E. E. Cummings: Like a perhaps hand

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von E. E. Cummings: Like a perhaps hand

Cummings-Like a perhaps hand

tauche nach träumen
sonst kippt dich ein spruch
(bäume sind ihre wurzeln
und wind ist wind)

vertrau deinem herzen
fängt die see auch feuer
(und lebe von liebe
obwohl sterne rückwärts gehn)

ehr die vergangenheit
doch begrüße die zukunft
(und tanz deinen tod
fort auf dieser hochzeit)

lass einer welt
ihre schurken und helden
(denn gott mag mädchen
und das morgen und die erde)

 

 

 

Nachwort 

1958 erschien im Verlag Langewiesche-Brandt die erste Auflage eines Bandes mit Gedichten von Edward Estlin Cummings (1894–1962) in der Übersetzung von Eva Hesse. Es folgten Neuauflagen mit leichten Veränderungen. 1994 erschien eine überarbeitete und erweiterte Version. Im Nachwort gibt Eva Hesse eine Einführung in das Leben und Schaffen von Cummings. Sein Lebenslauf, sein Elternhaus, seine Kriegserlebnisse und der politische und gesellschaftliche Hintergrund seiner Zeit werden ebenso beleuchtet wie das literarische Umfeld, in dem das lyrische und das Prosawerk entstanden und ihn zu einem „Klassiker der Moderne“ werden ließen.
Im Nachwort zum vorliegenden Band wird daher auf den Lebenslauf von E.E. Cummings verzichtet, auch der politische und kulturelle Rahmen soll außen vor bleiben; für Interessierte sei verwiesen auf die Ausgabe mit Eva Hesses Nachwort sowie die Sekundärliteratur, etwa die Bücher von Martin Heusser, I Am My Writing. The Poetry of E.E. Cummings (Tübingen: Stauffenburg, 1997) und Norman Friedman, ReValuing Cummings: further essays on the poet, 1962–1996 (Gainesville u.a.: University Press of Florida, 1996).
Eva Hesse, die noch von Cummings selbst als Übersetzerin autorisiert wurde, zählt ohne Zweifel zu den großen Gestalten der Übersetzerzunft, gerade im anspruchsvollsten Metier, der Lyrik. Mit ihren Übertragungen der Gedichte von E.E. Cummings aus dem Amerikanischen ins Deutsche hat sie seinen Namen und sein Werk im deutschen Sprachraum vorgestellt. Ihre kleine, aber feine Auswahl ist immerhin seit über fünfzig Jahren auf dem Markt. Eva Hesses Buch präsentiert einen aufschlussreichen Querschnitt durch die Vielfalt der Themen und Formen bei E.E. Cummings und ist durchweg geprägt von einer akribischen Auseinandersetzung mit den Originalen; ein eigener Stilwille der Übersetzerin führt zu einer spezifischen deutschen Cummings-Diktion auf hohem Kunst-Niveau.
Der vorliegende Band enthält fünfundvierzig weitere von den annähernd tausend Gedichten, die Cummings geschrieben hat. Auf den folgenden Seiten werden die teils recht eigenartigen Formen der Gedichte und die Probleme des Lesens und Übersetzens betrachtet. Die Auswahl wurde vom Übersetzer getroffen, und zwar aus dem Jubiläumsband zum hundertsten Geburtstag des Dichters (E.E. Cummings, Complete Poems 1904–1962, herausgegeben von George J. Firmage. New York: Liveright, 1994); sie kann selbstverständlich nur subjektiv sein. Gedichte in eher traditioneller Form und solche, die eher experimentellen Charakter haben, werden als gleich wichtige und gleich interessante Texte gesehen. Schwerpunkte sind inhaltlich die Liebe und der Tod, die ursprünglichsten Themen der Poesie, ein ums andere Mal verpackt in starke oder zärtlich betörende Bilder. Die Auswahl soll einen Überblick über die formal sehr unterschiedlichen Präsentations- und Funktionsweisen jener Themen geben.
Aufbauend auf der Tradition der Figurengedichte seit der Antike begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Stephans Mallarmés „Un Coup de Dés“ (Ein Würfelwurf) eine Entwicklung im poetischen Umgang mit Sprache, die folgenreich für die Dichtung im 20. Jahrhundert werden sollte. Sprache in ihrer lautlichen und schriftlichen Erscheinungsweise wird zunehmend als wahrnehmbares Material aufgefasst und als solches thematisiert: Die Mittel zum Ausdruck der Ideen werden gleichberechtigt neben die Ideen gestellt – die Form wird Inhalt, der Inhalt Form. Der „Würfelwurf“ verdeutlicht die Bewegung der Würfel durch die ungewöhnliche Verteilung der Textstücke auf den Seiten des Buches – die weiße Papierfläche wird in den Betrachtungs- und Leseprozess einbezogen und hat teil an der Botschaft und der poetischen Wirkung. Lyrik ist von jeher diejenige literarische Gattung, in der Form und Inhalt untrennbar verbunden sind. Die Form bestimmt wesentlich die Poetizität des Gesagten mit. Verleiht jemand seinen Gedanken Ausdruck, dann ist es von Bedeutung, ob dies mittels eines Sonetts, eines Lautgedichts oder einer Ode erfolgt. Gedichtformen beeinflussen die Rezeption, und erst eine Formgebung nach bestimmten Regeln lässt einen Text zum Gedicht werden. Mit Mallarmé, den Futuristen und Dadaisten und besonders in der Konkreten Poesie der Fünfziger- und Sechzigerjahre werden das Material Sprache und seine Anwendungsmöglichkeiten hinterfragt. Mit den Konkretisten wird die von Lessing vorgenommene Unterscheidung, Dichtung beschreibe das zeitliche Nacheinander einer Handlung, bildende Kunst dagegen das räumliche Nebeneinander eines Moments, wieder in Richtung der horazischen ut-pictura-poesis-Debatte („wie ein Bild sei das Gedicht“) gelenkt – und geht sogar einen Schritt weiter: Das Wortmaterial wird durch die Anordnung auf der Fläche selbst ein konkret „bildnerisches“ Element.
Edward Estlin Cummings steht besonders mit seinen experimentellen typografischen Texten in der Tradition dieser Sprachbetrachtungen und des spielerischen Umgangs mit dem Material des Dichters. Die dem Leser unvertraute formale Struktur erlaubt Cummings, poetische Inhalte (die sich seit Beginn der lyrischen Spracharbeit kaum geändert haben) dergestalt zu präsentieren, dass die Grenzen sprachlicher Mitteilbarkeit durchbrochen werden. Cummings selbst hat sich zu diesem Aspekt seiner Arbeit widersprüchlich geäußert. Einerseits sah er seine Dichtung erstaunlicherweise nur als eine referentielle, das heißt, die verwendete Sprache verweist auf eine außersprachliche Wirklichkeit, also die Welt; sie vertritt etwas Abwesendes und macht es mitteilbar, z.B. Gedanken über Menschen, Tiere, Liebe, Trauer etc. (Heusser 1997: 219). Andererseits erklärt er: 

Prose is if words are used by somebody
to mean something
Poetry is if they use each other to express themselves

(Prosa heißt, dass Wörter von jemandem benutzt werden, damit sie etwas bedeuten, Dichtung heißt, dass sie sich gegenseitig benutzen, um sich selbst auszudrücken) (Heusser 1997: 222).

So sind viele Texte unübersehbar auf sich selbst und die Sprache in ihnen bezogen, die als eigene Wirklichkeit neben der Welt existiert und das Wort als Ding nimmt. Für den Dichter jedoch, so Cummings, ist die Sprache nur ein unzureichendes Werkzeug, um seine Ideen auszudrücken:

If a poet could express his thought in its naked glory, he would undoubtedly utter a wild and fearsome sound which would (of course) bear no possible relation to language, proper or improper. 

(Könnte ein Dichter seinen Gedanken in dessen nackter Pracht ausdrücken, würde er zweifellos einen wilden und fürchterlichen Laut äußern, der (natürlich) keinen möglichen Bezug zur Sprache hätte, angemessen oder unangemessen.) (Heusser 1997: 220).

Das Wort, die Vokabel bird (Vogel) entspricht eben nicht dem, was „the thought of wings-and-a-song“ (der Gedanke an Flügel-und-ein-Lied)-wachruft (ebd.).
Wenden wir uns den Gedichten zu. Die Darstellung von Bewegung und Gestalt, Leseanweisungen, die Verquickung von Beobachtungs- und Gedankenprozess, die synchrone Darstellung verschiedener Wahrnehmungsebenen – all dies gelingt durch Manipulationen an der Gedichtform. Neuere Untersuchungen belegen, dass das intensive Lesen eines Gedichts mit ähnlichen Augenbewegungen abläuft wie das Betrachten eines Bildes. Für viele mit der Schriftsprache spielende Texte von Cummings ist das nachvollziehbar: Das Suchen zusammengehöriger Sprachstücke sowie das Ergründen ihrer Beziehung zueinander und zur Umgebung funktionieren wie das „Lesen“ der kompositorischen Elemente eines Bildes: Freiflächen und Pausen, Gruppierung und Isolation, Überblick und Detail – all dies gilt es zu beachten. Dabei wird die geschriebene Sprache auch über ihren Inhalt hinaus als Gestaltungsmittel eingesetzt, was nicht zuletzt einer der Gründe für das Interesse der Semiotik und der Sprachwissenschaft am Werk Cummings’ ist. Einige Beispiele sollen die Vielfalt der Mittel verdeutlichen:
Die Leser werden durch Einschübe, etwa ein nachdenkliches „vielleicht“ in Spring is like a perhaps hand oder eine direkte Ansprache wie (imagine) / (stell dir vor), in den Vorgang der Wahrnehmung oder der Reflexion einbezogen; Ausdrucksstellungen durch syntaktische und grafische Fragmentierung und Isolation gewichten die betroffenen Wörter und Satzteile völlig neu: 

(and dance your death
away at this wedding)

(und tanz deinen tod
fort auf dieser hochzeit) 

oder: 

all paths lead where
truth is here

alle pfade führen hin wo
wahrheit ist hier.

Auch Versalien dienen zur Hervorhebung wichtiger Elemente: Das i / ich ist Cummings selten einen Großbuchstaben wert, die Angebetete (Lady / Teure) oder der Frühling (Spring) hingegen schon. Auch zur Lautmalerei werden Großbuchstaben verwendet, etwa bei bAnGiNgLy / RRaChEnD; an anderer Stelle wird aus klanglichen Gründen der stimmlose Reibelaut / f / als Geräusch des Regens aus einem Wort isoliert (wie das ! f ! im Gedicht „featherrain“). Gedichtumrisse können einer Silhouette entsprechen (wie die um 90 Grad gedrehte Skyline in ecco the ugliest), Klammern oder der Buchstabe o erscheinen in Mond-Texten gelegentlich als Halb- oder Vollmonde. Die Synchronizität zweier Bilder oder verschiedener Wahrnehmungen wird durch eine syntaktische Einbettung oder Überlagerung erreicht, da die herkömmliche lineare Wortkette nicht mehr genügt, um die Eindrücke in ihrer Gesamtheit wiederzugeben, etwa bei der sprachlichen Verquickung der Bilder einer Schlafenden und einer Biene in der Blüte in un(bee)mo, oder bei der Notierung der vielfältigen akustischen Phänomene während der unbeschreiblichen Minute: 

hear?do you birds begin which all to talk,loudly /
hörst?du vögel beginnen die alle zu sprechen,laut. 

Eine der auffälligsten Eigenheiten bei Cummings ist die Wandlung der Wortarten: Funktionswörter werden zu Inhaltswörtern, unflektierbare Wörter werden flektiert: 

out of night’s almosT / aus dem beinah der nachT
the onlying world
/ die alleinende welt. 

Neben all den technischen Finessen darf jedoch nie übersehen werden, dass es Cummings immer wieder gelingt, in den verschiedenartigen Textformen eine Vielfalt zauberischer Bilder hervorzurufen, die auch im konservativen Lyrik-Verständnis höchst poetisch sind und den Blick des Lesers weg von der sprachlichen Oberfläche auf wundersame Szenerien lenken: 

What is thy breast to me?
A flower of new prayer,
A poem of firm light,
A well of cool birds,
A drawn bow trembling.

Was ist deine brust für mich?
Eine blume neuen gebets,
Ein gedicht festen lichts,
Ein brunnen kühler vögel,
Ein gespannter bogen zitternd.

oder

They have hung the lake with moth-wings,
Blurs of purple, and shaggy warmths of gold,
Lazy curious wines, and curving curds of silver.

Sie verhängten den see mit mottenflügeln,
Flecken von purpur und krausen wärmen aus gold,
Trägem neugierigen wein und gebognem gerinnsel aus silber.

Daneben bedient sich Cummings auch einer sinnlichen Bildwelt, um lustvolle sexuelle Erlebnisse oder Wahrnehmungen zu umschreiben, durchaus ohne sich dabei vom Fleischlichen zu entfernen (etwa in as we lie side by side / wenn wir seite an seite liegen oder in sometimes i am alive because with / manchmal bin ich lebendig weil bei). Eine nach Bauweisen geordnete Auswahl aus dem poetischen Werk bietet das Buch AnOther E.E. Cummings, ed. Richard Kostelanetz & John Rocco (New York: Liveright, 1998). Dort findet sich auch eine Gegenüberstellung von Übersetzungen des Grashüpfer-Gedichts „r-p-o-p-h-e-s-s-a-g-r“ in sieben Sprachen (einschließlich der Version von Eva Hesse).
Die Arbeit des Übersetzers ist stets Interpretation und verlangt vor allem bei Lyrik oft leidige Kompromisse. Ein Übersetzer muss sich dem Original bescheiden nähern, dessen Potenzial erfassen, schwierige, oftmals verlustreiche Entscheidungen treffen und schließlich der Versuchung widerstehen, diese oder jene Stelle in der Übersetzung über Gebühr abzuflachen oder zu poetisieren. Bei jedem Text steht man vor der Frage, welche „poetischen Leistungen“ für den Autor und seine Sprache charakteristisch sind. Dabei muss zwischen Form und Inhalt abgewogen und eine Lösung gefunden werden, die beiden Ebenen gerecht wird. Wenn Cummings die „normale“ englische Syntax aufbricht und die Bruchstücke neu anordnet, verleiht er den Elementen mehr Gewicht und stellt sie in neue Relationen zu anderen Textteilen – dieses Zerbrechen und Relativieren ist auch in der Übersetzung anzustreben. Was im Englischen eine ungewohnte Struktur aufweist, bei der ein Leser ins Stocken kommt, muss auch im Deutschen „durcheinandergeraten“ wirken. Durch diese Technik wird auch die Darstellung einer Verschränkung verschiedener Wahrnehmungsebenen sowie einer Simultaneität der Ereignisse deutlich. Um solche Konfigurationen nachahmen zu können, ist mitunter sogar der Reim vernachlässigt worden, damit die dominante Formgebung möglichst originalgetreu übernommen werden konnte. Auch den verschiedenen Stilebenen bei Cummings hat ein Übersetzer Rechnung zu tragen: Eine Vielzahl der Gedichte zieht den poetischen Effekt nicht aus der Poetizität des Vokabulars, sondern aus einer befremdlichen Zusammenstellung und Verwendungsweise der in den meisten Fällen sehr alltäglichen und schlichten Wörter, weshalb auch in der Übersetzung einfache, weil vertraute und unauffällige Wörter herangezogen werden sollten, selbst wenn ein weniger alltäglicher Ausdruck vermeintlich besser klänge – aber eben damit eine Wirkung erzielt würde, die im Original an dieser Stelle nicht gegeben ist. Leider ist dieses Prinzip nicht immer durchzuhalten. Die Entscheidung, welcher Kunstgriff des Autors bei der Übertragung jeweils an erster Stelle stehen soll, ist letztlich stets eine subjektive, da der Übersetzer wie jeder Leser gezwungen ist zu interpretieren.
Der Versuch, unter die Oberfläche oder hinter die Bilder zu blicken und dort Erkenntnis zu erlangen, ist ein mühseliges Geschäft und verlangt vom Leser eines Gedichts viel Geduld, wie sie auch der Autor beim Schreiben aufbringen muss. Der Anteil von zehn Prozent Eingebung und neunzig Prozent Fleißarbeit betrifft nicht nur den dichterischen Schaffensakt (der poetische Text ist meist das Resultat langwieriger Handarbeit – ein Geistesblitz mit vierzehn regelmäßigen Versen und Reimen ist wohl eher selten), sondern auch die Rezeption von Lyrik. Es ist manchmal viel Bedenkzeit für ein Gedicht vonnöten, bis sich ein Fenster zu seiner Schönheit oder seinem Mechanismus öffnet, wobei das eine das andere nicht ausschließt. Selbst in vermeintlich formalistischen Spielereien mit Versen, die aus einzelnen Buchstaben bestehen, kann Poesie stecken. Reim und Metrum sind schon lange keine Bedingungen mehr für den lyrischen Charakter eines Textes – einzig die Kurzzeile scheint als formales Kriterium für Gedichthaftigkeit geblieben zu sein. 

L. V., Nachwort

 

Dieser Band enthält in zweisprachiger Ausgabe

45 ausgewählte Gedichte des amerikanischen Lyrikers und Malers E.E. Cummings (1894–1962), die das ganze Spektrum seiner bildstarken und sprachspielerischer Lyrik zeigen. Sinnlich und klug, handfest und zart nutzen diese Gedichte nicht nur alles sprachliche Material, Buchstaben und Zeichen, Gestalt und Fläche, um die ewigen Themen der Lyrik, Liebe und Tod, auf eine immer neue Weise abwandeln zu können. Überraschend und bezaubernd, verspielt und einladend öffnen Cummings’ Gedichte Augen und Herz für eine neue Wahrnehmung des Lebens.

Verlag C.H. Beck, Klappentext, 2013

 

Beitrag zu diesem Buch:

Rainer Strobelt: Streicheln und stechen
fixpoetry.com, 22.5.2014

 

 

Schreibweisen.

Unordentlicher Versuch, über Cummings zu reden 

Die Zeit der gesprochenen Lyrik ist vorbei. Das Gedicht, das zuletzt ihren Platz eingenommen hat, singt nicht mehr; es baut sich selbst, dreidimensional, schrittweise, geschickt im Bewußtsein des Erlebenden. 

Das Symbol aller Kunst ist das Prisma. Das Ziel ist Unrealismus. Die Methode ist Zerstörung. Das weiße Licht objektiven Realismus aufspalten in die verborgenen Schätze, die es enthält.
Richard Kennedy 

Zwei Zitate, zufällig, unsystematisch; Notizen, die Cummings sich machte, um sich über Schreibweisen und Lesarten moderner Literatur und Kunst klarzuwerden. Von hier aus ließen sich vielfältige Beziehungen herstellen zu Personen, Theorien, Kunstrichtungen, die weit entfernt vom Glauben an die plane Abbildbarkeit von Realität sich auf die Bedingungen des Kunstprodukts selbst, seiner Methoden, Techniken, Materialien usw. und auf die Bedingungen seiner individualpsychologischen und gesellschaftlichen Rezeption konzentrierten. Die Methode der Zerstörung und die der Konstruktion des Textes im Bewußtsein des Erlebenden sind zentrale Techniken für die Moderne des 20. Jahrhunderts. Die Entwicklungslinie verläuft von der Theorie der Nichtrepräsentation von Realität in Sprache (Literatur, Malerei usw.) hin zu den Überlegungen, die den sprachlichen Zeichen eine Eigenrealität zuschreiben, die mit der der Objektwelt in keiner direkten Beziehung steht und von ihr in diesem Sinne nicht abhängig ist, die Realität der Objektwelt selbst aber strukturiert und der Veränderung durch den Menschen zuführt.
In einer frühen Selbsteinschätzung sieht sich Cummings als jemanden, der „mißrepräsentative Unrepräsentation von Verkehr, Brücken, grünköpfigen Frauen schafft“.
Der Gefahr des Abgleitens in allgemeine Erwägungen über die Einordnung Cummings’ in den Zusammenhang der Moderne des 20. Jahrhunderts aus dem Wege gehen durch ein anderes Zitat. 

E.E. Cummings war da und redete für geschlagene acht Stunden, aber er langweilte nicht, im Gegenteil, er war außerordentlich unterhaltsam. Sein Kopf war ein Lagerhaus erinnerter Zeilen von Sappho auf Griechisch, Laforgue auf Französisch, Horaz auf Latein, Amy Lowell, Shakespeare und Longfellow auf englisch, und er konnte die unpassendsten Zitate spontan zusammenwerfen. Die Wirkungen waren manchmal sehr lustig und manchmal von überraschender Schönheit. Niemand anderes hatte am Nachmittag, während des Dinners oder danach die Gelegenheit zu reden, aber das störte niemanden, weil Cummings’ Wortfluß so unterhaltend war. Er redete noch, als er auf der Heimfahrt im Taxi bat, an einer bestimmten Ecke abgesetzt zu werden.
Burton Rascoe

Die Fähigkeit zur ununterbrochenen Rede scheint das hervorstechendste Merkmal von Cummings’ Erscheinung gewesen zu sein: fast jeder der ihn kannte, kommt in seinen Erinnerungen darauf zu sprechen. John Dos Passos erzählt in The Best Times, daß Cummings nach solchen Springfluten von Rede nachhause ging, um einiges davon aufzuschreiben; Geburt der Poesie aus der Rede. Der ungeheure Redestrom, den Cummings von sich gibt, umfaßt neben gelehrten Zitaten und Anspielungen auch, und dies deutet auf seine Lyrik hin, alle Arten von Anspielungen auf und Zitate aus Alltagssprache: Werbeslogans, Schlagzeilen, Dialektphrasen, Slang aus dem Gangster- und Nuttenmilieu, Nachäffen von Politiker- und Offiziellensprache, Witze und Wortspiele. Sind die Schleusen einmal geöffnet, nähert sich der Strom der Rede dem Bewußtseinsstrom, die Vorstellung wird zur kunstvollen Selbstdarstellung.

He was a dreadful show-off. Everything he did was a performance.
(William Slater Brown)

Es ist verlockend, dem eingeschlagenen Pfad zu folgen, mit Dos Passos die Rede als Quelle der Lyrik anzusehen, das zitathafte dieser Rede mit dem zitathaften der Lyrik in Verbindung zu bringen, die von Cummings entwickelten Techniken als Bearbeitungen des Redestromes zu betrachten. Diese Sichtweise läuft Gefahr, andere zu verdecken:

das unhörbare Gedicht – das visuelle Gedicht, das Gedicht nicht für Ohren sondern für Augen – bewegte mich mehr.
Richard Kennedy 

Cummings’ Biographie fehlt das Spektakuläre, schlaglichtartig das Werk Erhellende. Er wurde 1894 in Cambridge, Massachusetts geboren, ab 1911 Studium englischer und altgriechischer Literatur in Harvard, M.A. mit einer Arbeit über neue Tendenzen in Malerei und Literatur. In Harvard Freundschaft mit Scofield Thayer, Steward Mitchell – beide ab 1918 Herausgeber von The Dial, neben The Little Review und Transitions wichtigste Avantgardezeitschrift im Amerika der zwanziger Jahre –, John Dos Passos und S. Foster Damon. Foster Damon macht ihn mit den neuesten literarischen Entwicklungen bekannt, Pound, Eliot, die Gertrude Stein der Tender Buttons und überredet ihn 1913, die aufsehenerregende Armory Show in Boston zu besuchen: die kubistische Malerei und Duchamps Akt, eine Treppe hinabsteigend prägen seine Anschauungen.
1917 versucht er in New York Fuß zu fassen, zunächst in einem Buchversand, dann als freier Maler und Schriftsteller. Pazifistisch und diffus sozialistisch eingestellt, meldet er sich zu einer nicht-militärischen Ambulanzeinheit, um der drohenden Einberufung zu entgehen. In Frankreich wird er mit seinem Freund Slater Brown unter Spionageverdacht festgenommen (wegen der Kontakte Browns’ zu der Anarchistin Emma Goldman) und in einer Festung interniert. Nach drei Monaten wieder freigelassen, kehrt er in die USA zurück, wird dort noch kurz vor Kriegsende eingezogen.
Die zwanziger Jahre verbringt Cummings in New York und, wie viele Schriftsteller seiner Generation, in Paris und auf Reisen in Europa. Freundschaften mit Ezra Pound, W.C. Williams, Marianne Moore u.a. Nach verschiedenen Veröffentlichungen in The Dial erscheinen seine ersten Bücher, The Enormous Room (1922), Bericht über die Internierung in Frankreich, und der Gedichtband Tulips and Chimneys (1923), dessen ursprünglich umfangreiches Manuskript auf dem Weg von Verleger zu Verleger von diesen soweit zusammengestrichen wird, daß die beiden nachfolgenden Gedichtbände (1925) gänzlich aus dem unterdrückten, überwiegend experimentelleren Material zusammengestellt werden können.
Bis zu seinem Tod 1962 erscheinen noch 10 weitere Gedichtbände, das Theaterstück Him (1927), EIMI, Journal einer Reise nach Rußland (1933) und rund zehn kleinere Buchveröffentlichungen: ein Kunstband, Übersetzungen, Theatertexte, Vorträge, eine Aufsatzsammlung.
Trotz der großen Zahl von Publikationen, mehr als 20 Bücher bis 1962, die Mehrzahl davon in den zwanziger und dreißiger Jahren, der ungezählten Zeitschriftenbeiträge, bleibt Cummings bis nach dem 2. Weltkrieg öffentlich so gut wie unbekannt. Seine Bücher erscheinen in kleinen Verlagen in kleinsten Auflagen (mehrmals auf eigene Kosten), häufig angegriffen wegen ihres experimentellen Charakters und der exzentrischen Typographie.
Zu Beginn der fünfziger Jahre, als die von ihm entwickelten Schreibweisen von der Generation junger Schriftsteller in den Fundus des allgemein als möglich Akzeptierten und als notwendig Geforderten aufgenommen werden, tritt er als einer der Erneuerer der amerikanischen Literatur ins öffentliche Bewußtsein. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er nicht mehr auf Stipendien, Unterstützung durch Freunde oder seine Familie angewiesen und kann seinen Unterhalt selbst bestreiten; nicht durch den Verkauf seiner Bücher, sondern durch ausgedehnte Lesereisen. Lesungen vor mehreren tausend Menschen, ganz am Anfang der Begeisterung für Dichterlesungen, ein Jahrzehnt vor der großen International Poetry Reading in der Royal Albert Hall 1965.
Das läßt sich schnell erzählen. Weniges, ausgewählt aus den Daten, Schauplätzen und Anekdoten zweier Biographien, das Bild bleibt diffus und wenig spezifisch. 

Die Dichter haben es (mit Ausnahme einiger Genies wie Shakespeare) für nötig befunden, die Sprache (und das heißt auch: das Leben) des Alltags auszusparen, um ihren Bemühungen Stabilität zu geben und haben so einen Treibhausstil kultiviert, der der Erhabenheit der gutkonservierten Gedanken angemessen ist, die auszudrücken sie den Mut hatten.
Richard Kennedy

Die Bewegung ist bekannt und nicht auf das 20. Jahrhundert beschränkt: um der Stagnation und der Begrenzung einer etablierten Literatursprache zu entgehen, ihren Ideen und Ausdrucksweisen, ihrem Formkanon, werden die Grenzen tradierten literarischen Sprechens Überschritten und andere Sprachbezirke entdeckt. Die Aneignung ,fremder Rede‘ (Bachtin), Slang, Dialekte, Gruppensprachen, Unterwelt-, Huren-, Kneipenjargon, erweitert den Bereich des in Literatur Möglichen. An die Stelle des im Treibhaus Gezüchteten tritt das in den Straßen Erlebte und, vor allem, Gehörte. Die Eroberung der Großstadt für die Literatur ist die Eroberung ihrer Sprachbezirke.
Cummings ersetzt die Bezeichnung Gedicht durch die Bezeichnung „fait“.
In den Jahren 1916–1920 entwickelt er die Schreibweisen und Techniken, die für seinen Stil charakteristisch werden. Bekannt mit den neuesten Ergebnissen in der Malerei, Musik und Literatur, finanziell bescheiden abgesichert, hat er Gelegenheit, ausgiebig mit seiner Schreibmaschine zu spielen – vielleicht ist er der Erste, bei dem die Möglichkeiten und die Beschränkungen der Schreibmaschine entscheidend in den Produktionsprozeß eingreifen. Vieles wird durch die Schreibmaschine erstmals möglich und im Spiel mit ihr entdeckt.
Cummings’ literarischer Ansatzpunkt ergibt sich aus seiner Ablehnung des „Treibhausstiles“. Inhalte und Formen der bereits an den Universitäten als vorbildlich gelehrten Literatur erscheinen ihm abgenutzt und suspekt. Die Übernahme fremder Rede andererseits wirft die Frage auf, wie sie ins Gedicht integriert, wie aus ihr ein Gedicht oder fait gemacht werden kann. Wie kann das Gehörte lesbar gemacht werden? Gedicht als Tatsache meint hier zweierlei: das Verpönte, tatsächlich Gehörte/Erlebte ohne Rücksicht auf die Literaturfähigkeit als Material verwenden; und: ein ästhetisches Gebilde schaffen, das seine Eigenrealität gegen die Forderung nach Repräsentation behauptet. Für Cummings bedeutet es die Entdeckung der Fläche als eines Feldes, auf dem Sprache nach verschiedenen Gesichtspunkten angeordnet wird. Die Fläche strukturiert den Text und setzt expressive Akzente: Zögern, Überraschung, Betonung, Geschwindigkeit können durch räumliche Anordnung gezeigt werden, in einem Ineinander von Nachahmung und Konkretion. Semantische und grammatische Beziehungen werden zurückgedrängt, von räumlichen überlagert und teilweise außer Kraft gesetzt. Der Sinn der Worte liegt mit in ihrer Position auf der Fläche. Die Texte müssen gelesen werden, sie bedürfen der Fläche als ihres Mediums und ihrer Existenzbedingung. Die Möglichkeit des Lesens und des Vor-Lesens, die traditionelle Literatur setzt beides gleichwertig nebeneinander, die Fläche dient allein als Objektträger, wird gespalten: Lesen und Vorlesen sind verschiedene Arten der Rezeption mit nicht vergleichbaren Erfahrungen (visuell und auditiv). Die Lesbarkeit im Sinne planer Informationsübermittlung, auch der ästhetisch genormten, wird herabgesetzt. Der Text selbst, sein Material, seine Machart werden fait, Erlebnis des Lesers.
Neben dieses auf die Grenze von Literatur und Malerei zielende Verfahren, das zurückgeht auf die Anregungen von Un Coup De Dés von Mallarmé und die Calligrammes von Apollinaire, tritt eines, dessen Möglichkeiten in erster Linie im Zusammenhang der konkreten Poesie ausgeschöpft werden. Das Wortmaterial wird in Silben aufgesplittert, die Silben nach ihren Vokalwerten geordnet und untereinandergesetzt, eine senkrechte Reihe für jeden Vokal. Der Text bleibt von links nach rechts zeilenweise lesbar – in einem anderen Versuch läßt Cummings die Leserichtungen „links nach rechts“ und „rechts nach links“ zeilenweise alternieren –, die Silben sind nicht völlig frei über die Fläche verteilt. Der Text muß mühselig zusammengestückelt werden. In dem Prozeß des Zusammenstückelns wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Lautqualität der Silben und der Wörter gelenkt, auf ihre Beziehungen untereinander, horizontal und vertikal, auf die Verbindung von Lautqualität und semantischem Wert. Die räumliche Anordnung dient (auch) der Sichtbarmachung von Klangmustern.
Für ein anderes Experiment legt Cummings eine Kartei von Vokalen, Konsonanten und Konsonantenverbindungen an, aus der er dann die verschiedenen Elemente abruft und nach unterschiedlichen Gesichtspunkten, zum Beispiel einem Vokalschema, zu einem Text kombiniert.
Neben diese grundlegenden, auf die Poesie der Fläche und die Lautpoesie zielenden Versuche treten andere Verfahren, die heute ganz selbstverständlich zu den Möglichkeiten des Schreibens gehören, zu Beginn der zwanziger Jahre aber für erhebliches Aufsehen sorgten: Abkehr von der regelgerechten Großschreibung, Großbuchstaben in Signal- und Betonungsfunktion, Großbuchstaben innerhalb von Wörtern; Fragmentarisierung von Absätzen, Sätzen, Worten und Silben, Kombination des Fragmentierten; Satzzeichen, aus ihrer Funktion gelöst, strukturieren und rhythmisieren den Text nach nicht-syntaktischen Gesichtspunkten und erscheinen selbst als Bedeutungsträger; Ineinanderschachtelung von Sätzen durch Klammern; Auflösung grammatischer Bezüge; Wortneuschöpfungen; Aufhebung der Wortartgrenzen.
Neuansetzen mit einem Zitat. 

Meine Theorie von Technik, wenn ich eine habe, ist überhaupt sehr weit davon entfernt, original zu sein; sie ist auch nicht kompliziert. Ich kann sie mit fünfzehn Worten ausdrücken, indem ich die Ewige Frage und Unsterbliche Antwort der Burleske zitiere, nämlich: „Würdest du eine Frau mit einem Kind schlagen?“ „Nein, ich schlüg sie mit einem Ziegelstein.“ Wie der Komödiant der Burleske bin ich krankhaft vernarrt in die Genauigkeit, die Bewegung erzeugt.
Wenn ein Dichter irgendjemand ist, dann ist er jemand, den fertige Dinge wenig berühren – jemand, der vom Machen besessen ist. Wie alle Obsessionen hat die Obsession des Machens ihre Nachteile; zum Beispiel, mein einziges Interesse Geld zu machen, wäre, es zu machen. Glücklicherweise jedoch würde ich es vorziehen, fast jede andere Sache zu machen, einschließlich Lokomotiven und Rosen. Es sind Lokomotiven und Rosen (ganz zu schweigen von Akrobaten, Frühling, Elektrizität, Coney Island, der 4. Juli, Mäuseaugen, die Niagara-Fälle), mit denen meine „Gedichte“ wetteifern.
Sie wetteifern auch untereinander, mit Elephanten und El Greco.
Unausweichlich voreingenommen für Das Verb hat der Dichter einen kostenlosen Vorteil: während Leute, die nichts machen, sich mit der unbestreitbaren Tatsache zufrieden geben müssen, daß zwei mal zwei vier ist, kann er sich der ganz unwiderstehlichen Wahrheit erfreuen (die, in abgekürzter Form, auf dem Titelblatt des vorliegenden Buches zu finden ist). (nämlich: ist fünf)

Eine weitere wichtige Veränderung wird hier sichtbar: das „Gedicht“ löst sich aus seiner residualen Verklammerung, aus seiner, wie ich in diesem Zusammenhang sagen will, abbildhaften Beziehung zur Realität und stellt sich auf eine Stufe mit deren Phänomenen. In der Konkurrenz zwischen beiden sind die Dinge nicht der Punkt, auf den hin die Gedichte zu beziehen wären.
Was Cummings hier emphatisch fürs Gedicht reklamiert, nichtstilisierte Realität, Genauigkeit, Bewegung, trifft sich mit den Eigenschaften der Phänomene, mit denen er das Gedicht im Wettstreit sieht. Es ist die für die Kunst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts typische Hinwendung zu Bezirken am Rande bürgerlicher Beschaulichkeit, Hinwendung zum gefährlichen und intensiven Leben: Maschinen, Elektrizität, Flugzeuge, Geschwindigkeit, Burleske und Vergnügungspark, Akrobaten, alle Bereiche von Halb- und Unterwelt. Zunächst motivisch, dann durch die Anti-Kunst- und A-Kunstformen von Dada und Surrealismus; Manifest und (poetische) Aktion treten neben dichterische Theorie und Gedicht.
Cummings’ Beziehungen zu Dada und Surrealismus waren oberflächlicher, hauptsächlich privater Natur: in New York Kontakte zu Alfred Stieglitz und den bei ihm verkehrenden Dadaisten, in Paris zu Aragon (den er übersetzt) und den Surrealisten. Im Grunde aber waren seine Anschauungen weit von denen der New Yorker oder Pariser Gruppe entfernt, gingen ihre Gedanken von gemeinsamen Überlegungen aus in eine andere Richtung. Dadaisten und Surrealisten intendierten die Abschaffung von Kunst als Refugium in einem provozierenden (und gesellschaftlich relevanten) Akt, Cummings die Individualisierung der Subjekte durch Kunst in anarchischer Absicht. 

„Genauigkeit, die Bewegung erzeugt.“ Cummings nimmt Pounds Bemühungen um das „precise word“ auf. Pound ging es darum, überflüssige und schmückende Wörter, Wörter, die nichts Spezifisches des Gegenstandes enthüllen, besonders abgeschliffene und verbrauchte, zur Phrase gewordene Adjektivverbindungen, zu eliminieren. Erst das „genaue Wort“ ermögliche die Darstellung eines „intellektuellen und emotionalen Komplex(es) innerhalb eines Augenblicks“, die ein „Gefühl plötzlicher Befreiung und Lösung aus zeitlichen und räumlichen Schranken, ein Gefühl jähen Wachsens“ erzeuge, ermögliche die Schaffung eines image, wie Pound es nennt. In der Definition des image klingt schon etwas von der Funktionsbestimmung der Genauigkeit bei Cummings an. Genauigkeit als Postulat des Schreibens (der Technik?) zielt auf die Konzeption einer ästhetischen Struktur, die den Leser nicht in seiner Ruhe verharren läßt, sondern ihn selbst in Bewegung versetzt im Sinne intensiven Erlebens. Im intensiven Erleben werden die Grenzen des Vorgefaßten und Vorbestimmten durchbrochen auf einen Bereich hin, in dem ein unverstelltes In-Beziehung-treten sich als Ahnung von Möglichkeiten abzeichnet, als Arbeit in den Grenzbezirken. Komplement dieser Bewegung ist die des Textes selbst, sein Schwingen und Oszillieren zwischen semantischen Möglichkeiten, das Sich-Reiben an Formen, das Verteilen auf der Fläche.
Eine Parallele hat diese Konzeption in dem Anspruch der Futuristen, den Betrachter mitten ins Bild zu setzen. Durch diesen Akt soll er einer Handlung nicht distanziert betrachtend gegenüberstehen, sondern an ihr teilnehmen. An die Stelle der Abbildung einer realen Bewegung tritt die Strukturierung einer Fläche mittels Linien, Formen und Farben, durch die der Betrachter im Prozeß des Entzifferns in eine Bewegung hineingezogen wird, die seine eigene ist. Auf der einen Seite des Spektrums steht der fixierte Augenblick, Verräumlichung der während einer Bewegung verstreichenden Zeit durch die Addition aufeinander folgender Bewegungsabläufe in der Statik eines Bildes, zum Beispiel Die Hand des Violinspielers von Giacomo Balla; auf der anderen die dynamische Empfindung, durée im Sinne Bergsons, der Betrachter schafft das Bild durch die „Synthese von Erinnerung und optischer Wahrnehmung“, zum Beispiel Dynamismus eines menschlichen Körpers von Umberto Boccioni.
Durch die Idee der Bewegung ist Cummings mit dem Futurismus verbunden. Die Forderungen, die Marinetti an eine futuristische Literatur stellt, decken sich mit Cummings’ Versuchen: Befreiung der Wörter aus ihrer syntaktischen Verklammerung, Befreiung der Zeichen, Buchstaben, Laute, neue Orthographie und Typographie. In den Ergebnissen unterscheiden sie sich: Cummings behandelt Laut und Fläche nicht völlig frei, sondern orientiert sich an der rechtwinklig-zeiligen Druckanordnung, die Laute und Silben schließen sich in aller Regel zu Worten zusammen. Es scheint als versuche er, die neuen Methoden möglichst dicht an tradierte Schreibweisen heranzuführen.
„Genauigkeit, die Bewegung erzeugt.“ Ich habe diesen Satz als Kernsatz Cummings’schen Schreibens gelesen und um ihn herum Beziehungen hergestellt. Genauigkeit, die nicht dem Gegenstand, sondern dem Zweck verpflichtet ist, Bewegung zu erzeugen, die selbst nur durch die gespannte Beziehung zwischen Erinnerung und optischer/akustischer/ästhetischer Wahrnehmung entsteht.
Erinnerung, wie ich sie hier verstehen will – und ich blende den zentralen, nicht von der „literarischen“ Erinnerung zu trennenden Gesichtspunkt der „alltäglichen“ Erinnerung, beides greift ineinander, aus –, umfaßt die verschiedensten Bereiche: Sujets, Darstellungsweisen, Schreibweisen, Techniken, Reime, Rhythmen, die selbst mit der Wahrnehmung verzahnt sind. Erinnerung wirkt auf die Wahrnehmung, Wahrnehmung verändert Erinnerung. Die Spannung stellt sich nicht nur zwischen der Erinnerung des Lesers an andere Texte und der Wahrnehmung eines bestimmten Textes her, das träfe auch auf die Rezeption traditioneller Texte zu. Die Spannung muß sich vielmehr darüberhinaus zwischen dem Erinnerungspotential der Wörter/der Sprache und der Wahrnehmung der Textgestalt aufbauen: die Erfahrungen in den Wörtern und die Erfahrungen mit den Wörtern müssen senkrecht zueinander stehen; die Erfahrungen mit den Wörtern Meta-Erfahrungen, Erfahrungen der Prozessualität des Textes, des Lesens. 

tradition… ist etwas lebendiges, und in steter bewegung; etwas, in dem sich vieles gleichzeitig bewegt, zusammenläuft, oder sich trennt, zu immer neuen mustern. tradition besteht aus traditionen.
(Ernst Jandl)

Mit diesem Zitat von Ernst Jandl nehme ich das Motiv der Bewegung unter einem anderen Gesichtspunkt wieder auf. Tradition ist ein Geflecht von Traditionen, wer in ihm steht, ist vielseitig gespannt und beziehbar. Die Aneignung von Tradition geschieht häufig verdeckt und erscheint im Text, wenn überhaupt, als Marginalie, wird für die Konstitution des Textes nicht wichtig. Cummings begegnet den Traditionen offensiv: sie werden herbeizitiert, zitiert, zerlegt, montiert, nachgeahmt, parodiert. Traditionen sind Material und gehen als Material in die Texte ein. Die Betrachtung von Traditionen als Material spielt hinüber in die der Bewegung zwischen Erinnerung und Wahrnehmung als Motor des Textfortganges. Als Zitat schwingen die Traditionen zwischen Konsonanz und Dissonanz, kreuzen die Textrichtung mit unbekanntem Ziel, die Richtung verändernd. Die Aneignung der Traditionen schlägt um von der gelehrten Geste zur sprachlichen Operation. Aus diesem Umschlag ergibt sich die Nähe der Texte zu den Bezugspunkten der Tradition. Die Radikalität des Schreibens liegt dann im Versuch, möglichst dicht an die Grenze zum traditionellen Text heranzukommen, um gerade in der Nähe die Differenz zu erweisen.
Dante, Shakespeare, Donne, Rosetti, Wordsworth, Keats, Emerson, Thoreau, Whitman, Amy Lowell, Mallarmé, Apollinaire, Pound, Eliot, Stein, Joyce – zufällige und unvollständige Liste von Namen, die im Falle Cummings für Traditionen stehen. Traditionsstränge, die sich vielfältig überkreuzen, an den Schnittpunkten die verschiedensten Möglichkeiten zu schreiben. Die Stränge selbst in ständiger Bewegung untereinander, sich neu überkreuzend. 

Nimm die Tatsache der Geburt. Was bedeutet es für Meisteleute geboren zu werden? Vollkommene Katastrophe. Sozialrevolution. Der kultivierte Aristokrat, aus seinem hyperexklusiven ultrasinnlichen Superpalazzo herausgerissen und weggeschleudert in ein unbeschreiblich vulgäres Konzentrationslager, in dem sich jede nur denkbare Spezies unerwünschter Organismen tummelt. Meisteleute wünschen sich einen garantiert geburtsgetesteten Sicherheitsanzug aus unzerstörbarer Selbstlosigkeit. Sollten Meisteleute zweimal geboren werden, würden sie es unglaublicherweise sterben nennen – du und ich, wir sind keine Snobs. Wir können nie genug geboren sein. Wir sind menschliche Wesen, für die die Geburt ein äußerst willkommenes Wunder ist, das Wunder des Wachsens, das Wunder, das sich dann und nur dann ereignet, wenn wir uns selbst treu sind. Du und ich tragen die gefährliche Zwanglosigkeit des Schicksals und finden: sie kleidet uns. Das Leben, für das ewige Wir, ist jetzt, und jetzt ist viel zu beschäftigt, ein bißchen mehr als alles zu sein, um irgendetwas zu scheinen, Katastrophisches eingeschlossen.
Für Meisteleute gibts das Leben einfach nicht. Nimm den sogenannten Lebensstandard. Was meinen Meisteleute mit „leben“? Sie meinen nicht leben. Sie meinen die letzte und naheste Annäherung an die singuläre pränatale Passivität, die die Wissenschaft in ihrer beschränkten grenzenlosen Weisheit mit Erfolg an ihre Frauen verkauft hat. Wenn Wissenschaft versagt, ist ein Berg ein Säugetier. Die Frauen von Meisteleute erkennen eine wirkliche Fälschung embryonaler Omnipotenz sofort und akzeptieren keinen Ersatz.
– zu unserem Glück ist ein Berg ein Säugetier.

Über dieses Zitat lassen sich verschiedene Traditionen anschließen. Die wichtigsten verbinden sich mit den Namen Thoreau und Bergson. Die Ablehnung von Vernunft und wissenschaftlicher Rationalität, Dispensierung der (Alltags-)Logik trifft sich mit der Forderung nach intuitiver Erkenntnis. Wissenschaft, Rationalität und Logik mit all ihren Konsequenzen erscheinen als die Faktoren, die das Leben des einzelnen auf ein Erwerbsleben verpflichten, in dem er, sich selbst und seiner Umwelt entfremdet, nur sklavisch Marktmechanismen gehorcht. Der Gegenentwurf eines sinnvollen Lebens setzt das Individuum mit seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten als zentralen Bezugspunkt des Universums, Gesellschaft und Sprache sind auf diesen Punkt auszurichten.

Nie wird es einen wirklich freien und aufgeklärten Staat geben, solange sich der Staat nicht bequemt, das Individuum als größere und unabhängige Macht anzuerkennen…

Ich befürchte vor allem, meine Sprache sei nicht extravagant genug, gehe nicht weit genug über die engen Schranken der Alltagserfahrung hinaus, um zureichend zu sein für die Wahrheit, von der ich mich überzeugt habe. (…) ich bin nämlich überzeugt, daß man sich nicht übertrieben genug ausdrücken kann, wenn man auch nur einen Schimmer der Wahrheit vermitteln will.
(H.D. Thoreau)

Die beiden Thoreau-Zitate, denen sich fast gleichlautende von Cummings an die Seite stellen lassen, markieren zwei Eckpunkte einer Position, die mit dem Begriff der Unmittelbarkeit umrissen werden kann. Unmittelbarkeit im Gesellschaftlich-Politischen führt zur anarchistischen Kritik der Gesellschaft und der Forderung nach Abschaffung des Staates; Unmittelbarkeit im Sprachlichen zur Exzentrik von Schreibweisen und Techniken, besonders aber zur Auflösung vorfabrizierter geronnener Darstellungs- und Denkweisen; Unmittelbarkeit im Alltäglichen zur Ablehnung bürgerlich genormter Existenz, Hinwendung zum einfachen Leben, zu den „Grundtatsachen des Lebens“ (Thoreau).
Hier schließt die Philosophie Bergsons an: Leben ist die Bewegung der Entstehung von Neuem. Der Forderung nach Unmittelbarkeit entspricht der Versuch, der Bewegung des Lebens Kontinuität zu verleihen durch die Kritik und Auflösung von Verfestigungen, sei es im gesellschaftlichen oder sprachlichen Bereich. Bei Bergson geschieht die Kritik im Sinn der Funktionserhaltung der Gesellschaft, das Lachen zum Beispiel als „soziale Züchtigung“, während für Thoreau und Cummings gerade die Gesellschaft (resp. der Staat), real oder internalisiert, die zu kritisierende und aufzulösende Verfestigung darstellt.
Die Bedeutung der Begriffe Unmittelbarkeit und Bewegung und der Traditionen, die sich mit den Namen Thoreau und Bergson verbinden, läßt sich nicht – und das erscheint mir besonders wichtig – auf den inhaltlichen oder weltanschaulichen Gesichtspunkt reduzieren. Mit den Begriffen Unmittelbarkeit und Bewegung sind auch Techniken und Schreibweisen beschreibbar. Cummings’ Neuerungen sind gerade Konsequenzen aus einem Thoreau verpflichteten Lebensgefühl.
Das wird an Cummings’ Technik der Wortartenauflösung und Neologismenbildung nochmals deutlich. In das starre Schema von Verb, Substantiv, Adverb, Adjektiv, Präposition und Konjunktion kommt Bewegung durch ein freies Handhaben von Präfixen und Suffixen gegen die Regel: Verben, Substantive und Adverbien werden mit Adjektivsuffixen versehen und spielen in einen Zwischenbereich hinüber, syntaktische Bestimmungen werden diffus; Adjektive mit falschen oder mehreren Suffixen ausgestattet, um Nuancierungen zu ermöglichen; Verben, Adjektive, Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen werden substantiviert. Die Sprachelemente sind untereinander und in viele Richtungen beweglich. Die Grammatik ist eine Folie, vor deren Hintergrund die Bewegungen Bedeutung erhalten. Die Grenzüberschreitungen sind produktiv, solange sie Bedeutung und Funktion changieren lassen, solange sie sich als Bewegungen vor einem Hintergrund abzeichnen. In einigen Fällen tendiert diese Technik bei Cummings dazu, statisch zu werden und einer festumrissenen Systematik zu gehorchen. Die Neuschöpfungen verlieren den spezifischen Impuls des Überschreitens und gliedern sich ein in ein Quasi-Wörterbuch, das Vorkommen, Funktion und Bedeutung festlegt. Die Idee eines Wörterbuches läßt sich aber mit denen der Unmittelbarkeit und Bewegung nicht vereinbaren. Das Spiel zwischen Erinnerung und Wahrnehmung wird gestört. 

Cummings ist selbst in das Traditionsgeflecht einiger seiner Zeitgenossen eingebunden, obwohl der Begriff Tradition hier an die Grenze seiner Aussagekraft stößt: Hart Crane, W.C. Williams, Ezra Pound. Mit größerer Berechtigung läßt er sich auf nachfolgende Generationen anwenden. Zusammen mit Williams und Pound war Cummings einer der wichtigsten Bezugspunkte der Black Mountain Group um Charles Olson, sowohl was die Bedeutung der Schreibmaschine, als auch was die der Rede und der Aneignung der Fläche angeht. Dicht daneben, mit Überschneidungen (z.B. Creeleys Gedicht „Hi There!“), die Verbindung von Cummings mit der konkreten Poesie, der Gruppe Noigandres in Brasilien, der amerikanischen, englischen und deutschsprachigen. Er war nie ein konkreter Autor im engeren Sinne, obwohl Mary Ellen Solt ihn in ihre Anthologie Concrete Poetry. A World View aufnahm. Einige seiner Techniken waren „konkret“ oder doch Vorgriffe auf konkrete Techniken. Die Bezeichnung „experimentell“, zu der man Zuflucht nehmen könnte, ist aber nur Statthalter für etwas, das noch nicht theoretisch oder begrifflich in den Begriff zu bekommen ist. Cummings ist dann ein „experimenteller“ Autor, weil die Engführung beschreibbarer Techniken mit den verschiedensten Traditionen einen Raum aufschließt, in dem Orientierung immer nur in Ansätzen und vorläufig möglich ist.
Die amerikanische Literatur der sechziger und siebziger Jahre, die, wie dicht auch immer, an Cummings anschloß, kann ich hier nur erwähnen, die Namen stehen für verschiedene Möglichkeiten zu schreiben: Clark Coolidge, Kenneth Gangemi, John Giorno, Dick Higgins, by Nichol, Richard Kostelanetz, Madeleine Gins… usw. In dem Buch The End of Intelligent Writing von Richard Kostelanetz finden sich in den Kapiteln 17 und 18 all die Namen und Tendenzen einer experimentellen amerikanischen Literatur, in deren Zusammenhang Cummings rückblickend zu stellen wäre. Eine solche Verbindung wäre die Thoreau-Cummings-Cage. Aber die Beziehungen werden hier undeutlich, vielleicht marginal und zufällig. 

Daß Cummings keine direkten Anhänger und Nachfolger hatte, führe ich auf zwei Gegebenheiten zurück. Zum einen lief der Hauptstrom avancierten Schreibens in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren in Amerika an ihm vorbei; Eliot, Pound und Williams waren die in diesem Bereich, wenn auch nicht öffentlich, bestimmenden Figuren. Bevor man an die Ränder des Schreibspiels vordrang, galt es zunächst, die Bezirke des schon zerfallenden Ichs und seiner Beziehung zur Umwelt auszuloten. Die Entwicklung neuer Schreibweisen war von dieser Intention bestimmt, erst allmählich wurde die Sprache selbst als eigentlicher Gegenstand der Erkundung begriffen. Drang also der Strom der Entwicklung nach und nach zu der Sprachproblematik vor, die bei Cummings am Anfang stand, so ließ er ihn in anderer Hinsicht hinter sich. Cummings’ romantischer Individualismus steht in scharfem, vielleicht unüberwindlichem Gegensatz zur Infragestellung der Integrität des Ichs in Literatur und Wissenschaft im 20. Jahrhundert. An die euphorische Übersteigerung des Ichs ließ sich zunächst nicht anschließen; erst die Entdeckung des Ichs als sprachlich-strukturiertes Kontinuum, für das Beziehungen Sprachbeziehungen sind, stellt Verbindung her: Subjektivität ist Sprach-Subjektivität. Unter diesem Gesichtspunkt liest sich Eimi als frühe experimentelle Prosa, in der das Ich sich selbst und seine Umwelt in Sprachbeziehungen erfährt. 

Klaus Peter Harmening, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 6, Dezember 1983

 

Mirko Bonné: Erwachen und Öffnen. Zwei Wege zu E.E. Cummings

 

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Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

E.E. Cummings Anyone – gesungen von Rebekka Bakken und gespielt vom Julia Hülsmann Trio.

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