Dylan Thomas: Arbeit am Wortwerk

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Dylan Thomas: Arbeit am Wortwerk

Thomas-Arbeit am Wortwerk

MEIN HANDWERK MEINE TRÜBE KUNST

Mein Handwerk meine trübe Kunst
In der Nacht die Stille bringt
Wenn nur der Mond wütet
Und die Liebenden im Bett halten Not
Und allen Kummer im Arm,
Üb ich bei Licht das singt −
Nicht für Ruhm oder Brot
Oder prahlenden Zauberschwarm
Auf Elfenbeinbühnen behütet
Nein meine Mühe vergütet
Ihres heimlichsten Herzens Gunst.

Für den Stolzen der fernbleibt der Brunst
Des wütenden Monds schreib ich nicht
Auf diese Schaumwirbelseiten
Noch für jene die ragen im Tod
Mit Nachtigallen und Psalmen,
Nur für Liebende in deren Armen
Liegen die Leiden der Zeiten
Und die mir nicht Feste bereiten
Und nicht achten auf meine Kunst.

Übersetzt von Erich Fried

 

 

 

„Mein Handwerk meine trübe Kunst“

Symbole werden gewählt aus des Jahres
Langsamer Rundfahrt um seiner vier Zeiten Ufer

(Aus: „In diesem Frühling hier“)

Es soll heißen Götter sind Stein.
Soll ein fallengelassener Stein trommeln am Boden?
Geworfener Schotter läuten? Laßt Steine sprechen
Mit Zungen die in allen Zungen reden.
(Aus: „Solls heißen Götter schlagen auf Wolken“)

Dylan Thomas hat sich selten, und dann ungern über seine Dichtung theoretisch geäußert; auf seinen Vortragsreisen wurden Fragesteller meist mit einem Bonmot abgespeist. In keine lyrische „Richtung“ vermag sein Werk eingepaßt zu werden, er ist sicher nur bedingt ein walisischer „Rimbaud von der Cwmdonkin Drive No. 5“, dem Elternhaus in Swansea – obwohl „Das trunkene Schiff“ seines großen französischen Wahlverwandten in Symbolfindung und Lebenshaltung einen Vergleich denkbar macht. Von der klassischen Rückschau des ihm wohlwollend gesinnten großen Zeitgenossen T.S. Eliot ist er weit entfernt; aber auch der Surrealismus, mit dem er sich Mitte der dreißiger Jahre kritisch auseinandersetzt, kann ihm nicht zur künstlerischen Methode seiner Verssprache werden. Die junge Sachlichkeit der Alltagsbeschreibung, der tagespolitischen Zuwendung, die aus den Gedichten von W.H. Auden, Cecil Day Lewis, Louis MacNeice und Stephen Spender, dem revolutionären Poetenquartett des „roten“ Jahrzehnts, im Kampf gegen den drohenden Faschismus in Europa spricht, kann in ihrer oft umgangssprachlichen Direktheit nicht die Ausdrucksmöglichkeit für den in Wales verwurzelten Thomas sein; die zornige Lyrik des „Movement“, die nach 1945 den britischen „Wohlfahrtsstaat“ attackiert, ebensowenig. Und der vage Begriff „Neuromantik“ läßt sich erst recht nicht auf die lebensprallen Verse und Geschichten mit ihren oft rätselhaften, sperrigen, widersprüchlichen Bildern anwenden.
Der unzeitgemäße Dylan Thomas ist einmalig. Ein Unikum, dessen Texte in der Weltliteratur Unikate bedeuten. Fast jedes seiner Gedichte ist Lebens-Werk, insofern es über Jahre und Jahrzehnte hinweg immer wieder korrigiert, revidiert, ergänzt wurde. Sein mit höchster Präzision und Anspannung betriebenes dichterisches Handwerk ist nirgends aus der Inspiration des Augenblicks geboren:

Automatisches Schreiben ist wertlos als Literatur, so interessant es auch für den Psychologen & Pathologen sein mag… Ich schreibe in einer Geschwindigkeit von zwei Zeilen pro Stunde. Ich habe Hunderte von Gedichten geschrieben, & jedes davon hat schmerzliche, hirnquälende und schweißtreibende Stunden gekostet… Ich werde von Tag zu Tag obskurer… Ich fühle, wie sich alle meine Muskeln anspannen, wenn ich aus den strudelnden Wörtern meiner andauernden Ideen von der Gewichtigkeit des Todes unter den Lebenden einige verbundene Wörter herauszuzerren suche, die erklären, wie das strahlende System der Toten, geordnet wie in des Grabes Horizont, gesehen wird entlang der Planetenbahn eines (Vers-)Fußes oder einer Blüte…

Unbestechliches linguistisches Handwerk kämpft mit der störrischen, düsteren, trägen, verdrossenen Verskunst! „In my Craft or Sullen Art“ heißt die Titelzeile eines der wenigen Gedichte Thomas’, die Auskunft geben über seinen Beruf. Lyrik entsteht nur in der (vermeintlichen) Stille eines Arbeitsprozesses von äußerster Konzentration, während doch die Gestirne „wüten“. Denn die schöpferische Ruhe resultiert aus leidenschaftlicher Bewegtheit, für das Schreiben einziges Motiv. Der Dichter singt nicht „für Ruhm oder Brot“, er tut es für die Liebenden, „in deren Armen liegen die Leiden der Zeit“.
An anderer Stelle, in seinem Essay „Wie man Dichter wird“, hat Thomas Karriere-Poeten und Kaffeehaus-Genies ähnlich, aber direkter verspottet:

Über den Dichter, der lediglich schreibt, weil er schreiben will, den es nicht tief bewegt, ob er veröffentlicht wird oder nicht, und der sich mit Armut und völligem Mangel an Anerkennung zu Lebzeiten abfinden kann, läßt sich hier nichts von irgendwelchem Wert sagen. Er ist kein Geschäftsmann. Nachruhm zahlt sich nicht aus.

Sehr drastisch und sehr ironisch hebt hier ein Wort das andere auf: Zeit seines kurzen Lebens hat der Waliser an Geldnot gelitten, so wie er sein Geld „verschwendet“ hat; zeit seines lebenslustigen Lebens hatte er den Tod vor Augen, und erst sein Nachruhm hat den Erben finanzielle Sicherheit gebracht. So werden auch in seiner paradoxen Bildsprache Motive und Metaphern aufgebaut, nur um wieder abgebaut zu werden: Das Leben achtet (scheinbar!) der Dichtung und der Dichter nicht. Die L(i)ebenden, denen seine Mühe gilt, bereiten ihm nicht Feste und achten nicht auf seine „trübe“ Kunst. Das ist eine Absage an Esoterik und Weltentrücktheit, an die romantische Schwärmerei nur im Ab-Bild des Daseins. Fortwährend fordert der Tod das Leben heraus, es bleibt keine Zeit zum Trauern. Wenn ein unschuldiges Kind im Bombenhagel faschistischer Flugzeuge über London umkommt, dann ist nicht elegisches Innehalten geboten, sondern Preis des (Weiter-)Lebens trotz alledem. Und sei es barocke Beredsamkeit; die das Sich-Aufgeben hindert. Denn es gilt nur die eine, lapidare, unorthodoxe Weisheit fernab sonstiger poetischer Verschlüsselung: „After the first death, there is no other. Nach dem ersten Tod gibt es keinen zweiten.“ („A Refusal To Mourn the Death, by Fire, of a Child in London.“)
Wenn Dylan Thomas vom Tod spricht, dem kein Reich mehr bleiben soll, spricht er in höchster wortschöpferischer Dichte von der Dialektik der Natur, von der Vielschichtigkeit aller Existenz auf dieser Erde. Deshalb enthält seine Lyrik keine plakative Botschaft, wiewohl (oder gerade weil) sie nicht unpolitisch ist, spndern aus den sozialen Reibungsflächen der walisischen Montanindustrie zu Krisenzeiten geboren und so dem Poeten der Sinn für Gegensätze in der gesellschaftlichen und natürlichen Umgebung geschärft wurde. Es findet jene „emotionale Introversion“ statt, die der marxistische Literaturtheoretiker und Schriftsteller Christopher Caudwell als eines der Wesensmerkmale moderner Poesie bezeichnet. Die alle und alles betreffende Realität wird in rhythmische, also kollektive Sprache gebracht, die sich erst einmal aus Wörtern (nicht aus wissenschaftlich überprüfbaren, Aussagesätzen) zusammensetzt. Und Dylan Thomas zieht da alle Register: neben dem Endreim der Binnenreim, Assonanzen und Adjektivkomposita, konkrete Sitimmungen werden in Wortspielen und in Synästhesie wiedergegeben, Klangbilder assoziieren die Sprache der Bibel und der keltischen Vorfahren in Wales, Schottland, Irland; Erfahrungen aus der bildenden und der darstellenden Kunst, vor allem auch der Musik werden verwendet; einzelne Symbole (besonders aus der Sexualsphäre, die Geburt – Leben – Sterben – Wiedererstehen umreißt) machen nie das Gedicht als Ganzes symbolisch, sondern lassen es konkret an die unverwechselbare Situation des einen Dichters in der einen, bestimmten Landschaft gefesselt sein. Gerade durch diese (wie Caudwell sie genannt hat) „konzentrierten Affekte“ ist Thomas’ Dichtung so schwer übersetzbar in andere Sprachen – hier haben für das Deutsche Erich Fried, R.P. Becker und nicht zuletzt Wolfgang Hilbig bemerkenswerte Nachschöpfungen geleistet, die den Intentionen des Autors folgen, ohne die komprimierten Bilder einer wortwörtlichen Dolmetscher-Ratio preiszugeben, ohne den „obskuren Realismus“ des Walisers zu verraten, der nur verständlich wird aus der Biographie des Dylan Thomas, die wiederum an die geographischen Stationen seines Lebens, an die Episoden in seiner Mit-Welt, an seinen zeitig vorausgeahnten Tod gebunden ist. Ein kurzes Mensehen-Leben läßt dem Nach-Leser dichten, dichterischen Raum für die eigene Lebensweise.

Swansea
Fast alle Gedichte Thomas’ sind „vor Ort“ entstanden, außerhalb von Wales standen ihm „unlyrische“ Aufgaben an. Seine Verssprache formt sich im Elternhaus; als er es zwanzigjährig verläßt, liegen etwa 50 der wesentlichen poetischen Texte im Entwurf in den berühmten Notebooks vor, die er ständig bei sich hat. Nur einmal noch, am Ende des zweiten Weltkrieges, wird er in Carmarthenshire eine vergleichbar schöpferische Arbeitsphase haben, in der thematisch immer wieder Kindheits- und Jugenderlebnisse anklingen: Die Geburtsstadt Swansea mit dem Hafen am Bristolkanal, mit Metallindustrie, Schiffbau, Ölraffinerien, aber auch einem College, bleibt gegenwärtig.
In den „Erinnerungen an die Kindheit“ ist die „häßliche, liebenswerte Stadt“ als seine Welt beschrieben. Das in seinem Geburtsjahr erbaute Elternhaus am Cwmdonkin Drive No. 5 läßt den Blick auf die Docks und die Schornsteine der Fabriken zu, aber der nahe gelegene Park bietet Kontrast und Spielraum gegenüber der Industrielandschaft. Er ist abgeschieden trotz der Häuser ringsum, fernab der Hauptverkehrsstraßen; hier tummeln sich die Arbeitslosen neben den Schulschwänzern, alt und jung treffen aufeinander, Außenseiter wie der „Bucklige“ faszinieren Dylan. Ein bißchen Verzagtheit und Verlorenheit ist an diesem Fleckchen Erde angesiedelt; in der Geschichte der Dienstmädchen Patricia und Edith, die sich um den Galan Arnold streiten (aus Porträt des Künstlers als junger Dachs, erschienen als Inselband Nr. 1058, Leipzig 1983), wird die winterliche Stimmung des Cwmdonkin-Parks gleich einem Genrebild in Prosa später, 1940, eingefangen werden.
Dörfliches und Städtisches stoßen aufeinander. Großeltern und Eltern Thomas’ waren aus bäuerlicher Umgebung ins industrielle, mehr und mehr anglisierte Wales hinübergewachsen, immer bemüht, die walisische Mentalität zu wahren. Die keltische Sprache, die Dylan nicht mehr beherrscht, wurde als Mittel der nationalen Identität eines unterdrückten Volkes hochgeschätzt: Erzählen, Schwätzen, Fabulieren in Ruhe und Muße gilt als Alltags- und Lebenskunst. Dylans Großonkel William (er nannte sich Gwilym und gab sich ein Pseudonym nach dem Fluß Marlais) pflegte mündlich und schriftlich die keltische Imagination in der Suche nach historischen Wurzeln bis in graue Vorzeit. Vater David John Thomas, dessen grimmiger Würde und wütenpem Stolz in dem Nekrolog „Do not go gentle into that good night“ ein poetisches Denkmal gesetzt werden wird, liebt Literatur, lehrt sie mit Strenge seinen respektvollen Schülern; vor allem Shakespeare deklamiert er gern im Unterricht. Der Haushalt interessiert ihn wenig, auch seine Frau Florence kommt mit dem monatlichen Etat und den Familienpflichten nicht recht zurande. Darin wird Sohn Dylan seinen Eltern ähnlich werden, auch er geht aufreibenden Alltagskleinigkeiten aus dem Wege und flieht aus der Langeweile häuslicher Ordnung in zauberhafte Lügen und überschwengliche Komik. Er ist am 27. Oktober 1914 geboren und nach einer Figur aus der mittelalterlichen walisischen Romanze „Mabinogion“ Dylan genannt, das hübsche, verwöhnte Lieblingskind, das es ein Leben lang liebt, umsorgt zu werden und sich „durchzuschlauchen“.
In der Familie Thomas gibt es keine konsequenten Kirchgänger, aber die Bibel beeindruckt Dylan: „Die Geschichte des Neuen Testaments ist Teil meines Lebens“, sagt er, begeistert von den Mythen, Legenden, Sermonen des Buches der Bücher. Aber ebenso enthusiastisch liest er Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter, dessen Titelgestalt er in dem Mädchen aus der Erzählung „Ein Blick aufs Meer“ nachgestaltet; das Motiv des Daumen-Abschneidens kehrt mehrfach wieder, beispielsweise in „Die Maus und die Frau“. Und im Hinterkopf bleiben auch Kinderverse und Schüttelreime, die ihm der Vater frühzeitig beigebracht hatte: Mit der Unschuld kindlichen Verstandes werden Silben wie Farben auf die poetische Palette gesetzt, Lautmalerei und metrische Spiele, ergänzen den Zeichen- und Symbolcharakter der Sprache, etwa im symmetrischen Schriftbild des Gedichtes „Vision and Prayer“ („Gesicht und Gebet“), der 1946 in den Band Tode und Tore aufgenommen wird. Dylan, der Clown und Dylan der Poet sind seine „zwei Seelen“, und „wenn es Ängste und Leere gab in seinem Leben; so verbarg er sie hinter bizarrer Sprache und Haltung“, urteilt sein Biograph Paul Ferris.
Etwa als Zehnjähriger, er besucht da im dritten Jahr eine private Tagesschule gleich um die Ecke im Küstenvorort Uplands, schreibt er sein erstes, natürlich epigonales Gedicht, „La Danseuse“:

She moved like silence swathed in light,
Like mist in moonshine clear;
A music that enamoured sight
Yet did elude the ear…

Bewußtwerden seiner selbst, Entdecken seiner körperlichen und geistigen Möglichkeiten geht früh mit Aufschreiben einher (Englisch ist das einzige Fach, in dem er nicht durch schlechte Leistungen auffällt): „Ich fühlte meinen ganzen jungen Körper wie ein aufgeregtes Tier… mein Körper war mein Abenteuer und mein Name“, heißt es in der „Porträt“-Erzählung „Die Pfirsiche“ über den Künstler als „jungen Dachs“.
Auch als er mit elf Jahren, Herbst 1925, in die A-Klasse der Grammar School für anglisierte Mittelklassebuben überwechselt, verweigert er sich formaler Ausbildung;seine wirkliche Schule, sagt er, ist „die Freiheit zu lesen, was immer mich bewegte“. Im Dezember 1925 veröffentlicht das Schulmagazin Dylans lustiges Gedicht über einen Hund, ein Jahr später verkauft er – weitgehend ein Plagiat der Lyrikerin Lillian Gard! – das Gedicht „His Requiem“ an die Zeitung Western Mail in Cardiff. Er hat viele Freunde, mit denen er oft durch den Park wildert (und sich immer wieder, auch später als Erwachsener, verletzt und Knochenbrüche zuzieht); sein bester Kamerad wird der musisch begabte Daniel Jones, der in der Erzählung „Der Kampf“ im „Jungen Dachs“ porträtiert ist. Mit dem zwei Jahre älteren Jungen schreibt er gemeinsam Gedichte, sie musizieren und denken sich Rundfunksendungen aus.
Er ist mit seinen Notebooks, seinen Übungsheften, allen verpatzten Examina zum Trotz auf dem Wege zum Dichter: konkretere Lexik, kräftigere Symbole, Naturrequisiten werden 1930 bis 1934 notiert; in dieser Zeit arbeitet er – sicher dank der Vermittlung durch den Vater – als Volontär bei der South Wales Daily Post (später Evening Post), die einen kleinen Stab von Allround-Journalisten beschäftigte. Lokalreporter Thomas untersucht gern sonderbare Todesfälle, er recherchiert zwischen Schauhaus, Kriminalamt und Kneipen in den Slums von Swansea, schreibt einen einfühlsamen Artikel über einen merkwürdigen Schauspielerdichter aus dem vergangenen Jahrhundert, Llwelyn Prichard, der zuviel trank, in seinem Bett verbrannte, „eine Figur, verloren in Lugen und Legenden“. Thomas faßt seine Wertschätzung über den Mann, dessen Vornamen er später seinem Sohn geben wird, aphoristisch und verständnisvoll zusammen: „Er verfehlte, groß zu sein, aber er verfehlte es mit Genie.“
Dylan lernt trinken und rauchen; die Jugend von Wales schätzt Bier als Ausdruck für Männlichkeit und Sicherheit. Der Siebzehnjährige bäumt sich in pubertärem Trotz gegen Provinzialismus und Herkunft auf, bekommt Ärger mit den Vorgesetzten: „Ich versuche nicht, meine egoistische Sorglosigkeit und Unpünktlichkeit zu entschuldigen…“, schreibt er rückblickend, „sie sind Alptraum und Humbug.“ Er lernt die ersten Frauen kennen, seine lebenslange Freundschaft mit dem damaligen Bankangestellten und späteren Publizisten Vernon Watkins beginnt; und Dylan spielt Theater in einer Amateurgruppe. In Noel Cowards Heuschnupfen agiert er, wie die Kritik formuliert, „mit einem explosiven Temperament und unordentlichen Manieren“.
1933 wird er „freischaffend“, das heißt arbeitslos. Er sucht einen Verlag für seine Lyrik und Epik, lernt den aktiv in der Labour Party für sozialistische Ziele kämpfenden Bert Trick kennen – sie diskutieren Urkommunismus und Marxismus −, soziale Töne klingen bei Thomas an im Bewußtsein des Elends der Weltwirtschaftskrise (von den 170.000 Walisern sind über 10.000 arbeitslos!). Klare, fast agitatorische Lyrik entsteht: Am 17. August 1933 vollendet Thomas seine Anklage gegen den Faschismus in Deutschland, „The Hand That Signed the Paper“ („Die Hand, die unterschrieb“); ein Vierteljahr zuvor war in der Londoner New English Weekly das berühmte Gedicht „And Death Shall Have No Dominion“ abgedruckt worden; Der Herald of Wales veröffentlicht die unter dem Eindruck einer „Elektra“-Freilichtaufführung entstandenen Verse „Greek Play in a Garden“. In einem Brief schreibt er: „Ich liebe es, meinen Vorstellungen zu widersprechen, zwei Dinge zugleich mit einem Wort zu sagen, vier in Zweien und eins in sechs.“ Sexuelle Symbole tauchen auf, von seinem Freund Trevor Hughes übernimmt er das Thema des Wahnsinns, Träume, Geister, Skelette werden zu lyrischen Requisiten. Die 1933 diagnostizierte Krebserkrankung des Vaters wird in dem Gedicht „Before I Knocked“ reflektiert; Sunday Referee und das Monatsjournal Adelphi veröffentlichen Arbeiten von Thomas. Er besucht erstmals einige Verleger in der englischen Hauptstadt.

London
Dylan will die Enge von Wales abschütteln und bleibt doch seiner Heimat, seinen Landsleuten mehr denn je verbunden; die britische Metropole ist eigentlich immer nur Transitstation, sie öffnet seinen Blick für das produktive Spannungsfeld von Lokalem und Globalem:

… zu viele Künstler in Wales verbringen zu viel Zeit mit Debatten über die Stellung des Künstlers in Wales. Es gibt nur eine Stellung für einen Künstler, ganz gleich wo: aufrecht.

Einflußreiche Lyriker wie Edith Sitwell, T.S. Eliot, Stephen Spender werden auf Thomas aufmerksam. Er selbst entdeckt für sich ein bedeutendes Dichtervorbild:

Die größte Beschreibung von unserer eigenen Irdischkeit, die ich kenne, ist in John Donnes ,Gebeten‘ zu finden.

Im Spannungsgefüge von Natur und Geist, Erde und All, Sinnlichkeit und Abstraktion bewegt sich mit hell-dunklen Kontrastbildern das Gedicht „Light breaks where no sun shines“; es bringt ihm Beschwerdebriefe prüder Leser wegen angeblich pornographischer Metaphorik, nachdem die fünf Strophen im März 1934 im Listener veröffentlicht wurden. Er lernt seine erste große Liebe kennen, die Schriftstellerin Pamela Hansford Johnson, die später den Romancier und Naturwissenschaftler Charles Percy Snow heiraten wird. Er fühlt sich ihr gegenüber oft unsicher, das Gleichnis von der kleinen Maus wird oft benutzt, Selbstzweifel an der sprachschöpferischen Potenz werden laut. „Da ist Marter in Wörtern, Marter, sie zu verbinden und zu buchstabieren in ihrem Schneckengang“, schreibt er an Pamela. Er sieht sich als „launenhaften Benutzer“ von Wörtern, nicht als Poet, und entdeckt, daß viel von der Obskurität in seinen Versen „auf rigorose Verdichtung“ zurückzuführen ist. Zeichen und Bezeichnetes wachsen in der lyrischen Sprache immer mehr zusammen, Visionen aus dem Kino und filmtechnische Überblendungen beeinflussen sein Idiom.
Thomas experimentiert, probiert aus, wie er leben und wie er dichten kann. Im November 1934 bezieht er gemeinsam mit dem Akrobaten Fred Janes ein halbmöbliertes Zimmer im Londoner Bohemeviertel Chelsea, lebt mit Freunden ein ungebärdiges, übermütiges Leben, versucht gewissermaßen, seine sieben Häute abzustoßen, um zur wahren Identität zu gelangen – wie später sein Romanheld Samuel Bennet in „Abenteuer in Sachen Haut“: Ein Bursche aus der Provinz bricht aus dem Elternhaus aus, fährt mit einem Pfund Sterling und der Adresse eines unbekannten Mädchens nach London und legt seine „Schalen“ ab.
Der 1941 begonnene, autobiographisch konzipierte Roman bleibt Fragment. „Mein Prosabuch ist, soweit ich mich erinnern kann, das einzige wirklich spontan herausgeschriebene meiner Werke“, teilt Thomas seinem Freund Vernon Watkins mit: „Es ist anstößig und trivial, zuweilen komisch, zuweilen rührselig, und immerzu schlecht geschrieben was mich allerdings nicht so sehr stört.“
Watkins lacht über diese Untertreibung, die ja nur einfach jene verschlüsselten, hermetischen Erzählstrukturen relativiert, die Dylans erste Prosaarbeiten kennzeichneten. Hier wurde – wie in der Geschichte „Der Baum“ – Synästhesie als Formmittel zur Dialektik dargestellten Lebens „an sich“ genutzt, und biblische Legenden liefern diesseitigem Existenzgefühl poetischen Hintergrund. Der Gärtner, der Idiot und das Kind sind nicht nur beobachtete Alltagsgestalten, sondern zugleich Allegorien zwischen Unschuld und Verrücktheit. Die Liebe im Garten Eden und das Motiv des Wahnsinns spielen auch in der Erzählung „Die Frau und die Maus“ eine Rolle. Naturprozesse als Pendant zur Geschichte, Ontogenese contra Phylogenese bewegen die epische Blickrichtung, Geburt und Tod sind vielschichtig reflektiert „In der Richtung zum Anfang hin“, und die Erzählung „Die Zitrone“ war sozusagen Komplementärprosa: „Das war das Kommen des Todes in der Innenwelt.“ Ruhe und Unrast stehen nebeneinander; in „Das Kleid“ wird die wahnsinnige Geschichte eines Flüchtlings, eine Verfolgungsjagd erzählt aus der Sehnsucht nach Stille und Geborgenheit. Der Schlaf erscheint als Mädchen, das sein Kleid opfert, damit sich der Gejagte darauf ausstrecken kann. Auf solche Symbolismen und Überhöhungen verzichtet Dylan Thomas, wenn er Samuel Bennets (also seine eigenen) Londoner Jugendjahre skizziert. Er selbst, hält die „Abenteuer in Sachen Haut“ für eine „Mischung aus Oliver Twist, Little Dorrit, Kafka, Beachcomber und gutem altem 3-Adjektiv-pro-Pfennig magenschüttelndem Thomas, dem Rimbaud aus der Cwmdonkin Drive.“
Im Gegensatz zur wortkoppelnden, synthetischen Arbeitsweise bei der Lyrik schreibt er Prosa erst einmal sehr schnell herunter und korrigiert dann in analytischem Arbeitsgang das Notierte gründlich. Schwerwiegende Zeitereignisse wie die Bombardierungen Londons, die er in Versen zu bewältigen sucht, lassen ihn die „leichte“ Arbeit am Roman abbrechen, zumal er Mißtrauen gegen die eigene „Plauderei“ hegt: „Er war fähig, aus reinem Vergnügen heraus die Wirklichkeit seiner Kindheit wiedererstehen zu lassen, sowohl in seinen Gedichten als auch in seinen Rundfunktexten, denn diese Erfahrungen waren realer Natur; was indessen nur halb Wirklichkeit, halb Fiktion war, mußte er aufgeben“, schlußfolgert Watkins und nimmt die „Abenteuer…“, als ein „Beispiel für sein Desinteresse am Ruhm, seine Weigerung, der Vorhut seines Ruhms Folge zu leisten“.
London und die Suche nach einem Broterwerb sind ihm ein Streß, dem er sich immer wieder entzieht. Schon Weihnachten 1934 ist er wieder in Swansea und verteilt freudig Belegexemplare der soeben erschienenen 18 Gedichte. Von den Kneipentouren durch Soho erholt er sich in Wales, er verbringt Sommerferien in Irland; intensive Schaffensphasen wechseln mit Bummeltagen ab, die ihm oft selbst öde erscheinen: „Jemand langweilt mich. Ich glaube, das bin ich.“ Dabei ist er von Natur aus amüsant und gesellig, erzählt Anekdoten, so wie über ihn Anekdoten verbreitet werden. Am Biertisch schüttelt er Limericks aus dem Ärmel, die frivol und lästerlich sind:

There was an old bugger called God
Who put a young virgin in pod
aaaaaThis amazing behaviour
aaaaaProduced Christ our saviour
Who died on a cross poor old sod.

Er ist der Bohemien mit dem schlechten Gewissen, der volkstümlich leben und volksverbunden schreiben will. Nicht zuletzt unter dem Einfluß seiner Bekanntschaft mit dem marxistischen Historiker A.L. Morton und Mitarbeiterndes von der Kommunistischen Partei herausgegebenen Daily Worker beschäftigen ihn Fragen der Weltrevolution. Zugleich aber erscheint ihm Parteiarbeit und dichterisches Schaffen nicht vereinbar:

Man kann nicht Wahrhaftig sein zur Partei und zur Poesie – eins muß darunter leiden. Und historisch gesehen, ist Poesie die soziale und ökonomische Überzeugung, die fortdauert.

Er fühlt sich seltsam frei und unfrei gleichermaßen, als er sich zu Wyn Henderson nach Cornwall zurückzieht, um an der Fertigstellung seines zweiten Gedichtbandes zu arbeiten. Die 25 Gedichte erscheinen in einer Auflage von 1500 Exemplaren, bringen ihm ein Honorar von 58 Pfund, vor allem aber große Beachtung. Edith Sitwell rezensiert in der Sunday Times vom 15. November 1936 das neue Buch enthusiastisch und würdigt die „intensive Konzentration jeder Äußerung“. Die Rundfunkgesellschaft BBC meldet sich, seine erste Sendung Life und the modern poet geht über den Äther. Kurz danach muß er mit Laryngitis und Schwächezuständen ins Hospital. Er schreibt sehnsuchtsvolle Briefe an jenes lebenslustige, wilde, „verdorbene Mädchen“, das er in einer Londoner Gaststätte kennengelernt hat: Caitlin Macnamara. Die Tochter irischer protestantischer EItern, ein Jahr älter als Dylan, war Chorsängerin im Varieté Palladium. Thomas borgt sich Geld für die Heiratslizenz, am 11. Juli 1937 werden beide in Cornwall getraut. Er geht mit seiner Frau nach Wales zurück.

Laugharne
Den Ort, der ihn so heftig anzieht, hatte er wahrscheinlich zum ersten Male 1934 besucht, zusammen mit dem Lehrer Glyn Jones aus Cardiff. Drei Flüsse münden bei Laugharne in die Carmarthen-Bay; bis hierher ist die Industrialisierung nicht vorgeschritten, Fischer und Bauern leben „in dieser zeitlosen, schönen, verrückten, verzückten Stadt…, in diesem fernen, siebenschläfernden, wichtigen Ort mit seinen Reihern, Kormoranen (die hier Entenböcke heißen), mit seinem Schloß, mit seinem Friedhof, seinen Seemöwen, Skandalen, Kirschbäumen, Geheimnissen, Dohlen in den Schornsteinen, Fledermäusen in den Oberstübchen der Türme; Skeletten in den Schränken, Wirtshäusern, Schlammkuhlen, Muscheln, Flundern und Brachvögeln, mit seinem Regen und seinen menschlichen und oft allzu menschlichen Geschöpfen.“
Dylan findet innere Ruhe hier, er arbeitet intensiv in den schäbigen, unkomfortablen Häuschen „Sea View“; viele Geschichten entstehen, darunter „Ein Blick aufs Meer“, Gedichte werden überarbeitet, die autobiographischen Kindheitserzählungen für den Band Porträt des Künstlers als junger Dachs werden zügig begonnen. Er sieht, daß eine nur-künstlerische, ja künstliche Umgebung seinem Schaffen nicht dienlich war; erst hier in Laugharne herrscht „kluge Verachtung für alle Eile“. Das Dorf wird beneidet „um seine Großzügigkeit, mit der es die Narrheiten anderer hinnimmt, weil es doch selbst schon so viele reife laut pfeifende Narrheiten hat… , um seine Inselfederbettatmosphäre, um seine Philosophie, daß in Hundert Jahren ohnehin alles eins sein wird.“
„Cry Joy – verkünde Freude“, lautet nun Thomas’ künstlerischer Ruf, der zuweilen verzweifelt klingt. Das Weltgeschehen macht vor Laugharne nicht halt, die politischen Ereignisse in Europa beunruhigen den Dichter; er sammelt Beiträge für einen großen Artikel, „Objection to War“, gegen die Aggressivität des Faschismus, gegen die beginnenden Nazi-Okktipationen. Die persönlichen Sorgen wachsen: Caitlin kann nicht sparen, das Haushaltsbudget ist in ständig desolatem Zustand. Dylan sucht im „Alptraum London“, in den „schäbigen Salons“ Gönner und Geldgeber: „Mit meinen roten Adern drin Geld läuft im Kreise / Nehme ich zur Urstadt den endlichen Weg / Und gehe vor solange das Immer dauert“, notiert er in Laugharne anläßlich seines 24. Geburtstages.
Sohn Llewelyn wird am 30. Januar 1939 geboren. Der Band The Map of Love („Landkarte der Liebe“) mit 16 Gedichten und 7 Storys wird zusammengestellt, findet aber beim Erscheinen im August 1939 nur geringe Resonanz, ebenso das im April 1940 gedruckte Porträt des Künstlers als junger Dachs. Thomas fährt zwischen London und Laugharne hin und her, versucht, zusammen mit John Davenport, einen Roman zu schreiben (Fragmente werden 1976 veröffentlicht); er unternimmt gemeinsame Reisen mit Caitlin und versucht, innerer Zerrissenheit Herr zu werden.

Ich habe ein Biest, einen Engel und einen Wahnsinnigen in mir, und meine Erkundung läuft auf ihr Wirken hinaus, und mein Problem ist ihr Unterwerfen und ihr Sieg, Absinken und Aufsteigen, und mein Bestreben ist ihr Selbstausdruck.

Luftangriffe der Nazis auf Südengland beginnen, Angst vor einer Invasion der faschistischen Wehrmacht bildet den Hintergrund des Gedichtes „Tod und Tore“, das den Titel für die vierte Lyrikauswahl stellt, die, dann nach dem Kriege, 1946, erscheinen wird. Wegen Asthma und schlechter körperlicher Gesamtverfassung wird Dylan vom Militärdienst zurückgestellt. In drei Februarnächten 1941 wird Swansea von den Faschisten in Schutt und Asche gebombt; Thomas versucht, Kraft und lyrische Haltung nicht zu verlieren: „Among Those Killed in the Dawn“ („Unter denen, die fielen beim Angriff“) wird geschrieben, während auf „Londons Altar“ wiederum unschuldige Menschen sterben:

Dein sterbendes
Weinen
Beweinend
Kind jenseits des Hahnenrufs an der feuerverkohlten
Straße singen wir das fliegende Meer
Im verlassenen Leibe.
Liebe ist Verkündung des jüngsten Tages. O
Same der Söhne in der Lende der schwarzgebrannten Hülle.

Wie hier in „Ceremony After a Fire Raid“ („Messe nach einem Feuersturm“) wird das Thema Tod und Geburt jetzt ein zeitgebundenes, aktuelles.
Es gelingt Thomas in diesen Kriegstagen immer weniger, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zusammenzukriegen. Er verkauft vier Notebooks für wenig Geld, Kollegen wie Henry Moore und Herbert Read unterstützen ihn finanziell, briefliche Hilferufe sind keine Seltenheit:

Heute hatten wir Wasserrohrbruch, und Caitlin rannte, einen Männerhut auf dem Kopf, den ganzen Tag mit dem Schrubber vom WC zum überfluteten Wohnzimmer, während ich dasaß und versuchte, ein Gedicht über einen Mann zu schreiben, der mit einer Frau Köder fischte und eine schreckliche Kollektion einfing.

Die 216 Verse umfassende „Ballade vom langbeinigen Köder“, 1941 vollendet, hebt Arbeitsvorgänge eines Fischers hinauf zu einem umfassenden Lebensbild im Kreislauf der Natur, in Hingabe und Widerstreit von Land, Himmel, von Leben, Liebe und Sterben. Thomas nutzt gleichsam filmische Überblendungen, Rück- und Vorausschau, konzipiert die Strophen wie Einstellungen zu einem Dokumentarstreifen.
In den letzten drei Kriegsjahren arbeitet er, einem Angebot der Strand Film Company folgend, tatsächlich als Drehbuchautor für eine Wochengage von zehn Pfund. Die antifaschistische Filmdokumentation Our Country wird zum erfolgreichsten der über zehn Streifen, an denen er mitwirkt. Eine bleibende Leistung ist das Drehbuch zu dem – nicht realisierten – Spielfilm Der Doktor und die Teufel, das nach dem Krieg als Szenarium und in einer Theaterfassung gedruckt wird. Im Auftrag des Produzenten Donald Taylor behandelt Thomas – wie schon 1930 James Bridie in dem Stück Der Anatom – den Fall des Arztes Dr. Robert Knox. Der besessene Mediziner hatte dem Hauswirt William Hare und dessen Kumpan Burke sieben Pfund und zehn Schilling für den Leichnam Hingerichteter gezahlt, um seine wissenschaftlichen Studien und Experimente im Interesse der Heilkunst durchführen zu können. Die beiden düsteren Gesellen aber wurden zu Leichenräubern und Mördern; mindestens fünfzehn arme Logisgäste wurden von ihnen umgebracht. Im Prozeß ging Hare als Kronzeuge frei aus, Burke wurde 1829 gehenkt. Es gab Krawalle und versteckte Feindschaften gegen Knox (im Szenarium heißt er Thomas Rock), aber es wird kein Verfahren gegen ihn eingeleitet, „um den Namen der guten Gesellschaft zu retten“.
Hier sieht Dylan Thomas sein Thema: die sterile Heiligkeit bürgerlicher Normen, die Schädlichkeit neuerungsfeindlicher Konventionen, das mutige Eintreten gegen fortschrittshemmende Zwänge. Dieses Anliegen trifft sich mit der antibourgeoisen Lebenshaltung des Autors, der als „skrupelloser Entrepreneur“, wie ihn seine Frau Caitlin einmal genannt hat, auf, den vornehmen und gespreizten Grund gutbürgerlicher Heuchelei „scheißt“ (und das nicht nur bildlich!). Die Londorrer Affären des Bürgerschrecks aus Wales sind sprichwörtlich, er wird geschätzt ob seiner witzigen Konversation, gefürchtet wegen seiner wüsten Eskapaden und seines unbarmherzigen Sarkasmus. Dem Filmemacher Ivan Moffat erklärt er einmal: „Ich trinke, um das Ungleichgewicht zwischen der Unordnung außen und der Ordnung in mir selbst auszubalancieren.“ Ist Wales das schöpferische Refugium des Lyrikers, so trifft man in London einen literarischen „Tagelöhner“ in wildem, lustiggrimmigem Zustand an, „aufgebläht durch Schlaflosigkeit, Nervosität, Langeweile, schlechtes Essen und generell miesen Gesundheitszustand“, sagt der amerikanische Dramatiker und Romancier William Saroyan. Aber hinter der ungebärdigen, mitunter selbstzerstörerisch scheinenden Attitüde liegt eine höhere Moral, die Dr. Rock im Szenarium ausspricht:

Denken heißt demnach, ein gefährliches Land betreten, das einem einen kälteren Empfang bereitet als die arktischen Wüsteneien; ein Land, noch schwärzer als ein Sonntag in Schottland; ein Land, in dem Nichtdenkende ständig die Hand gegen einen erheben und in dem die berüchtigten wilden fleischfressenden Raubtiere Neid, Heuchelei und Tradition lauern. Ein Land, in dem Schmarotzer herrschen! Denken ist gefährlich. Die Mehrheit der Menschen hat es vorgezogen, sich geschmeidig einen Weg in die Reihen der Beamtenschaft zu bahnen oder sich in die formlosen Massen derer fallen zu lassen, die einfach regiert werden. Ich aber bitte Sie alle: Weihen Sie Ihr Leben der Gefahr! Ich fordere Sie auf, Abenteuer zu bestehen! Ich erteile Ihnen den Auftrag, zu experimentieren!… Denken Sie daran, daß die Praxis der Anatomie absolut lebenswichtig für den Fortschritt der Medizin ist. Denken Sie daran, daß der Fortschritt der Medizin lebenswichtig für den Fortschritt der Menschheit ist. Und die Menschheit ist es wert, für sie zu kämpfen…

Thomas kämpft auf seine Weise: In BBC-Beiträgen setzt er sein Konzept der Freundlchkeit als Appell an menschliches Gewissen in schlimmen Kriegszeiten durch: „Erinnerungen an die Kindheit“, „Ganz früh eines Morgens“, „Weihnachtserinnerungen“ werden gesendet. Die Suche nach Sicherheit und Geborgenheit, wie er sie in der Kindheit empfand, formt sich in dieser Zeit zum lyrischen Anliegen: In Wales kann er seinen 30. Geburtstag „verstaunen“; das „Gedicht im Oktober“, an dem er von 1941 bis 1944 gearbeitet hat, wird sozusagen die Vorübung für das große Spiel für Stimmen Under Milk Wood; so wie im Poem die Jahreszeiten in Laugharne beschrieben werden, umreißt er später in der funkdramatischen Prosadichtung einen Tagesablauf in der geliebten (und manchmal gehaßten) Stadt.

Das waren die Wälder der Fluß und die See
Wo ein Knabe
Im horchenden
Sommer der Toten, die Wahrheit von seiner Freude sagte
Flüsternd den Bäumen und Steinen und Fischen in der Flut.

Ein anrührender Wunsch, eine hoffnungsvolle Bitte ist ausgesprochen:

O daß meines Herzens Wahrheit
Gesungen werden mag
Auf diesem hohen Hügel auch noch in einem Jahr.

Gegen die Anarchie des Krieges wird ein pantheistischer Gott der Erlösung gesetzt, er gewinnt in Dylans Todesahnungen Raum. Im März 1945 beschießt ein englischer Frontoffizier die Hütte in Westwales, in der auch Caitlin, Llewelyn und die zweijährige Tochter Aeron vorübergehend wohnen. Alle kommen mit dem Schrecken davon, aber die Angstzustände bleiben. Der Gesundheitszustand des Dichters verschlechtert sich, doch er meidet den Arztbesuch, wo er nur kann. Als sein auch in den USA beachteter Lyrikband Tode und Tore 1946 erscheint, liegt er mit akuter Gastritis im Hospital. Bei den befreundeten Taylors in Oxford, dann auf einer neuerlichen Irlandreise erholt sich Dylan, während die Fahrt nach Italien im April 1947 nur Unruhe, Langeweile und Heimweh einbringt. Das an ein Kind adressierte Gedicht „In Country Sleep“ führt die Gestalt des Diebes als Inkarnation der Eifersucht, der Trunksucht, jeglicher Abhängigkeit und allen Vertrauensverlustes ein.
Trotz steigender Einkünfte gibt es im turbulenten Familienleben der Thomas’ immer wieder finanzielle Probleme; Dylan gibt mehr Geld aus, als er hat. Die Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Richard Burton; dem Komponisten William Walton, dem Lyriker Louis MacNeice bleibt unergiebig. Ohne rechten Erfolg wendet er sich an den berühmten Schriftstellerkollegen Graham Greene um Rat bei der Weiterführung des Romanfragments Abenteuer in Sachen Haut. Völlig neue Eindrücke bringt die Reise nach Prag 1949 auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes (dieser Besuch in der Zeit des kalten Krieges wird ihm noch Ärger mit der MacCarthy-Administration in den USA einbringen).
Endlich im Mai 1949 wird die Familie versuchsweise „seßhaft“: Margaret Taylor kauft für die Freunde das Boat House in Laugharne für 2500 Pfund. Billige Möbel, zwei alte Fahrräder, ausreichend Kleidung sind vorhanden. Die hölzerne Veranda und der Fahrradschuppen, in dem Dylan vorwiegend arbeitet, erlauben den Blick auf die Klippen und das Meer. „Dichter sind nicht geboren, um Großverdiener zu werden“, kommentiert Biograph Ferris an dieser Stelle. Er hat recht: Caitlin und ihr Mann sperren sich gegen Establishment und Konsumdenken, gegen Technokratie und die perfekte Automatisierung des Menschlichen. (Wenige Gegenstände aus dem 20. Jahrhundert haben in Dylans Lyrik Platz.) Wesentliche Gedichte werden im Boat House vollendet; die wichtigsten Passagen von Under Milk Wood entstehen hier, während Funk- und Fernsehbearbeitungen (nach Stücken von Euripides, Wycherley, Ibsen) liegenbleiben. Am 24. Juli 1949 wird das dritte Kind, der Sohn Colm, geboren. Differenzen mit dem Finanzamt bereiten den Eltern schlaflose Nächte; ein Angebot des Direktors vom Poetry Centre in New York, John Malcolm Brinnin, verspricht pekuniäre Rettung.

Nordamerika
Am 20. Februar 1950 fliegt Thomas zum ersten Male in die Vereinigten Staaten. Spektakuläre Auftritte folgen, wesentlichen Nachhall aber haben seine faszinierenden Lesungen sowohl eigener als auch klassischer und zeitgenössischer Dichtung. Er läßt Lyrik sprechen, statt über sie und sich zu diskutieren:

Ich habe so viel geschrieben und so viel erzählt, in den Äther und in blauen Dunst, von meiner öden und doch prallen Kindheit und meiner Jugend in der turbulenten Depressionszeit, daß sie mir manchmal wie die Kindheit und Jugend von einem ganz anderen geworden sind.

Er versucht zu objektivieren, wiewohl er hin und wieder sein Publikum oder diverse Partygäste in New York und an der Harvard-Universität in Boston, in Massachusetts und Ohio, Iowa und Illinois, Indiana und auch in Vancouver zu schockieren genießt. Kein Wunder, denn er trifft Leute, die „mit Netz, Notizbuch, Giftflaschen, Nadel und Etikett auf den Schmetterling Kultur Jagd machen“.
Er spottet, über die Unfruchtbarkeit der Vortragsreisen durch God’s Own Country, die er für ein „liebes zu Kopfe steigendes Abendbrot“ durchführt:

Da fahren sie hin, jedes Frühjahr, von New York nach Los Angeles: Exhibitionisten, theatralische Publizisten, Polemiker, theologische Rhetoriker, historische Wichtigtuer, Ballettomanen, Weltinnenraumarchitekten, Windbeutel, große Tiere und Schwindler… wetterneidische Philosophen, berufsmäßige Iren (sehr geistergeschichtlich) und leider auch dicke Dichter mit dünnen Gedichtbänden.

Mehrfach spottet und klagt er darüber, daß er als Lyriker künftig erledigt sei, daß seine Schaffenskraft erlahmt ist. Dennoch: Begegnungen mit Charlie Chaplin in Hollywood, mit dem Lyriker Robert Lowell, dem Erzähler Christopher Isherwood geben Impulse. Aber sein Gesundheitszustand verschlechtert sich, er kämpft gegen Depressionen an:

Ich möchte Gedichte vom Glücklichsein schreiben. Nicht, bloß Gedichte über das kleine Glücklichsein, das man im Alltagsleben mit anderen Menschen erfährt, sondern über den umfassenden Zustand universalen Glücklichseins, den die Menschheit erreichen kann…

Bei der Rückkehr nach Laugharne verfolgt ihn die Einkommenssteuer, aber er hat seine Honorare schneller ausgegeben, als er sie eingenommen hat. Caitlin ist zunehmend verbittert, schweren Auseinandersetzungen – oft sind beide betrunken – folgen wieder Zärtlichkeiten und Verständnis. Eine Ehekrise ist erreicht, als Dylan mit einer amerikanischen Freundin Urlaub in Brighton macht. Für einen Film der Green Park Gesellschaft fliegt er in den Iran, hat aber keine Lust, die Anglo-Iranische Ölcompany auftragsgemäß zu verherrlichen, und schreibt statt dessen über die Armut der persischen Bevölkerung. Erstmals liest er auch am Swansea College; der „zornige junge“ Romancier Kingsley Amis beschreibt sein Auftreten als „überflüssige Scharlatanerie eines Genies“. „Poem on His Birthday“ und der „Prolog“ für die Collected Poems werden die letzten vollendeten lyrischen Zeugnisse. Ende 1951 lebt er für kurze Zeit im Londoner Arbeiterviertel Camden Town, bevor er am 20. Januar 1952, diesmal mit Caitlin, wieder nach Amerika reist.
Aber trotz des Erfolges, den, die 90 Gesammelten Gedichte in diesem Jahr haben – Spender rezensiert das Buch überschwenglich – wird Dylan immer häufiger von Hoffnungslosigkeit befallen: Er vermag kaum das Schulgeld für Llewelyn aufzubringen; die Kinder sind oft krank, Caitlin ist wieder schwanger; die unzulänglichen Wohnverhältnisse – immer wieder gibt es Rohrbrüche – machen ihm zu schaffen. Seine Atemnot wird schlimmer, Gicht stellt sich ein. Der Vater stirbt am 16. Dezember 1952; als vier Monate später seine Schwester Nancy ihrem Krebsleiden erliegt, befindet er sich gerade wieder auf der Überfahrt nach New York, die Bühnenuraufführung von Under Milk Wood vorzubereiten. Die Premiere am 14. Mai 1953 im Lesetheater des Poetry Centre wird ein überragender Erfolg, aber die Mitwirkung in den Vorstellungen und weitere Lesungen kosten ihn ungeheure Kraftanstrengungen. Im Juni kehrt er nach London und Laugharne zurück, ständige Kopfschmerzen plagen ihn, er schreibt über das internationale Eisteddfod im nordwalisischen Llangollen; außerdem zwei Funkbeiträge, liest im Fernsehen. Doch der Verlust der lyrischen Potenzen – die „Elegy“ über den Tod des Vaters wird nicht beendet werden – bedeuten ihm auch Verlust des inneren, des seelischen Zentrums. Er spricht von Caitlin als seiner Witwe, ihm fehlt jegliche Kraft, sich um sich selbst zu kümmern: „Ich habe die Tore der Hölle gesehen.“
Am 19. Oktober 1953 fährt er zum vierten Male in die Staaten, nimmt mit dem Dramatiker Arthur Miller an einer Diskussion über Poesie und Film teil. Aber sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide, er leidet an Halluzinationen. Er trinkt und schläft nur noch; nach einer Morphiuminjektion, die ihm sein Arzt Dr. Feltenstein verabreicht… fällt er ins Koma. Viereinhalb Tage später stirbt er im New-Yorker St. Vincent’s Hospital am 9. November 1953. Der ärztliche Befund nennt als Todesursachen hypostatische Bronchopneumonie, akuten und chronischen Äthylismus und ein zerebrales Ödem.
Um seinen frühen Tod ranken sich Legenden und Gerüchte. Freunde in aller Welt trauern um ihn. Igor Strawinsky, der mit Dylan gemeinsam an einer Oper nach Homers Odyssee arbeiten wollte, schreibt eine Kantate in memoriam. Am 24. November wird der Dichter in Laugharne beigesetzt, die Kneipen des Städtchens haben an diesem Tag rund um die Uhr geöffnet, Manuskripte und signierte Bücher werden aus dem Boat House gestohlen. Zwanzig Jahre lang werden viele persönliche Gegenstände Thomas’ verhökert, erst in den siebziger Jahren ist das Häuschen als Museum eingerichtet. Die literarischen Nachlaßverwalter erzielen wachsende Summen, Under Milk Wood und Collected Poems werden Bestseller, im Februar 1952 aufgenommene Schallplatten bringen den beiden Produzentinnen Millionengewinne. Sekundärliteratur über sein Werk wird in Hülle und Fülle geschrieben, Sydney Michaels verfaßt 1964 sein erfolgreiches Theaterstück Dylan, ein gleichnamiger Roman von John Summers erscheint 1970. Biographien und Erinnerungsbücher, unzählige Zeitungsartikel werden veröffentlicht, Briefe ediert, Caitlin Thomas schreibt zwei Bücher, der Protestsänger und Popmusiker Robert Zimmerman nennt sich aus Verehrung Bob Dylan.
Auf dem schlichten Gedenkstein im Cwmdonkin Park von Swansea stehen die letzten drei Verse aus jenem Gedicht, das Dylan von seinen eigenen Werken am meisten schätzte, aus „Fern Hill“:

Ach, als ich jung war und leicht im Schnittpunkt der Gnade,
Wiegte die Zeit mich grün und ersterbend,
Ob in Ketten ich sang wie die See.

Fern Hill
„Ein gutes Gedicht ist ein Beitrag für die Wirklichkeit“, sagt Thomas. Er schreibt in der unmittelbaren Erfahrung, in der unmittelbaren Umgebung. Und Fern Hill, die Farm auf den Hügeln, über bewaldeten Tälern, mit ein paar Kühen, Schweinen, Hühnern – das ist seine Realität, der Ort, den er wie Laugharne liebt und det Schauplatz unschuldiger Harmonie, Landschaft des Glücklichseins bedeutet. In Carmarthenshire, am „Ende des Tales“ in Blaen Cwm, entstanden seine besten Verse. In der Geschichte von den „Pfirsichen“ sind im Porträt des Künstlers die vielen Besuche bei Onkel und Tante auf der Farm zu einem einzigen heiteren Aufenthalt auf Erden komprimiert, trotz oder gerade wegen der sozialen Kontraste, die angeschlagen werden. Der „stupsnasige Geschichtenerzähler, verirrt in den eigenen Abenteuern und voll Heimweh nach dem vertrauten Zuhause“ fährt mit seinem versoffenen Onkel Jim in das armselige, schmutzige und doch schöne Bauerngut ein, vollführt Streiche und Raufereien mit seinem lästerlich predigenden Vetter Gwilym, begegnet „vornehmem“ Besuch aus Swansea. Einer Fregatte gleich rauscht Mrs. Williams samt Söhnchen Jack per Automobil ein, und während Hausfrau Annie urkomisch mit den Tücken der Objekte in der „Guten Stube“ kämpft, sitzt die wohlhabende Dame wie ein Fremdkörper vom anderen Stern in der Teerunde, ihre Aversion“ gegen die Pfirsiche artikulierend, die doch Gwilym und seinem kleinen Cousin höchste Köstlichkeit bedeuten. Chronologisch erzählt, von kindhaften Vorstellungen und Märchenvisionen unterbrochen, ist die Story von Fern Hill von trotzigem Optimismus beseelt: „Ich war jung und laut und am Leben“.
Tante Anni liebte und umsorgte den kleinen Dylan, er wird das nie vergessen; noch bei seinem letzten Besuch in Fern Hill im Sommer 1953 wird er in Begleitung seiner Mutter, mit Caitlin und seinem amerikanischen Agenten Brinnin, von der Geborgenheit schwärmen, in der er hier viele Kindheitstage verbringen durfte. „Gabs eine Zeit als Tänzer mit ihren Geigen / Kinder in Zirkussen aufschieben konnten die Sorgen?“ lautet die bejahte Frage beim Tod der Tante 1933. Ihrer Beerdigung ist das Gedicht „Nach dem Begräbnis“ gewidmet:

Und die gemeißelte Ann ist ein Jahrsiebzig aus Stein.
Diese in Wolken getauchten marmornen Hände, dies monumentale
Argument aus gehauener Stimme, Geste und Psalm,
Das bestürmt mich immerzu über ihrem Grabe bis einst
Die ausgestopfte Lunge des Fuchses zuckt und ruft: Liebe
Und der stolzierende Farn legt Samen aufs schwarze Gesims.

Frauen wie Ann Jones, wie Qnkel Marlais und Vater David John tragen Wesensmerkmale, die in den volkstümlichen Figuren der Erzählungen und vor allem als Stimmen der einfachen Leute in Under Milk Wood wiederkehren. Der Tagesablauf im fiktiven „Llaregub“, das ist der erinnerte Alltag von Fern Hill und Laugharne in einem. „Unser Milchwald ist nur ein winziger Hain“, heißt es im schlichten Lied der Heimatliebe bei Ehrwürden Eli Jenkins, der gleichsam als moralisches Zentrum im Hörspiel gelten kann und also berechtigt ist, die Chronik von Llaregub zu schreiben. In diesem Weißen Buch sind sie verewigt: die tapferen kleinen Leute, an deren Hoffnungen noch immer die Welt gemessen werden wird, wenn die Großen und Mächtigen dieser Erde längst ausgespielt haben. Da ist das fröhliche Figurenpanorama der Briefträger, Fischer, Kinder und Dienstmägde; Ocky Milchmann macht seine Runde; Cherry Owen hat noch einen Kater vom Suff am Vorabend, aber seine Frau hat den nüchternen wie den betrunkenen Mann lieb; die Herzensgeschichte der Damenschneiderin Miss Price mit dem liebestollen Mr. Mag Edwards wird erzählt, freundlicher Nachbarinnenklatsch begleitet die kleinen großen Ereignisse; beim Metzger Beynon gibt’s ein lustiges Frühstück, die Lehrerin „vom Löffel des Frühlings gerührt Unterrichtet ihre Kuddelschmuddelklasse“; der Wald wird zur Stätte von Schuld und Unschuld, Liebe und Sünde und Keuschheit, ist „Bethaus voller Brautbetten“, und über allem liegt wie beim Eisteddfod, dem großen alljährlichen Sängerkrieg der Barden von Wales, die unverwüstliche Musik. „Gott sei Lob und Dank! Wir sind eine musikalische Nation.“ Die macht selbst Ertrunkene wieder lebendig und Blinde sehend: „Über dem Milchwald ist die Sphärenmusik deutlich vernehmbar.“
Das einmalige Funkfeature ist von eigenständiger Art, ohne literarische Vorbilder, eine Feier des Lebens, das Dylan Thomas gelebt hat. Ein „Dichter ist nur ein witziges Bißchen seines Daseins ein Dichter; im großen übrigen ist, er ein menschliches Wesen, einer, dessen Verantwortlichkeit es ist, soviel er kann zu wissen und zu fühlen, was sich alles um ihn und in ihm bewegt, so daß seine Poesie, wenn er sie niederschreibt, sein Versuch sein kann, den Gipfelpunkt der Menschenerfahrung auf dieser wunderlichen und – gerade 1946 dieser sichtbar höllengebeugten – Erde auszudrücken.“ Aus solcher Verantwortung heraus unterschreibt Thomas den Stockholmer Friedensappell, setzt er sich für die Rettung von Ethel und Julius Rosenberg ein, arbeitet er mit Marxisten wie Jack Lindsay zusammen. Es ist die Zugehörigkeit zu den „Unteren“ in der sozialen Hierarchie, die Leben und Werk des Dylan Thomas beherrscht, „triumphierend in der Erkenntnis, daß die Leiderfahrung des Individuums Solidarität werden kann, sobald die unverlogen mitgeteilten Erfahrungsmuster sprachliche Wirklichkeit geworden sind“, analysiert der Anglist Horst Meller.
Wohl aus diesem inhaltlichen Grunde sind die Verse des Walisers „zugleich moderne Lyrik geblieben und klassisch geworden“; wie einer der besten Kenner und Nachdichter, der Österreicher Erich Fried, schreibt:

Auch Dylan Thomas selbst ist für das englische Volk heute so sehr Bild und Legende des Dichters an sich wie vielleicht ein Jahrhundert vor seiner Zeit Byron und Shelley, seither aber kein englischer Dichter.
Es ist schwer, die Eigenart der Verse von Dylan Thomas nicht ihren Zauber zu nennen. Das sonst abgebrauchte Wort trifft hier zu. Das Ineinander zu kunstvollem Versbau, Assonanzen, Reimen, Halbreimen und assoziativen Querverbindungen ähnlich klingender Worte hat etwas vom Surrealismus und etwas von alten lyrischen und hymnischen Traditionen der engeren walisischen Heimat des Dichters. Es wendet sich nicht nur ans Bewußtsein, sondern sucht durch unterschwellige Querstollen und Obertöne gleichzeitig kurze Wege zum Unbewußten.
Eine solche Technik, öfters angewendet, könnte leicht zur bloßen Manier werden. Bei Thomas aber entspringt sie der Erkenntnis, daß sein eigenes Denken und seine Phantasie wirklich mit solchen Querverbindungen arbeiten. So ist das Wortspiel und das besonders charakteristische Kunstmittel, dichterische Bilder und Symbole ineinanderzuschieben wie die Rohre eines Teleskops (das tatsächlich auch von der englischen Literaturkritik als ,telescoping of images‘ bezeichnet wurde), für Dylan Thomas zur Möglichkeit geworden, durch neue, teils alogische Querverbindungen eine Intensitätssteigerung zu erzielen, die nicht darauf aus ist, dem Instrumentarium dichterischer Ausdrucksmittel einige besonders wirksame Kniffe hinzuzufügen, sondern die Intensität und Verzahntheit der eigenen Phantasie durch Entsprechungen in den Worten wiedergeben will.

Die Spezifik der Mittel resultiert aus dem Vergnügen an einem Widerspruchsvollen Dasein, dem keine Leichtfertigkeit zugrunde liegt, sondern dessen Lichtpunkte einer wachsenden Verdüsterung hartnäckig abgetrotzt sind. Der Literaturwissenschaftier Michael Hamburger hat dieses Ringen in fünf Sätzen treffend und trefflich umrissen:

Man hat es als einen Widerspruch empfunden, daß Dylan Thomas ein überaus lebensfroher und zugleich ein tragischer Dichter gewesen ist: Er fürchtete zwar den Tod, aber mehr noch fürchtete er den Tod im Leben, ein Leben ohne Leidenschaft. Äußerste Freude setzt sich jedoch auch äußerster Gefahr aus; sie wagt das bedingungslose Leben, und eben das grenzt an den Tod. Dylan Thomas kannte dieses unabänderbare Gesetz, und er hat das Risiko des frühen eigenen Todes auf sich genommen, um das Lebendige preisen zu könen. Wie kein anderer Dichter unserer Zeit hat er die Gesetz in seinem Leben und in seiner Lyrik verwirklicht.

Bernhard Scheller, April 1982

 

Der walisische Dichter

brachte Neues in die britische Lyrik ein: Surrealismus und symbolische Elemente, traditionelle Einflüsse der alten Verskunst seiner Heimat und die bitteren und freudvollen Erfahrungen eines Menschen dieses Jahrhunderts verdichten sich in seinem Werk. Der vorliegende Band enthält neben ausgewählter Lyrik und der Gedichtsammlung Tode und Tore Prosatexte: Erinnerungen, Geschichten, Abenteuer sowie Unter dem Milchwald ein Spiel für Stimmen, in dem Dylan Thomas einen Tag im Leben seiner Dorfnachbarn einfängt. Er entdeckt ihr Geheimnis, daß der Milchwald „ein von Gott erbauter Garten ist für Mary Ann Seefahrer, die weiß, daß der Himmel auf Erden ist, und das auserwählte Volk seines liebenden Feuers im Llareggubland“.

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1985

 

IN MEMORIAM DYLAN THOMAS

Cwmdonkin
stürzt
wie
sein Leben
steil
in brandende Flut…

Name
und „POET“
zeichnen
Haus Nummer fünf.
Jugend aus Uebersee
pilgert
zu
Ihm.
Mitten
im steinernen Garten
Rosenduft.
Ward er
einst
Kinderträumen
beschert?

Aus nahem Park
Echo
vom Knabenspiel:
„As I was green
and carefree…“

Tief
in der Schwanenbucht
schwimmt Mumbles Head
wo Er
„in seinen Ketten
sang
wie das Meer…“

Denn aller Sehnsucht
letztes Geheimnis
gab Ihm
die Heimat
nicht preis.

Maria Lutz-Gantenbein

 

 

Jan Wagner: Der Rausch und die Herrlichkeit. Zunächst über Dylan Thomas. Erster Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur

 

 

Eine lange Nacht des Dylan Thomas

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Sylvia Staude: Bis er dahinflog
Frankfurter Rundschau, 2.2.2019

Herbert Steib: Die Welt feiert Dylan Thomas
alldonereading

Bernadette Conrad: Dorfdichter von Welt
Die Zeit, 30.10.2014

Carl Wilhelm Macke: LitMag-Weltlyrik: Dylan Thomas
culturmag.de, 12.2.2014

 

 

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Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Nachruf auf Dylan Thomas: Die Tat

 

Dylan Thomas From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 1/7.

 


Dylan Thomas – From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 2/7.

 

Dylan Thomas – From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 3/7.

 

Dylan Thomas – From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 4/7.

 

Dylan ThomasFrom Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 5/7.

 

Dylan Thomas – From Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 6/7.

 

Dylan ThomasFrom Grave to Cradle, eine biographische Dokumentation, Teil 7/7.

 

Peter Wawerzinek liest aus seinem Widmungsbuch Ich Dylan Ich.

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