereister Wortbilder, tollkühner Analogien und dienstbarer Gemeinplätze in seinem Kopf so zu rhythmisieren, dass die tausend Nuancen der „urbanen Urvibration“ in ein bildgesättigtes Parlando überfließen:

Beschlossene Sache unter sämtlichen Poren: jetzt wird geprasst
Mit Licht, Luft und Leichtsinn. Hier lässt selbst Sisyphos los.
Sieben Hügel, das genügt, dass der Stein ins Rollen gerät.
Unbeschwert folgt man den Obelisken ins Blaue, steht im Gewirr
Eines Gemüsemarkts auf barockem Platz, und das Staunen ist groß:
Tomaten wie Clownsnasen, Artischocken, ganze Radicchio-Beete,
In blauroter Glasur Auberginen, poliert wie teures Chinageschirr.

Vom Motorradunfall über Volksglauben und Vorstädte, Marktleben, Starenschwärme, Sommerhitze und Sommergewitter bis zum dekorativen Ennui junger Mädchen auf der Lyzeumstreppe: Aus Metaphern, Mimesis und Leichtsinn schlägt Sisyphos, befreit von allem, was der tägliche Film nicht anspült, eine wahre Bilderflut.
Gewiss: Das kann Grünbein schon lange. Doch dass er just in Rom den Panzer des Bildungsdichters abwirft, nicht wirklich, aber mit allen Fasern seines Willens, ist ein Coup. „Grau meliert wie die Bärte wilhelminischer Altphilologen schmeckt Geschichte.“ Relevant ist nur, was durch alle Zeiten seine Gegenwart behauptet: Vom alten Rom sind es vor allem die Wasserleitungen. In den Orkus fliegen die Kratzlöffel der Archäologen, fährt die Gier der Seniorenuniversität nach dem Triumph toten Wissens über alles Vitale:

Und dann die Alten, Sonntagsschüler, schwankende Studiosi,
Mit ihrer Sucht nach tröstender Antike. Zum Magneten
Wird der poröse Torso, narbenreicher Säulenstumpf
Für diese wissbegierig rüstigen, erschöpften Körper,
so ganz durchdrungen von Vergänglichkeit.

Und was sagt die „Persona“ dazu? Was spricht der Dichter durch all die historischen Masken? Nichts anderes. Römisch will er sein, wie „Bruder Juvenal“: radikal eklektisch die historischen Gemengelagen am Kreuzungspunkt seiner Welten ausbeuten „ohne Rücksicht auf das Historische an den Beutestücken“, allein zur „Intensivierung des Gefühls für die eigene Gegenwart“. Unter dem Deckmantel von Kulturkritik heraushauen, was ihm als eigentliche Intention jener „einzig genuin römischen Gattung“ namens Satire erscheinen will: „Unterhaltung und nochmals Unterhaltung“.
Und: nur nicht sein wie Horaz, der „römische Thomas Mann“, der „alles richtig“ macht, „immer den höheren Standpunkt“ einnimmt. Wenn Durs Grünbein nächstens den römischen Thomas auch in praxi ablegt, indem er ein paar Gedichte über Titusbögen und Mausoleen einfach weglässt, dann, ja dann! Dann werden wir ihn, den genialen Asphaltliteraten und wirklich begnadeten Dichter, noch begeisterter verteidigen gegen all jene, die in ihm bloß den sehen wollen, der alles nur richtig macht.

Andreas Nentwich, Die Zeit, 14.10.2010

Bildgesättigte Passivität

Durs Grünbeins „römisches Zeichenbuch“ mit dem einfallslosen Titel Aroma („a Roma“) ist das Ergebnis seines einjährigen Aufenthaltes in der Römer Villa Massimo. Eine Sammlung von 53 langzeiligen, „in freiem, hexametrisch gewitterndem versmaß“ verfassten Gedichten eröffnet den Band. Der Chronologie des Aufenthaltes folgend, schildert Grünbein seine Auseinandersetzung mit der Antike:

Dann stockt der Tag, und im Flimmern
Der Strassen, von den fahrbaren Kochplatten aufgeheizt,
Wird Rom der riesige Scheiterhaufen, den Chrysostomos sah.

Die Analogien wirken indessen oftmals gesucht. Die überladenen Bilder erscheinen als etwas beliebige Grossstadtveduten eines Künstlers, dessen Medium nun einmal das Gedicht ist. Auffallend ist zudem der durchgehende Eindruck von Passivität, den die prosanahen Sechzehnzeiler hinterlassen. Gleichwohl überrascht Grünbein hin und wieder mit präzisen Beobachtungen:

Morgens ein Unfall: zwei motorini, grotesk ineinander verkeilt,
Die Lenker verhakt, Fangwerkzeuge der Kopfabreisserin Mantis.
Die breite Kreuzung vor dem Tor Michelangelos ist nun blockiert.
Alles schimpft, das Gehupe schwillt an zur futuristischen Sinfonie.

Auf eine Juvenal-Übersetzung und einen Essay folgt abschliessend eine Sammlung von Gedichten vermischten Inhalts, die durch ihre zarte, ungezwungene Art bezaubern und nichts mehr haben von der bleiernen Passivität der einleitenden Verse. Hier nähert sich Grünbein entschieden dem Ideal römischer Dichtung, alles Flüchtige, Kurzlebige und Vergängliche in einer unerhörten Konzentration in präzise Bilder zu verwandeln. Nach Lektüre des Epilogs „Rom im Traum“ wird deutlich, was dem Band fehlt: Mut zur poetischen Reduktion.

kes, Neue Zürcher Zeitung, 5.4.2011

Zuviel Abendland

− Durs Grünbein poliert in seinem römischen Zeichenbuch wohlbekannte Oberflächen. Lyrik. −

In seiner „Fußnote zu Rom“ brauchte der Dichter Günter Eich einst nur wenige Zeilen, um sich von der monumentalen Kultur-Zumutung der abendländischen Gründungsmetropole zu verabschieden:

Ich werfe keine Münzen in den Brunnen,
ich will nicht wieder­kommen.

Zuviel Abendland,
verdächtig.

Angesichts der traditionsschweren Ruinen-Architektur erwachte in Eich ein „Lachreiz vor Säulen“. Der Dichter Durs Grünbein dagegen wird erkennbar von Ehrfurcht befallen, wenn er in den Gedichten und Prosaskizzen seines neuen Bandes Aroma seine Begegnung mit dem „Knotenpunkt kollektiver Memoria in der Geschichte Europas“ vergegenwärtigt. Diese Ehrfurcht verwundert nicht bei einem Autor, der seit vielen Jahren seine „antiken Dispositionen“ betont und in gewissem Bildungsstolz bekennt, seine „wichtigste Schreiblektion“ den römischen Klassikern zu verdanken.
Welche ästhetischen Folgen es haben kann, wenn man sich im Bannkreis der Kulturmetropole allzu verehrungsbereit einrichtet, belegen auf eher unerfreuliche Weise die Gedichte in Aroma, die hier als Ertrag des branchenüblichen Villa Massimo-Stipendiums versammelt sind. In den 53 Stücken der ersten Abteilung, in denen er in sehr locker gefügten Hexametern an den einschlägigen antiken Schauplätzen vorbeiflaniert, schlägt der Dichter jene Warnung in den Wind, die er selbst vorausschauend formu­liert hat: „Wer immer in Rom umherspaziert, ist als solcher schon Epigone.“ Ein Ausnahmedichter, den man Grünbein trotz der bildungstouristischen Tendenzen in einigen seiner Bücher immer noch nennen darf, hat zweifellos die Fähigkeit, dem Kulturgehorsam in Sachen Rom zu entgehen. Bei der Lektüre dieser Aroma-Notate entsteht jedoch der fatale Eindruck, dass hier ein Autor von Rang vorsätzlich eine kulturtouristische Reiseführer-Poesie zu ermäßigten ästhetischen Konditionen verfasst hat.

Dekorative Bildungsrhetorik
Es gibt glücklicherweise aber noch einige Texte, in denen die immense ästhetische Intelligenz des Dichters aufblitzt. In seiner Übersetzung der Dritten Satire der römischen Großstadt-Lästerzunge Juvenal entfaltet Grünbein jene Weltaneignungs-Geschicklichkeit, die seine besten Gedichte auszeichnet. An einer Stelle seines Essays über den „Bruder Juvenal“ spricht er von der Fähigkeit der römischen Dichter, die griechische Archaik als poetische Initialzündung zu nutzen, „eine Intensivierung des Gefühls für die eigene Gegenwart“. Die Gegenwart des Rom-Dichters Grünbein lässt jedoch solche Intensivierung vermissen. Fast nichts von der anarchischen Schärfe und Boshaftigkeit Juvenals oder von den radikalen Exaltationen späterer Rom-Reisender (etwa des wilden Tagebuchschreibers Rolf Dieter Brinkmann) kann der zeitgenössische Rom-Flaneur in seine eigenen Verse hinüberretten. Stattdessen kultiviert der Großstadtreisende eine dekorative Bildungs-Rhetorik, die oft hart an unfreiwilliger Komik vorbeischrammt.

„Auf in die Stadt, die so vieles zu bieten hat für das Auge“, ruft sich der Dichter der Aroma-Elegien zu – und findet doch nur Ansichtskarten-Kulissen, die dann mit Bildungsreminiszenzen veredelt werden. Eine banale Chartermaschine wird dann ebenso feinsinnig wie willkürlich mit Stichworten aus dem Geschichtsbuch überhöht:

Gleißendes Morgenlicht weckt den Italienmüden. Ostentativ
Dreht die Maschine eine Extrarunde überm Tyrrhenischen Meer.
Ostia, die kleine Pforte, erwartet die Jumbos, Touristentransporter,
Wie Octavians Flotten nach der siegreichen Heimkehr von Actium.

In seiner Selbstverteidigung gegen einen grimmigen Aroma-Kritiker hat Grünbein erklärt, dass er „das Aktuell-Metropolitane neben dem Rezent-Antiken“ in seine Liebeserklärung an Rom aufgenommen habe. Aber weder die metropolitane Impression noch die antike Disposition werden hier als wirkliche Bewusstseins-Herausforderung begriffen. Der Elegiendichter Grünbein begnügt sich in Aroma mit der lyrischen Politur von Oberflächenreizen.

Michael Braun, Literaturen, Juni 2010

„Ich selber sehe mich gar nicht primär als Lyriker“

− In seinem Gedichtband Aroma verarbeitet der Autor Durs Grünbein einen Rom-Aufenthalt in 53 Gedichten. Trotz der sehr langzeiligen Werke ist der Band eher kurzweilig. Allerdings ist sich die Kritik uneins über die Qualität. −

Kleiner Sonnengesang
Was brütest du heut wieder aus, pinienverliebte Sonne,
Fragt sich, nach Wochen der Übung, der Novize in Rom.
Steigt auf den Palatin in energischen, samtenen Schritten,
Die viel Staub hinterlassen und kleine Geröll-Lawinen.
[…]
Du läßt sie rotieren, alle. Lieferst stumm das Gehackte.
Machst hier ein Kirchlein hell, sprengst da einen Tempel,
Öffnest die goldenen Fensterläden römischer Häuser.

Nun, der hier die Kirchlein hell macht und die Tempel sprengt, der sich auch vom berüchtigten römischen Ferragosto nicht zermürben, sondern zu wunderbar leichten, eleganten, gut gelaunten Gedichten inspirieren lässt, ist nicht ein gewöhnlicher Tourist; es ist der deutsche Dichter und Villa-Massimo-Stipendiat des Jahres 9 nach der Jahrtausendwende, es ist Durs Grünbein. Aroma hat er den daraus hervorgegangen Gedichtband genannt, der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat ihm dieses frivole Wortspiel, eine Kompilation aus „a Roma“, in Rom, und dem Aroma der multiplen römischen Gerüche, sehr verübelt, doch dazu später.
Lassen wir uns zunächst einmal naiv mitreißen vom Schwung der 53 langzeiligen Gedichte, die dem Lauf des Rom-Jahres folgen, beginnend mit dem Karneval, den schon Goethe besungen hat, endend mit der feuchtkalten Spanischen Treppe am Tag von Mariä Empfängnis, dem 8. Dezember. Fragen wir uns: Ist das gute Lyrik? Und: Was ist gute Lyrik?

Grünbein: „Ich selber sehe mich gar nicht primär als Lyriker. Ich bin jemand, der in Versen Einsichten, Erkenntnisse, Wahrnehmungen mitteilt, die aus einem persönlichen Erleben kommen, aber durchaus empfänglich sind für gesellschaftliche, landschaftliche, urbane Motive. Ich bin ein bisschen so etwas wie ein umherziehender Maler, der mit der Sprache arbeitet.“

Deshalb also heißt der Band im Untertitel Ein römisches Zeichenbuch, was wiederum einen Doppelsinn ergibt: das Skizzenbuch einerseits, andererseits sind es ja auch die mannigfaltigen Zeichen, die Geschichts-Zeichen, die die Stadt versendet wie keine andere auf der Welt, die aufgenommen und kommentiert sein wollen. Und das tut Grünbein grandios. Der üppige Band besteht übrigens nicht nur aus den 53 Elegien, für jede Woche des Jahres eine, er enthält auch eine sehr schöne freie Übersetzung der dritten Satire des Juvenal mit einem klugen Kommentar sowie andere Prosa-Texte, die den Schauplatz Rom bespielen…

Einer meiner Antriebe ist es, eine große Abwechslung zu schaffen. Da gibt es das schöne Motto von La Fontaine: „Diversité c’est ma dévise“, oder wie man es etwas schöner deutsch sagen könnte: „Abwechslung ist süß.“

Das ist gelungen, aber wie! Kurzweiliger jedenfalls könnte ein Gedichtband kaum sein. Es ist erstaunlicherweise Grünbeins erster längerer Rom-Aufenthalt gewesen, auf den er sich gründlich vorbereitet hat, er hatte die Stadt längst im Kopf kartografiert, er hatte auch eine Art Masterplan, ein Konzept für das zu schreibende Buch, und dann, in Rom angekommen, floss es gewissermaßen wie von selbst, anders, freier als zu Hause.

Das ist, wie man weiß, dem Goethe nicht anders ergangen, er erlebte dort eine sehr produktive Phase; gewisse Elegien kamen dort erst zustande, und später in Weimar war das wieder versickert. So ist das.

Über Grünbeins enge Affinität zum klassischen Bildungsgut ist man informiert, Goethe und Vergil stehen ihm sozusagen gleich nahe; und doch wirkt der Band an keiner Stelle bildungsschwer, oder auch nur akademisch: Wo er mit klassischen Formen oder Zitaten spielt, tut er es mit staunenswerter Leichtigkeit, und immer wieder denkt man beim Lesen: Besser könnte man es nicht sagen. Hat ihn denn die Fülle des Vorwissens, konfrontiert mit der sinnlichen Anschauung des Vorhandenen, nicht blockiert?

Nein, als ich dort war, konnte ich das alles sofort wieder vergessen. Die Präsenz dessen, was vom Altertum noch da ist, und auch unter ständigem Gebrauch ist, diese unmittelbare Präsenz hat ihre ganz eigenen Gesetze der Wahrnehmung mitgebracht. Es ist nicht so, dass ich mit einer Überdosis Horaz oder Vergil dort hingegangen wäre, sondern die Steine haben mich von sich aus angesprochen, ich habe eigentlich die meisten wirklichen Entdeckungen erst dort gemacht.

Grünbein ist weder Historiker oder Archäologe noch Philologe, das macht seinen Blick frei und seine Sprache durchlässig. Diese Durchlässigkeit und Offenheit, als Surplus einer durchaus anwesenden Strenge der Form, ist vielleicht das Schönste an dem Band.

Ich selber habe diese ganz strengen Formen nie im Kopf. Es ist so, dass man sie durch die Zeilenanordnung erst wahrzunehmen meint, aber wenn man in die Zeilen hineingeht merkt man, das ist sehr viel variabler, ich habe nie ein Metrum besonders rein behandelt. Allerdings bin ich ein Dichter, der die Sachen in einer einigermaßen gebundenen Form darbietet. Ich habe mit allen Formen experimentiert, auch mit dem sogenannten freien Vers, der übrigens so frei nie ist, auch der freie Vers besteht in der Regel aus versprengten metrischen Partikeln.

Der eingangs erwähnte Rezensent der FAZ, der Berliner Germanist Ernst Osterkamp, findet vom Titel angefangen ausnahmslos alles an diesem Band – bis auf Juvenals Satire – platt und banal, poetische Konfektionsware eines an sich „guten Lyrikers“. Der Verriss hat Grünbein offenbar so aufgebracht, dass er sich bemüßigt fühlte, eine Erwiderung in Form eines Leserbriefs zu verfassen, publiziert in der FAZ vom 14.10.2010, zwölf Tage nach Osterkamps harscher Kritik. Die interessanteste Frage bei diesem Konflikt ist vielleicht die nach Begriff und Wesen des Banalen, sozusagen nach der vermeintlichen Bösartigkeit der Banalität: Ist es beispielsweise im schlechten Sinn banal, wenn Grünbein die römischen „Frühstückskapellen“ feiert (ein schöner Ausdruck, wie ich finde), und welche produktive Funktion könnten Elemente des Banalen in der Literatur haben?

Ich habe eine große Lust auf Abstürze, je höher der Ton ohnehin schon ist, je bedeutsamer scheinbar das Sujet, desto wichtiger ist es, dann doch die zerquetschte Blechbüchse am Rand zu sehen. Ich glaube, dass die Kunst immer von solchen Spannungen lebt, von gewagten Gegensätzen. Für den denkenden Menschen ist der Raum des Klischees ohnehin sehr viel größer, als die meisten glauben. Muss man Angst davor haben, oder hat das Klischee, in die Form hineingebracht, nicht auch eine Funktion? Für einen Nabokov wäre Grass insgesamt ein kitschiger Autor. Insgesamt! Das ganze Werk ist aus der Sicht sozusagen verdorben, weil es klischeehafte politische Ideen enthält. Wer dieses Schwert auspackt, der muss sich auf ein riesiges Gemetzel gefasst machen.

Ein großes Gemetzel hat die Debatte zwischen Autor und Rezensent bisher nicht ausgelöst, aber man darf schon darauf hinweisen, dass auf einem äußerst schmalen Grat der Subjektivität wandelt, wer anderen Gemeinplätze, Klischees oder einen zu großzügigen Umgang mit dem sogenannten Banalen vorwirft. Denn, seien wir einmal ehrlich, was ist schon unwidersprochen und unumstößlich originell?

Was das Originelle betrifft, da fällt einem wieder Goethe ein, der sagt: Wir sind nur Originale, weil wir so wenig wissen. Das ist sicher richtig. Je mehr man dazu lernt, desto mehr findet man heraus, dass vieles von dem, was man selber für äußerst originell hält, hier und da schon mal da war. Der Künstler sollte sich eben bemühen, uns immer mal wieder zu verblüffen, hier und da ein neues kleines Stilmerkmal zu erfinden, Sujets sowieso.

Martin Krumbholz, Deutschlandfunk, 13.12.2010

 

 

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Grünbein“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Durs Grünbein

 

Durs GrünbeinSternstunde Philosophie vom 14.6.2009.

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